Donnerstag, 25. April 2024

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Philosophie der Lebenskunst

Seit fast zwanzig Jahren treten immer wieder vereinzelt Philosophen an die Öffentlichkeit, um sich auch auf dem Marktplatz des Lebens Gehör zu verschaffen. 1981 schockierte der damals gerade promovierte Gerd Achenbach die hinter den semantischen Panzern reiner Theorie verbarrikadierten akademischen Zunftgenossen mit einem tautologischen Imperativ: "Philosophisch ist die philosophische Lebensberatung". Seine Eröffnung der ersten philosophischen Beratungs-Praxis wurde zum Medienereignis. Einige Jahre später erregte der Lifestyle-Designer Alexander Dill in Berlin mit einer öffentlich subventionierten Plakataktion Aufmerksamkeit: Viele Wochen lang wurden U-Bahnstationen mit Kantsprüchen in Riesenlettern verziert: "Wage es, dich deines Verstandes zu bedienen..." Sogar Morgenmuffel rieben sich die Augen. In den neunziger Jahren nistete sich Jostein Gaarders philosophisches Kinderbuch "Sofies Welt" in den Bestsellerlisten für Erwachsene ein. "Spiegel", "Focus" und andere Gazetten diagnostizierten prompt einen "Philosophie-Boom". Seit geraumer Zeit schwappt nun von Frankreich her die Mode "philosophischer Cafés" nach Deutschland hinüber. Offenbar haben es die Menschen satt, in der anonymen Masse der Bistrobesucher die Fassaden pseudogelangweilter Coolheit zur Schau zu stellen. Das Beliebigkeitspostulat postmoderner Lebensart überzeugt nicht mehr.

Steffen Graefe | 03.02.1999
    Statt dessen verbreitet sich die Sehnsucht zurück zum substantiellen Gespräch, wie es zuletzt vor einem halben Jahrhundert die Existentialisten noch kultiviert hatten. Statt Lifestyle wird Lebenskunst gesucht. Ausdruck dieses neuen Bedürfnisses nach geistiger Authentizität in der monotonen Elegie des "Everything goes" ist das neue Buch des Berliner Philosophen Wilhelm Schmid: "Philosophie der Lebenskunst". "Die Arbeit an diesem Buch hat relativ lange Zeit in Anspruch genommen", erzählt Wilhelm Schmid. "Das waren in diesem Fall sieben Jahre. Und ich hab eine Menge Erfahrungen im Arbeitsprozeß selbst gemacht, denn man setzt ja nicht das Leben aus, während man an so einem Buch schreibt, ganz im Gegenteil: Man wird ganz hellhörig. Manchmal mußte ich etwas umwerfen, was ich eigentlich schon geschrieben hatte. So kam es dazu, daß ich dieses Buch insgesamt viermal geschrieben habe, nicht nur aufgrund von Lebenserfahrungen, die in Frage stellten, was da theoretisch geschrieben war, sondern auch daß Menschen teilweise vehemente Kritik daran geübt haben, und mir - als ich dann ehrlich darüber nachdachte - der Gedanke kam: Sie haben recht."

    Endlich versteht sich mal wieder ein akademischer Philosoph nicht nur als Exeget historischer Texte, sondern läßt sich auch von scheinbar ganz gewöhnlichen, alltäglichen Erfahrungen zum eigenen Denken inspirieren und belehren. Auch Schmid mußte sich zunächst mit den in der akademischen Isolierstation der Eigentlichkeit erworbenen Konventionen der Weltfremdheit auseinandersetzen. Jahrelang beackerte er den antrainierten Jargon semantischer Verschrobenheiten, bis er endlich zu einer klaren und deutlichen Sprache vorgedrungen war. Das Ergebnis kann sich lesen lassen: Sein Buch ist im besten Sinne allgemeinverständlich geschrieben, ohne abzudriften in den ebenso jovialen wie formelhaften Ratgeberton von Carnegie & Co. Der sorgfältig elaborierte Stil verweist auf einen ebenso akribisch ausgefeilten Gedankengang. Philosophische Lebenskunst - so Schmid - soll den Menschen nicht in den schwülen Nebel seichter Sorglosigkeit einlullen: "Ja, mir scheint, daß das ein Mißverständnis sein könnte. Daß der Satz eigentlich nicht heißen muß: ‘Sorge dich nicht, lebe!’, sondern ‘Sorge dich, lebe!’ Daß das Wesentliche des Lebens gerade die Sorge ist. Vielleicht meint Carnegie das auf eine andere Art und Weise, man soll sich nicht ängstigen, sorgen also im Sinne von ängstigen. Aber sogar die ängstliche Sorge, wenn sie die einzige wäre, was sie gar nicht ist, sogar die ängstliche Sorge ist sehr wichtig zu erfahren, Angst zu haben um das eigene Leben. Weil das genau bringt uns in Bezug zum Leben und bringt uns dann letzten Endes, wenn wir über die Angst hinauskommen, zur klugen Sorge, zur klugen, vorsichtigen, vorausschauenden, umsichtigen Sorge. Und die kann man nicht ernsthaft entbehren, wenn man leben möchte."

