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Philosophie
Der Mensch ist die Frage: Was ist der Mensch?

Immanuel Kant wusste auf seine Grundfrage keine Antwort. Jean-Luc Nancy auch nicht. Nur eines ist dem französischen Philosophen gewiss: Der Mensch ist ein vornehmlich denkendes Wesen, seine Handlungen sind eingebettet in das geistige Umfeld seiner Zeit.

Jean-Luc Nancy im Gespräch mit Michael Magercord | 26.12.2016
    Jean-Luc Nancy (* 26. Juli 1940 in Caudéran, Frankreich) ist ein französischer Philosoph.
    Der französische Philosoph Jean-Luc Nancy zu Gast im Studio des Deutschlandradio Kultur. (Deutschlandradio / Melanie Croyé)
    Aber egal, ob dies von einer vorherrschenden Religion geprägt wird, einer Idee oder Ideologie - ein kollektives Denken gibt es nicht, der Denkprozess vollzieht sich in jedem einzelnen Individuum. Wer den derzeit bedeutendsten französischen Denker nach einer konkreten Handlungsanweisung fragt, wird ratlos bleiben, denn ein Wort kommt bei ihm so gut wie nie vor: Moral. Stattdessen aber immer wieder ein anderes: Sinn.
    Sinn erschließt sich über das Denken - Denken in die stringenten Kategorien aber steht sich oft selbst im Weg, denn, so sagt Jean-Luc Nancy, "die aktuellen Probleme sind vielleicht viel einfacher gelagert, als wir sie denken, aber von einer Art der Einfachheit, zu der wir keinen Zugang mehr finden". Was bleibt?
    Der 75-Jährige versucht, die Zeichen seiner Zeit zu deuten. In der Kunst und Wissenschaft. Oder die gesellschaftlichen Umbrüche - vom Krisenbewusstsein bis zur Homoehe. Welche Vorstellungen sind für die kommende Epoche sinnstiftend?
    Michael Magercord erarbeitet ein Denkprotokoll seines Gesprächs mit Jean-Luc Nancy.
    Jean-Luc Nancy, geboren 1940 in Cauderan, Frankreich, lehrte bis zu seiner Emeritierung Philosophie an der Université Marc Bloch in Straßburg und hatte Gastprofessuren in Berkeley, Irvine, San Diego und Berlin inne. Sein vielfältiges Werk umfasst Arbeiten zur Ontologie der Gemeinschaft, Studien zur Metamorphose des Sinns und zu den Künsten, Abhandlungen zur Bildtheorie, aber auch zu politischen und religiösen Aspekten im Kontext aktueller Entwicklungen. In Deutschland erschien zuletzt sein Buch "Das nackte Denken" (2014), in Frankreich "Que faire" (2016).

    Das Interview in voller Länge:
    Michael Magercord: Die aktuellen Probleme sind vielleicht einfacher gelagert, als wir sie denken, aber von einer Einfachheit, zu der wir keinen Zugang haben", sagt Jean-Luc Nancy. Noch nicht oder nicht mehr? Das lässt der französische Philosoph offen.
    Wenn Sie die gesellschaftliche und politische Gemengelage betrachten, verspüren Sie dann Angst?
    Jean-Luc Nancy: Nein, ich habe keine Angst. Es hätte auch überhaupt keinen Sinn, so etwas zu sagen. Ich finde im Gegenteil, dass es eine im höchsten Maße interessante, wenn auch extrem perfide Epoche ist, denn wir leben in einer Situation, in der es uns ganz klar vor Augen steht, dass die Zukunft unbekannt ist. Das war sie immer, aber wir haben es nicht immer so wahrgenommen. Es ist natürlich normal, dass dies auch Angst macht, weil jedes Mal, wenn sich eine so grundlegende Umwälzung der Zivilisation vollzog, sich Ängste einstellten. Wir leben nun einmal in einer Kultur der Zukunft und plötzlich entdecken wir, dass wir die Zukunft nicht kennen.
