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Philosoph Samuel Scheffler
Die Zeit nach dem Tod - schon zu Lebzeiten entscheidend

Der US-Philosoph Samuel Scheffler macht in seinem Buch "Der Tod und das Leben danach" ein hochdifferenziertes Gedankenexperiment: Stellen wir uns vor, wir wüssten schon zu Lebzeiten, dass 30 Tage nach unserem eigenen Tod die Erde von einem Asteroiden getroffen und vollständig vernichtet wird – wie würde dieses Wissen unser Leben verändern?

Von Christian Gampert | 22.01.2016
    Sensenmann ist am Samstagabend (17.07.2010) im Schlossgarten auf dem Mittelalterlichen Phantasie Spectaculum in Bückeburg zu sehen.
    Sensenmann im Schlossgarten auf Mittelalterfest. (picture alliance / dpa / Peter Steffen)
    Nein, das Buch von Samuel Scheffler handelt nicht vom ewigen Leben, von einem elysischen Dasein nach unserem physischen Ende - daran glaubt der amerikanische Philosoph natürlich nicht. Scheffler macht sich lediglich eine simple, bei uns allen unbewusst stets mitschwingende Einsicht zunutze: nach unserem Tod geht das Leben der anderen weiter, das Leben der Menschheit. Welche Rolle dieses Wissen für unser individuelles Selbstkonzept spielt, das will er untersuchen.
    Schefflers Buch besteht aus drei Vorlesungen und ist ein hochdifferenziertes Gedankenexperiment. Es geht so: stellen wir uns vor, wir wüssten schon zu Lebzeiten, dass dreißig Tage nach unserem eigenen Tod die Erde von einem Asteroiden getroffen und vollständig vernichtet wird - wie würde dieses Wissen unser Leben verändern? Klar ist, dass ein solches Untergangs-Szenario uns nicht gleichgültig ließe, obgleich wir selbst gar nicht mehr betroffen wären. Aber viele Dinge, die nach unserem Tod geschehen werden, sind für uns bedeutungsvoll. Die auf die Zeit nach unserem Tod verlängerte Zeitperspektive ist bestimmend auch für das, was wir heute tun.
    Scheffler diskutiert zunächst im Sinne einer Wertetheorie, ob der Weltuntergang überhaupt ein Unglück wäre - er wäre das Ende aller Freude, Liebe, Freundschaft, Solidarität, aber auch das Ende von Krieg, Hunger, Krankheit und sozialer Benachteiligung. Obgleich sich bei einer solchen "konsequentialistischen" Plus-Minus-Rechnung kein eindeutiges Ergebnis erzielen lässt, wäre der Weltuntergang für die meisten von uns eine Katastrophe - und zwar nicht nur aus "egoistischen" Gründen, weil dann nämlich auch unsere Kinder und Verwandten ausgelöscht würden, sondern in einem viel allgemeineren Sinn: auch von uns geschätzte Werte, Praktiken, Institutionen, Lebensweisen wären dann nicht mehr existent.
    Natürlich würde der nahende Untergang auch unser Verhalten beeinflussen: intellektuelle und politische, also auf Zukunft setzende Tätigkeiten verlören ihren Sinn - wie etwa die Krebsforschung oder Gesellschaftsreformen. Denn selbst Projekte, deren erfolgreicher Abschluss gar nicht im Laufe unserer eigenen Lebensspanne zu erwarten ist, sind auf unser Vertrauen in die Zukunft, auf das "nach uns" angewiesen. Unsere Kinder ermöglichen uns, dieses Verhältnis zur Zukunft quasi zu personalisieren - aber jenseits jeder Evolutionsbiologie haben natürlich auch Kinderlose diesen Wunsch nach Zukunft, nach einer Fortexistenz der Gattung Mensch.
    Das Untergangs-Szenario bedroht also von uns geschätzte Normen und Traditionen; das von Scheffler des Weiteren zitierte "Unfruchtbarkeits-Szenario" (nach einem Roman von P. D. James) dagegen verschärft noch die Apathie und Hoffnungslosigkeit, in die eine Welt ohne Kinder, also ohne Zukunft fallen würde. Denn ein "gutes Leben" sei immer auf eine "sich fortschreibende Menschheitsgeschichte" angewiesen.
    Scheffler formuliert ganz allgemeine Bedingungen unseres Alltagsdenkens, und hier spielt die Zeitdimension, die über unsere eigene Biografie hinausreicht, eine überraschend wichtige Rolle. Die Argumentation ist streng logisch, oft auch etwas bürokratisch aufgebaut; der Autor kann seine Herkunft aus der analytischen Philosophie (er hat bei Thomas Nagel studiert) nie verbergen. Er wälzt die Begriffe und sucht dann wieder Zuflucht bei grotesken Bespielen aus Literatur und Film.
    Etwa so: der neunjährige Alvy Singer in Woody Allens "Der Stadtneurotiker" weigert sich, seine Hausaufgaben zu machen - mit der Begründung, "das Universum expandiere" und breche auseinander. Auch die Versicherung, das Ende der Welt drohe erst in einigen Millionen Jahren, kann ihn nicht umstimmen. Angesichts der Absurdität dieser hausaufgaben-vermeidenden Argumentation wird aber klar: weit entfernte Katastrophen ängstigen uns normalerweise nicht, unmittelbar drohende allerdings schon.
    Genau das aber ist falsch, meint Samuel Scheffler. Nach vielen Exkursen (etwa in eine Theorie des Spiels) präsentiert er am Ende seines Todes-Diskurses nämlich einige illusionslose Einsichten: Unvernünftigerweise fürchten wir uns vor dem eigenen Tod, den wir nicht verhindern können, sind aber nur sehr wenig besorgt über die drohende Klima-Katastrophe, die sehr wohl zu bekämpfen wäre. Am Ende setzt sich der areligiöse Autor dann doch noch mit dem vom Christentum versprochenen "ewigen Leben" auseinander, das er als einen egoistischen, weil rein persönlichen Wunsch enttarnt. Die Perspektive der Ungläubigen, die lediglich das Überleben der Gattung wünschen, sei weitaus sozialer.
    Mit seinem Kollegen Bernard Williams ist Scheffler der Meinung, dass die Unsterblichkeit langweilig sei und der Tod unser Leben strukturiere, weil wir unsere begrenzte Zeit nutzen müssten. Dieser Gedanke gelte jedoch nicht für die Menschheit als Ganzes, deren Fortbestand, ergo Unsterblichkeit, sich durchaus erreichen lasse. Gerade unsere Angst vor dem persönlichen Tod, sagt dieses luzide Buch, zeuge von unserem Vertrauen in die Werte, die uns wichtig sind und die wir gern verteidigen würden. Und die jenseits unseres Todes weiterleben sollen.
    Samuel Scheffler "Der Tod und das Leben danach". Suhrkamp-Verlag, 155 Seiten, 19.95 Euro.