    Neben der Wahl und der Sorge steht der Begriff der Klugheit im Zentrum von Schmids Philosophie der Lebenskunst. Lange Zeit gehörte die Klugheit zu den von der Philosophie mißachteten Begriffen. Es wurde übersehen, daß auch Kants "kategorischer Imperativ" kein lebensfernes Axiom in einem geistigen Nirvana ist, sondern Ausdruck einer sehr irdischen Klugheit, die auf umsichtiger Lebenserfahrung beruht. Nach Kants "kategorischem Imperativ" soll sich der Mensch fragen, ob die Maxime seines Wollens zum allgemeinen Gesetz erhoben werden könne. Um diese Frage zu beantworten - so Schmid - haben wir nur unsere erworbene Klugheit zur Verfügung, eine Klugheit, die die Zusammenhänge des Lebens beachtet, die sensibel auf die Interessen anderer Menschen Rücksicht nimmt, ohne das Eigeninteresse dem Diktat einer vorgegebenen Moral einfach nur blind zu unterwerfen, eine vorausschauende Klugheit, die - immer die Balance des richtigen Maßes prüfend - sich vor jeder überheblichen Geste hütet. Eifernde Fachgenossen, die über Schmids Werk als eine angebliche Anbiederung an die Lebenswelt die Nase rümpfen, übersehen, daß hier auch die Geschichte der Philosophie neu geschrieben wird. "Mir scheint, daß die Philosophie - entgegen ihrem Anspruch nicht völlig unabhängig ist von der Zeit, in der sie betrieben wird, und daß sie in gewisser Weise immer auch auf Bedürfnisse der Zeit antwortet. Nur so läßt sich erklären, daß selbst eine Philosophie wie der Neukantianismus bestimmte Aspekte von Kant vollständig außer Acht gelassen hat. Kant hat sehr wohl eine Philosophie der Lebenskunst geschrieben. Das ist seine "Anthropologie in pragmatischer Hinsicht", die aber nicht einmal vom Kantianismus weiter tradiert worden ist, weil man sie für völlig abstrus gehalten hat. Damit hat man geantwortet auf die moderne Bedürfnislage, die kurz so lautete: Es bedarf keiner Lebenskunst, alles ist technisch machbar. Das Leben läßt sich vollständig verplanen, läßt sich durchrationalisieren, wozu Lebenskunst? Heute stehen wir an dem Punkt, wo uns das nicht mehr befriedigt, weil wir bemerkt haben, daß das so nicht geht, daß wir sehr wohl um überhaupt mit den Auswüchsen von Technik fertig zu werden, Lebenskunst brauchen. Und nun entdecken wir diese ganze Tradition wieder."

    Wir müssen uns als Kunstwerke konstituieren, herstellen und bestimmen." Diese Forderung von Michel Foucault ließ Wilhelm Schmid schon während seiner Studienzeit nicht ruhig schlafen, denn er erkannte bald, daß die akademische Philosophie in Deutschland diesem Anspruch kaum genügen kann: Obwohl schon Sokrates die wichtigste Aufgabe der Philosophie in der Selbsterkenntnis sah, wird in den akademischen Elfenbeintürmen der Frage der Selbstsorge des Menschen nach wie vor kaum Beachtung geschenkt. Während noch die antiken Stoiker nicht die abstrakte Erkenntnis an sich, sondern die Arbeit an einer gelassenen Lebenshaltung als wichtigste Aufgabe der Philosophie beschrieben, während die Epikuräer den Philosophen als einen Seelsorger darstellten, der praktische Ratschläge zur Verfeinerung eines genießerischen Lebensgefühls erteilte, hatten dann die christlichen Scholastiker die Rolle der Philosophie als Magd der Theologie auf die vernünftige Auslegung der Heiligen Schrift beschränkt. Auch die spätere Aufklärung beließ es zunächst bei der Reduzierung der Philosophie auf hauptsächlich theoretische Fragen. Jetzt sollte die Vernunft dazu dienen, unvernünftig erscheinende Dogmen zu korrigieren. Andererseits haben dann aber Voltaire, Rousseau, Diderot und vor allen Dingen Montaigne, auf den sich Schmid immer wieder beruft, die Philosophie wieder als Lebenskunst definiert. Diese Rückbesinnung auf die Lebenspraxis wurde auch von der deutschen Aufklärung - wie zum Beispiel von Christoph Martin Wieland - enthusiastisch begrüßt. Kant untersuchte dann in seiner später vergessenen "Anthropologie in pragmatischer Hinsicht" lebensnahe Fragen, wie es der Mensch zum Beispiel lernen könne, sich nicht von den Lüsten beherrschen zu lassen. Diese praktischen Seiten der Philosophie, die noch von Schopenhauer, Nietzsche und Simmel wie auch von den Existentialisten lebendig gehalten wurden, wurden dann besonders von der Zunft deutscher Philosophieprofessoren weitgehend ausgeblendet.