    Aber selbst vor unserer Kultur fühlten sich etwa im 5. und 6. Jahrhundert am Ende des römischen Imperiums alle Römer, die keine Christen waren, verwirrt und kopflos. Was wird passieren? Alles ging zu Ende, alle zuvor noch großen Ziele wurden obsolet. Sie nannten es "inclinatio". Es gibt Texte aus der Epoche, die zeigen, dass die Christen daran glaubten, der Messias komme morgen, und die Nicht-Christen aber total verloren waren.
    Es vollzieht sich ein tief greifender Wandel, der vergleichbar sein wird mit dem Ende der Antike oder der Renaissance. Dem Ende der Antike folgte die christliche Zivilisation, der Renaissance die kapitalistische Zivilisation. Niemand sah diese Entwicklungen voraus. Selbst im vierten Jahrhundert, zu den Zeiten Augustins und in dem Moment, als Konstantin das Imperium zum Christentum führte, konnte niemand wissen, dass eine andere Zivilisation sich zu entwickeln begann.
    Magercord: Man muss auf einiges gefasst sein, wenn man sich auf ein Gespräch mit dem Philosophen Jean-Luc Nancy einlässt. Der Mensch ist nämlich - geht es nach einem der bedeutendsten zeitgenössischen Denker Frankreichs - Mensch. Und nichts weiter; kein Himmelstürmer, sondern ein irdisches Wesen, das ohnehin keinen Beistand von dort oben zu erwarten hat. Und die Frage, was er - der Mensch - denn sei, konnte er sich selbst auch nicht beantworten.
    "Zuvor lag die Antwort lange im Himmel, dann in der Zukunft."
    Nancy: Was ist der Mensch? Der Mensch ist die Frage, was ist der Mensch? Das ist nur halb im Scherz gesagt. Denn falls es das Wesen des Menschen ist, sich Fragen über sich selbst zu stellen, ist dies zunächst ein großer Bruch mit der bisherigen Vorgehensweise, die Antwort anderswo zu suchen: bei Gott oder eben auch in den Wissenschaften. Denn irgendwo zwischen den Wissenschaften und der humanistischen Moral ist die moderne Vorstellung von einem kompletten, umfassenden und auch zufriedenen, glücklichen Menschen angesiedelt.
    Zuvor lag die Antwort lange im Himmel, dann in der Zukunft. Oder in einer Art des Denkens, dass einen Umweg über spirituelle Vorstellungen oder den künstlerischen Ausdruck nimmt. Aber vielleicht befinden wir uns heute in einer Situation, in der es zu verstehen gilt, dass die Antwort definitiv nicht anderswo zu finden ist, da es vielleicht nur die Frage gibt, und dass es nun darum gehen muss, die Frage selbst zu überwinden. Man darf nicht mehr fragen: Was ist der Mensch?, sondern muss einfach feststellen: Ja, es gibt den Menschen.
    Magercord: Kant hatte die Frage "Was ist der Mensch?" zur Kernfrage der Philosophie erklärt. Wenn man Jean-Luc Nancy fragt, ob wir seither einer Antwort näher gekommen seien, dann sagt er: "Nein". Und empfiehlt, die Frage danach lieber ganz fallen zu lassen. Eine Antwort würden wir, die Menschen der Moderne, sowieso nicht mehr finden. Und sie würde uns auch nichts nutzen. Denn folgt man dem Gedanken von Jean-Luc Nancy, dass der Mensch der Moderne nichts weiter als Mensch geworden sei, dann haben ihn alle seine Versuche, sich ohne himmlischen Beistand einen Reim auf sich selbst zu machen, in die Falle tappen lassen, die er sich mit der Frage nach seinem eigenen Wesen selbst gestellt hat: die Falle des Fortschrittsgedankens.
