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Philosophie
"Das Leiden intensiviert das Leben"

Katastrophen, Schmerz und Trauer gehören zum menschlichen Leben dazu. Wichtig sei, wie man damit umgeht, sagte der Philosoph Andreas Urs Sommer im DLF. Es sei falsch, alles, was einem Angst mache, zu vermeiden. "Das Leben ist nicht nur in jeder Sekunde eine Klippe, es ist auch in jeder Sekunde eine Chance."

Andreas Urs Sommer im Gespräch mit Rainer B. Schossig | 06.04.2015
    Schüler trauern am 24.03.2015 in Haltern am See (Nordrhein-Westfalen) vor dem Joseph-König-Gymnasium. Beim Absturz der Germanwings-Maschine in Frankreich sind auch Schüler und Lehrer aus dem westfälischen Haltern verunglückt.
    Schülern trauern nach dem Absturz einer Germanwings-Maschine in Frankreich. (dpa / Marcel Kusch)
    Rainer B. Schossig: Ostern ist im Christentum die jährliche Gedächtnisfeier der Auferstehung Jesu Christi, also ein Fest der Freude und Zuversicht. Die Ostertage jetzt sind bisher, ohne es beschreien zu wollen, relativ friedlich verstrichen – freilich vor einem dunklen Prospekt aus weltweiten Kriegen und Flüchtlingswellen, Terroranschlägen auf Kirchen und Moscheen, Überfälle auf Redaktionen und Museen, gar nicht zu reden von Brandstiftungen, Epidemien, Flut und Feuersnöten.
    Vor der Sendung habe ich mit Andreas Urs Sommer gesprochen. Er ist Schweizer Philosoph an der Universität Heidelberg und Leiter der Forschungsstelle Nietzsche-Kommentare seit 2014 in Heidelberg. Und ich habe Herrn Sommer gefragt: Ja, wiederholt sich wirklich alles um uns herum dauernd oder fehlt uns Menschen heute nur das Gespür für den Turn of the Screw, also den kleinen, impliziten Fortschritt im Ewiggleichen des Grauens.
    Andreas Urs Sommer: Es scheint so, als wäre unsere Empfindlichkeit in den letzten Jahrzehnten und Jahrhunderten sehr stark gewachsen, und wir versuchen deswegen, das Leiden möglichst überall von uns fernzuhalten. Aber das bringt es auch mit sich, dass wir äußerst aufmerksam sind für das Leiden, was an anderem Orte stattfindet, für die Übel, die Menschen auf anderen Erdteilen begegnen.
    Schossig: Die werden uns ja nun frei Haus durch die Medien geliefert, Herr Sommer. Sie sind Spezialist für die Philosophie Friedrich Nietzsches – Nietzsche hat ja das Leben einmal, wenn ich mich richtig erinnere, und vor allen Dingen alle Formen der Marter der Krankheiten bis zum Sterben als Skandal bezeichnet, als eigentlich im Grunde inakzeptierbar. Wie können wir damit umgehen, mithilfe Nietzsches vielleicht?
    Sommer: Ganz klar gibt sich Nietzsche nicht zufrieden mit den Antworten auf das Leiden, die die traditionellen Erlösungsvorstellungen, insbesondere die religiösen Vorstellungen im Abendland bereithalten. Dass man sagt, das Leiden ist quasi ein Mittel zu einem jenseitigen Zweck, wir müssen durch dieses irdische Jammertal schreiten, um es irgendwo anders, im Jenseits etwa, besser zu haben.
    Diese Vorstellung von Erlösung, auch von Erlösungsbedürftigkeit weist er zurück und sagt, wir müssten das Leben auch so, wie es ist, in all seinem Schrecken, in all seinem Leiden, selbst beim Überhang des Leidens nicht verneinen, sondern vielmehr, wir müssen dieses Leben mit seinem Leiden bejahen. Wir müssten einen positiven Zugang finden, ohne es schönzureden. Und das ist natürlich – das sieht man schon – ein Hochseilakt. Ob das gelingt, ob man das damit aus dem Weg räumt, mit Nietzsche oder mit einer an Nietzsche geschulten Philosophie, das darf man durchaus auch bezweifeln.
    Schossig: Der Theosoph Johann Wolfgang Goethe hat es ja mit dem schönen Vers gefasst: "Wenn du aber dies nicht hast, dieses: Stirb und werde!, bist du nur ein trüber Gast hier auf dieser Erde." Wäre da nicht durchaus eine Möglichkeit, auch mit Elend, Krankheit und Tod besser zurechtzukommen?
    Die Chance im Kleinen erkennen
    Sommer: Man könnte natürlich sagen, dass das Leiden, das Elend Leben intensiviert. Ein Leben, das sozusagen ganz eingepackt ist in Watte, das jedes Leiden ganz ängstlich vermeidet, das scheint irgendwie ein Leben zu sein, das unvollständig ist, ein Leiden, dem es an Ecken und Kanten gebricht, ein Leben, das sich entzieht. Und da könnte man tatsächlich, etwa mit Goethe sagen, eine solche Flucht vor dem Leiden wäre nicht angemessen, sondern man müsste versuchen, mit diesem Leiden einen Umgang zu finden, der es ins Leben integriert, ohne zu sagen, es ist ein bloß ein Mittel zu besserem, zu leidfreierem Dasein.
    Schossig: Vielleicht findet man ja im Kleinen Trost vor den großen, öffentlichen Elendsbotschaften.
    Sommer: Das ist bestimmt so. Einerseits haben wir natürlich die ganz großen Fragen, andererseits sind diese ganz großen Fragen solche, die keinen definitiven Antworten finden, es ist auch gut, dass sie keine definitiven Antworten finden. Aber das, was das Leben dann eigentlich ausmacht, das, was das Leben eigentlich groß macht, ist das, was im Leben scheinbar klein und unscheinbar ist. Und da, glaube ich, kann jeder und jede in ihrem alltäglichen Leben unglaublich viel finden, was einem einerseits Trost bietet – so haben Sie das gerade formuliert –, aber zum anderen auch motiviert. Motiviert weiterzuleben, motiviert vielleicht auch, sein Leben zu überdenken, gelegentlich anders zu leben. Aber das ist nur die eine Seite. Das Leben ist nicht nur in jeder Sekunde eine Klippe, es ist auch in jeder Sekunde, denke ich, eine Chance und eine Möglichkeit, etwas zu sehen, was man bis dahin nicht gesehen hat, etwas zu tun, was man bis dahin nicht getan hat.
    Schossig: Also doch nicht nur ewige Wiederkunft des Gleichen. Das war der Schweizer Philosoph Andreas Urs Sommer mit Gedanken über Möglichkeiten, mit dem täglichen Elend in der Welt umzugehen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.