    Leider leuchtet Schmid die Gründe für diese Reduzierung der deutschen Gegenwartsphilosophie auf das rein Theoretische nicht tiefer aus. Warum - so könnte man fragen - haben die akademischen Philosophen widerstandslos das ihnen ursprünglich eigene Feld der menschlichen Seele den Psychologen überlassen? Kaum ein Philosoph - Jaspers und Sartre ausgenommen - hat sich mit Freuds Psychoanalyse intensiver beschäftigt. Jungs Tiefenpsychologie wurde ebenso ignoriert, wie auch andere psychologische Schulen: etwa die Gestaltpsychologie, die Primärtherapie oder die transpersonale Psychologie. Auch Wilhelm Schmid beschäftigt sich in dieser Vielzahl an Richtungen gerade mal mit einem kleinen Ausschnitt: "Psychoanalyse ist eben Psychoanalyse und nicht Psychosynthese, das heißt sie arbeitet analytisch, auflösend, zerlegend. Das, was sie zerlegt und aufgelöst hat, kriegt sie hinterher nicht mehr zusammen, versucht es auch gar nicht, denn Psychoanalyse jedenfalls diejenige, auf die sich Freud beruft, hat vergessen, was bei Freud noch zu finden ist, daß eine Aufgabe der Psychoanalyse sehr wohl auch ist, die Lebenskunst von Menschen wiederherzustellen. Das steht wörtlich so bei Freud. Er spricht von Lebenskunst."

    Bei aller Fundiertheit in der Beschreibung der umfassenden Aspekte, welche reflexiven Schritte erforderlich sind, damit das Selbst wieder eine neue Sensibilität für Lebenskunst gewinnen kann, ignoriert Schmid den Beitrag der verschiedenen Psychotherapien auf diesem Gebiet fast völlig. Diese Ignoranz ist ungerecht und arrogant. Auch viele sogenannte philosophische Praktiker, die ihre beratenden Dienste öffentlich anbieten, halten sich mehr oder weniger blind für die Leistungen der Psychotherapien, die sicherlich nicht unkritisch aufgenommen werden sollten, aber einer zeitgemäßen Darstellung der philosophischen Lebenskunst steht es an, die Errungenschaften der Psychotherapien auf diesem Gebiet zumindest zur Kenntnis zu nehmen.

    Trotzdem hat Wilhelm Schmid mit seiner "Philosophie der Lebenskunst" ein epochales Werk geschrieben, das für die Philosophie ein vergessenes Terrain zurückerobert. Namentlich bei seiner Zurückweisung der oft sehr dogmatisch vorgetragenen psychotherapeutischen Lehren, weist der Autor die philosophische Lebenskunst treffend als notwendiges Korrektiv einseitig verstandener Heilsnormen im Sinne einer anderen Moderne aus. Andere Moderne ist der Versuch, moderne Errungenschaften, die wir als solche erkennen, nicht aufzugeben, die Errungenschaft moderner Freiheit, die Errungenschaft von Menschenrechten, aber andere Dinge wiederzuentdecken, die wir glaubten mit der Moderne ablegen zu können. Dazu gehören Eigenschaften wie Treue und Zuverlässigkeit. Für die andere Moderne wünsche ich mir, daß sie eine Zeit der Rekonstruktion wäre, nicht mehr der Dekonstruktion, alles bis auf den Grund zu führen. Diese Arbeit ist getan. Wir haben gesehen, daß an und für sich nichts Sinn, Bedeutung und Wahrheit in sich birgt. Nun können wir dazu übergehen, daß wir Sinn Bedeutung und Wahrheit sehr wohl wiederherstellen können im Sinne einer Rekonstruktion, bei der wir uns bewußt darüber bleiben, daß es unsere Konstruktion ist."