    Idealvorstellungen projizieren
    Nancy: Es begann mit Kant, der als erster sagte, der Lauf der Geschichte sei ein Fortschreiten der Menschheit, zunächst technisch, materiell, aber auch moralisch. Das erscheint uns nun schon länger als völlig hohle und leere Formel. Für einige Zeit schien es noch ein Wort zu geben, das dieser Entleerung widerstehen konnte, das nicht schwach war: "Humanismus". In dem Wort offenbart sich der Bedarf und der tiefe Wunsch nach einer gewissen Figur, auf die man seine Idealvorstellungen projizieren kann; nicht unbedingt eine Persönlichkeit, sondern ein Modell, wie etwa der kommunistische Mensch es einige Zeit war. Heutzutage läuft alles darauf hinaus dass der Mensch an sich nicht mehr als Figur herhalten kann, die man als Idealwesen in die Zukunft projizieren könnte. Das Wort "Humanismus" ist zur Beschreibung einer Idealfigur ein unzureichendes Wort geworden, solange wir nicht wissen, was der Mensch ist.
    Letztlich müssen wir feststellen, dass sich unsere Kultur sowieso nie um den Satz von Kant geschert hat, dass es auf die Frage: "Was ist der Mensch?" keine Antwort gibt. Deshalb sehen wir uns heute vielleicht auch einem "nackten Menschen" gegenüber, um einen Titel von Lévi-Strauss aufzugreifen, der feststellen muss, dass er nicht mehr in der Lage ist, sich die letzten 200 Jahre als eine fortlaufende Geschichte erfüllter Versprechen vorzustellen. Warum auch sollte die Geschichte unweigerlich in einen Fortschritt münden? Oder zu einer unendlichen Zukunft streben? Wenn Fortschritt waltet, herrscht immer ein Fortschreiten, aber was soll das bedeuten? Oder wenn es zu einem Rückschritt käme, führte der uns dementsprechend zurück bis zu dem Ausgangspunkt?
    Im Gegenteil, auf der einen Seite geht also der Fortschritt ungebremst weiter, auf der anderen hat uns nicht nur eine Beschleunigung erfasst, sondern eine ganz andere Gangart wird uns vorgegeben. Denn in der Zwischenzeit hat sich die digitale Revolution vollzogen, die fast alle Bereiche berührt, und vor allem in den europäischen Ländern sind wir uns bewusst, dass ein grundlegender Wandel der Kultur, ja der Sprache eingesetzt hat. Das Vertrauen in die großen Erzählungen, die unter dem Namen "Ideologie" erfasst wurden, ist einem totalen Misstrauen gegenüber den großen Gedankengebäuden gewichen.
    Das ist sehr bezeichnend, denn es heißt, wir haben keine Ideen mehr, wir können nicht mehr an Ideen glauben. Und somit konnte sich das entwickeln, was wir Globalisierung nennen. Die hatte bereits mit der Geburt des Kapitalismus eingesetzt, doch anfangs war sie natürlich noch bei weitem nicht von dem Ausmaß, wie wir sie heute erleben. Aber die Kolonialisierung war bereits eine Globalisierung, heute allerdings muss man feststellen, dass sich mit der Globalisierung überhaupt keine Hoffnung für die Zukunft mehr verbindet.
    Magercord: Jean-Luc Nancy lehrte bis 2004 an der Universität von Straßburg, wo er nach wie vor in dem in wilhelminischer Zeit errichteten Viertel "Neustadt" lebt. Besuchern, die er ohne große Umschweife in seine Wohnung einlädt, präsentiert der emeritierte Philosophie-Professor keine Theorie oder gar ein System. Sondern seine Gedanken.
    Will man sein Denken trotzdem in die üblichen Kategorien fassen, kann man es dem Dekonstruktivismus des zehn Jahre älteren Jacques Derrida zurechnen. Mit ihm war Jean-Luc Nancy eng verbunden und er teilt dessen Ablehnung der Metaphysik ebenso wie die Skepsis gegenüber dem Denken in jenen Begriffen, die sich umgehend mit moralischer Bedeutung aufladen und deshalb einen offenen Diskurs nicht zulassen. Freiheit, Gerechtigkeit, Vernunft, zählt Jean-Luc Nancy zu diesen Begriffen. Man könnte an dieser Stelle den Gedanken äußern, dass all diese Worte zumindest in den europäischen Sprachen keinen sinnvollen Plural bilden.
    Aber in derartige, semantisch-systemtische Herleitungen verstrickt sich Jean-Luc Nancy nicht. "Man weiß nicht mehr, ob Begriffe ausreichen, ein Denken und damit die Welt sinnhaft zu gestalten", stellt er lediglich fest und fügt hinzu, dass Denken in moralisierender Bedeutung nichts weiter sei, als die "Verwaltung" von überlebten Projekten und Visionen.
    "Wir sitzen in der Energiefalle"
    Nancy: Ich glaube, wir sind in der Situation, in der unsere Zivilisation entdeckt, dass sie nicht mehr weiß, in welche Richtung sie sich entwickeln wird. Es ist klar, dass die Technik keinen präzisen Zwecken mehr folgt, sondern im Gegenteil: Sie schafft neue Zwecke, die umgehend zu Mitteln werden für neue Zwecke, die wiederum zu Mitteln werden, und wir wissen nicht, warum eigentlich. Der Erste Weltkrieg war ein bereits ganz tiefgehendes Zeichen für diesen Zustand. Die europäischen Nationen durchliefen seit ihrer Bildung im 19. Jahrhundert ein großes politisches, kulturelles Abenteuer - und im Ergebnis haben sie sich gegenseitig zerstört. Danach hatte die sowjetische Revolution die ganze Welt erschüttert, weil man wirklich glaubte, es entstehe eine andere Form der Politik, Kultur und Gesellschaft. Lenin sprach schon damals von der Sowjetmacht und der Elektrisierung, und letztlich war die Elektrizität wichtiger und nachhaltiger als die Sowjetmacht.
    Heute zeichnet sich weiterhin ganz vage eine Perspektive des Fortschritts ab, aber er ist mehr und mehr mit der Notwendigkeit verbunden, einige der von ihm angerichteten Schäden zu beseitigen. So schreitet die Nutzung der Sonnenenergie oder von Gezeitenkraftwerken voran, ja, da können wir Fortschritte verzeichnen, aber nur, weil wir es müssen. Wir haben alle anderen Arten der Energie aufgebraucht und gleichzeitig sitzen wir in der Energiefalle, denn ohne die riesigen Energiemengen können wir gar nicht mehr auskommen.
    Ich denke, man kann sehr gut nachvollziehen, dass diese Situation beunruhigend ist - und deshalb schwirrt auch die Vorstellung vom Ende der Welt immer wieder umher. Es ist wahr, dass es die extreme Meinung gibt, wonach die Menschheit sich in der Tat selbst auslöschen könnte. Und weil das nicht völlig unmöglich erscheint, ist dieser Gedanke eine Überlegung wert. Stellen wir uns vor, wie es wäre, wenn wir die Menschheit komplett auslöschen würden. Vielleicht ist die Natur bereits soweit verändert, dass es eh passieren wird. Wie auch immer: Die Menschheit stirbt aus - was bedeutet das? Was sagt uns das, wenn sie sich wegen der von ihr selbst hervorgerufenen Veränderung der Lebenswelt auslöschen würde?
    Es sagt uns, dass etwas passieren würde, worin sich jenes offenbart, was wir einmal den "Sinn" genannt haben, denn es würde sich damit etwas realisieren, wonach wir mit unserem Tun offensichtlich streben. Dieses Streben nach einem "Sinn" hat uns letztlich ins Nichts geführt, weil es nie die Frage des Sinns ist, irgendwohin zu führen. Sinn findet sich in nichts weiter als in Wandel, Austausch, Kreislauf und in der Vorstellung darüber - kurz: in all dem, was Kunst und Wissenschaften entstehen lässt.
    "Heute wollen die Leute zu allererst anders essen"
    Magercord: Eine sinnentleerte Fortschrittsidee und die Vorstellung von der Auslöschung der Menschheit sind zwei Seiten einer Medaille? Soweit geht Jean-Luc Nancy nicht, derart schnelle Schlüsse bleiben dem Zuhörer überlassen. Er fordert hingegen, den Realitätssinn der Geschichte zu wahren, einen ohne den realitätsfernen Fortschrittsoptimismus, und damit auch ein Denken ohne allzu geschmeidige Schlussfolgerungen.
    Wieviel Zeit sich ein Denker nehmen muss - und kann, zeigt der Straßburger Philosoph immer wieder aufs Neue, wenn er sich zwei, ja drei Stunden Zeit nimmt, um seinen Zuhörern seine Gedankenwelt darzulegen, zu entfalten und sie an seinem eigenen Leben zu spiegeln. Im Laufe seines Lebens, resümiert der 76-Jährige, vollzog sich ein Prozess des Vertrauensverlustes - ins Jenseits, in die Zukunft, gegenüber Institutionen und bezüglich der Kraft des Denkens. Geblieben ist einzig die Vorstellung, so lange leben zu wollen, wie es irgend geht. "Lieber länger leben oder doch eher anders?" lautet so die Frage, die sich die Menschen heute stellen, fragt sich Jean-Luc Nancy, und antwortet: "Heute wollen die Leute zu allererst anders essen".
    Nancy Ich sage mir jetzt, dass ich vielleicht Glück gehabt habe, dass ich so alt geworden bin. Ich hätte im Alter von 51 Jahren sterben können, als man mir ein zweites Herz eingepflanzt hat. Wäre ich damals gestorben, hätte ich nicht meinen heutigen Bewusstseinsstand erreicht. Es ist die Technik, die mir mein Weiterleben ermöglicht. Seit 25 Jahren führe ich ein technisches Leben. Aber gleichsam bin ich mir deshalb darüber bewusst, dass es all diese medizinische und biologische Technik gibt, ohne dass man erklären kann, wozu es sie gibt. Was ist gut daran, 25 Jahre länger zu leben? Niemand kann beweisen, dass das besser sei. Jemand, der 25 Jahre länger lebt, kann mehr Dinge tun. Ich etwa habe in den letzten 25 Jahren mehr geschrieben als in den 25 Jahren davor. Sicher. Aber das Individuum ist nicht sehr wichtig, jemand anders hätte dasselbe wie ich gemacht. Wir verlängern das Leben und gehen davon aus, dass ein langes Leben auch als ein gutes gilt.
    Die meisten Gesellschaften verfügten nicht über die Mittel, aber auch nicht die Überzeugung, das Leben so lange wie möglich zu erhalten. Zwischen den Mitteln und der Überzeugung herrscht eine ständige Interaktion. Doch ich denke, dass wir Menschen heute von unserer eigenen Macht behindert werden. Die eigene Kraft berauscht uns und gleichzeitig beunruhigt sie uns, denn wir erkennen, dass sie auch Schlechtes anrichtet. Auf der einen Seite verlängern wir das Leben, auf der anderen ist etwa die Anzahl der Krebsfälle erschreckend hoch.
    "Nein, der Mensch ist kein vollendetes Wesen"
    Deshalb glaube ich, dass wir an das Ende eines Humanismus gelangt sind, der den Menschen als ein fertiges Wesen behandelt. Man muss einmal mehr lernen: Nein, der Mensch ist kein vollendetes Wesen. Wir sind unendlich. Unendlich sein heißt nicht, unendlich lange zu leben, es heißt, dass es etwas in uns gibt, was nicht von der Zeit abhängig ist. Etwas, das über die Zeiten trägt, das uns nicht auf unsere kurze Lebenszeit reduzieren lässt. Was lernen wir in unseren Menschenleben? Wir lernen, dass wir letztlich nie ein komplett fertiger Mensch geworden sind.
    Ich bin immer wieder erstaunt über die Tatsache, dass ich nie erwachsen geworden bin. Ja, groß natürlich, aber trotzdem gibt es Augenblicke, wo ich feststelle, dass ich nicht wirklich so erwachsen bin, wie ich dachte. Von den Menschen, die mich umgeben, machen diejenigen den erwachsensten Eindruck, die sich in einer sozialen Stellung befinden, die mit Machtausübung verbunden ist und die Sicherheit und Fachwissen voraussetzt. Vielleicht noch Ingenieure, Geschäftsleute, Richter. Aber oft merke ich, dass selbst diese Menschen letztlich nicht so erwachsen sind, wie sie sich geben müssen. In ihrem Privatleben sind sie nicht erwachsener als ich, sie sind genauso ängstlich, verliebt, verärgert, ungeduldig.
    Magercord: Jean-Luc Nancy ist ein Vielschreiber und man kann sich vorstellen, wie er an seinem riesigen Tisch sitzt und zwischen all den darauf ausgebreiteten Papieren, Heftern und Büchern seine Texte verfasst. Texte, die von der Rolle des Individuums in kollektiven Zusammenhängen handeln mit Titeln wie Die herausgeforderte Gemeinschaft, Ausdehnung der Seele, Identität oder auch einfach Körper.
    Auch die Demokratie ist immer wieder Thema, eine konkrete politische Aussage aber ist dem Philosophen kaum zu entlocken. Das hat ihm den Vorwurf eingetragen, sein Denken verharre in der vollständigen Kontemplation. Dem könnte man entgegnen: Ist es nicht schon eine Einmischung in bestehende gesellschaftliche Verhältnisse, wenn man versucht, diese gedanklich nachzuvollziehen? Und nimmt dieses Nachvollziehen nicht allein schon einen Einfluss auf die zukünftige Gestaltung der Verhältnisse?
    Doch Jean-Luc Nancy würde sich nicht verteidigen wollen. Er deutet die Zeichen der Zeit, um einen Hinweis darauf zu bekommen, wohin sich die Gesellschaft bewegen wird. Und für ihn es sind vornehmlich die geistigen Produkte von Individuen, die solche Zeichen setzten.
    Nancy: Es gab in der Geschichte ausschließlich kollektive Antworten. Sicher sind alle Individuen äußerst verschieden. Aber wir stehen als Individuen nie allein in der Welt. Wir sind immer von ihrem Wandel erfasst. Wir können heute keine Werke der Malerei, Musik, Philosophie oder Literatur so schaffen, wie sie Menschen vor nicht einmal 50 Jahren erschaffen haben. Man kann seiner Zeit nicht entfliehen. Das war immer so, immer. Und als Zeitgenossen können wir auch kaum erkennen, welche künstlerischen Produkte unsere Epoche überdauern werden.
    Schauen Sie sich die Kunst von heute an: Kunst wurde zu etwas, das immer von der Frage begleitet wird, ob dieses oder jenes überhaupt Kunst ist? Und damit stellt sich die Frage: Was ist Kunst überhaupt? Nur eines können wir mit Gewissheit sagen: Nicht mehr nur der Versuch der Formbildung ist Kunst, sondern auch jener der Deformation und Zerstörung der Form enthält eine künstlerische Aussage. Aber welche? Wofür ist sie ein Symptom? Und man kann dann sagen: Wo es Symptome gibt, muss es eine Krankheit geben? Ja, vielleicht, aber man muss ebenso feststellen, dass alle großen Transformationen zuvor als Krankheit betrachtet worden sind, als Verrücktheit.
    Sex von der Reproduktion befreien
    Kürzlich nahm ich an einer Konferenz in Basel über Kunst und Technik teil. Man war in der Lage, in einem Labor einen lebendigen Hasen herzustellen, der komplett phosphorisiert war. Sein ganzer Körper leuchtete. Aber ist das Kunst? Vielleicht will uns das einfach gar nichts sagen und es ist eine komplette Sackgasse. Und doch berührt es einen wichtigen Punkt: Es ist ein Hinweis darauf, wie skrupellos die technischen Möglichkeiten die künstliche Fabrikation von lebenden Wesen vorantreiben. Es wird auch Klone geben, menschliche Klone, und an dem Tag, an dem wir menschliche Klone haben, werden wir feststellen, dass es keine echten Klone gibt. Ein menschlicher Klon wird aus genetischem Material eines Individuums hergestellt, in dem man die Sexualität übergeht. Aber das Individuum, das ohne den sexuellen Akt hergestellt wurde, wird vielleicht etwas ganz anderes werden, als das Ausgangsindividuum. Es gibt Biologen, die sagen, es sei nicht wirklich so eindeutig, dass die sexuelle Reproduktion dazu dient, die Diversität zu bereichern. Im Gegenteil, sie dient eher dazu, die Stabilität einer Art zu bewahren.
    Wir gelangen zu dieser Ansicht in einer Zeit, in der die Sexualiät völlig anders betrachtet wird als jemals zuvor. Die sexuelle Befreiung sorgte dafür, Sex von der Reproduktion zu befreien, was ja auch davor schon möglich war. Aber heute hat der Sex die völlige Unabhängigkeit von der Reproduktion erreicht, wiederum begleitet von dem Wunsch von homosexuellen Paaren, Kinder zu haben. Ich habe eine Nichte, die mit einer Frau zusammenlebt, und die beiden wollten ein Kind. Meine Nichte hatte sich künstlich befruchten lassen. Und warum nicht? Wirklich zu verstehen, was dies nach sich ziehen wird, braucht Zeit, denn der Geist oder die Vorstellung davon, was Elternschaft, Herkunft, Genealogie und auch Sex ist, ist dabei sich grundlegend zu verwandeln. Das wird das gesellschaftliche Leben ändern, und ja, das macht auch Angst, etwa im katholischen Milieu. Dort wird sehr schwer werden, dies zu akzeptieren, es verstört diese Menschen im Innersten. Einfacher zu akzeptieren wird es sein, wenn wir uns klarmachen, dass wir es gar nicht akzeptieren müssen, einfach weil wir dadurch, dass es sowieso geschieht, dazu gezwungen werden.
    Magercord: Jean-Luc Nancy war in seiner Kindheit Mitglied einer linkskatholischen Jugendbewegung und wurde von Dominikanern und Jesuiten erzogen und sagt: "Wer gläubiger Christ ist und sich einer überlieferten Wahrheit unterwirft, kann kein Philosoph sein". Allerdings sagt er auch: "Jeder Monotheismus ist ein ohnehin Atheismus" und fragt: "Kann ich bei meiner Art zu Denken noch darauf vertrauen, dass damit die Welt zu erfassen ist?"
    Nancy: Sind wir in der Lage, ein Denken zu entwickeln, welches die Antwort nicht in eine Art von Jenseits verlagert? Festzustellen ist doch, dass der größte Teil der Menschen, die heute leben, sogar jene, die unter ganz harten Bedingungen leben, Kinder in die Welt gesetzt haben und weiterhin ihren Lebenswillen ausdrücken. Was bedeutet dieser Lebenswille? Vom Standpunkt dessen, wie wir die Menschheit vor einem Jahrhundert oder 50 Jahren betrachtet haben, würden wir sagen, das ist ein rein animalischer Reflex. Das ist jedoch nicht wahr. Was die Menschen am Leben erhält, ist nämlich viel stärker, viel spiritueller oder philosophischer, als wir gemeinhin annehmen. Selbst wenn jemand nicht viel nachdenkt oder fast niemals, denkt er niemals nie.
    "Man braucht keinen Gott, wenn man Philosophie betreibt"
    Wir wissen, dass wir sterben werden, das ist kein erquicklicher Gedanke, aber trotzdem gibt es nur ganz selten Menschen, die sagen: Es ist alles eine große Dummheit, zu leben ist doch völlig absurd. Die das sagen, werden sich bestenfalls umbringen oder sie sind besonders raffinierte Intellektuelle, die so etwas gerne öffentlich kundtun. Ich sage, dass der Mensch trotz alledem einen Sinn dafür hat, was er ist, ohne zu wissen, was er ist. Der Mensch merkt, dass es durchaus einen Wert hat, sich ein wenig Sinn zu geben, selbst wenn er spürt, dass es letztlich keinen endgültigen Sinn gibt. Offensichtlich bleibt da etwas, das sich heute wieder mehr zeigt und man Religion nennt, etwas also, dass zeigt, dass man trotzdem den Drang verspürt zu denken, dass ein anderes Leben diesem folgt und nicht alles zu Ende ist. Vielleicht ist das auch eine normale Reaktion, denn wenn es etwas gibt, was in dieser Welt überhaupt nicht funktioniert, ist es der Atheismus. Es gibt zwar viele Atheisten, aber es gibt ganz wenige, die atheistische Fundamentalisten sind. Das sind dann eher Intellektuelle oder Künstler - warum? Weil sie das Religiöse durch etwas anderes ersetzt haben. Man braucht keinen Gott, wenn man Philosophie betreibt.
    Aber das ist auch schwer, denn es bedeutet, dass es keine Lösung gibt. Das stimmt, aber wir können letztlich eben doch damit leben, auch ohne Lösung und ohne Antwort. Und das konnten wir immer. Ich bin überzeugt, dass selbst in den großen Epochen des christlichen Glaubens auch die gläubigsten Menschen nicht in der Überzeugung starben: "Schön, nun werde ich Gott und der heiligen Jungfrau begegnen", nein, sie wussten schon, dass es ein Ende gibt, ein endgültiges. Jeder ahnt das. Das bedeutet gleichsam, dass das Christentum nie besonders trostspendend war. Das wurde es erst, als man versuchte, mithilfe des Glaubens die soziale Misere des 19. Jahrhunderts zu beruhigen. Bisher hindert uns dies daran, eine neue Form des Geistes und des Spirituellen - die es auf jeden Fall irgendwann geben wird - zu finden. Wir können noch nicht wissen, in welcher Form dieser Geist zum Ausdruck kommen wird - genauso wenig, wie ein Römer des 4. Jahrhundert hätten wissen können, dass das Christentum das spirituelle Ding der Zukunft sein würde.
    Magercord: Das Denken Jean-Luc Nancys zu beschreiben, daran haben sich schon einige versucht. "Semantische schwarze Löcher" wurden darin ausgemacht oder der Vergleich mit einer Jazz-Improvisation gezogen: In seinen Ausführungen, egal, ob in den mündlichen oder in seinen Büchern, erkenne man die zugrunde liegende Struktur mal deutlicher, mal weniger deutlich, und manches Solo klinge ziemlich riskant. So sei eine weitere Beschreibung erlaubt: Jean-Luc Nancy ist ein konsequenter Denker, er denkt ohne Dogmen, ohne Begriffe, ohne Bedeutungen. Und wer ihm beim Denken zuhören durfte, kann so etwas wie eine Erlösung verspüren, von dem Bedürfnis nämlich nach all zu flotter Stringenz - im Denken und im Ziehen von Schlussfolgerungen.
    Nancy Heute wissen wir, wie bemerkenswert es war, dass Augustin eine erste, echte Philosophie der Zeit entwarf, die sich wirklich von jener der Griechen oder Römer unterschied. Er sah eine linear verlaufende Zeit und verwarf den Kreislauf des ewig Wiederkehrenden. Das war ein Zeichen, ein Vorbote der Moderne. Seine Zeitgenossen kannten Augustin nicht, und heute gibt es ganz sicher wieder solche Vorboten, aber wir erkennen sie nicht. Die offensichtliche und gleichsam härteste Wahrheit ist, dass die Prozesse des Erkennens so langwierig sind, dass sie ein Menschenleben, sogar zwei, drei Generationen überschreiten. Man kann eigentlich nur sagen, dass in einer Zeit wie der unseren eine Notwenigkeit besteht, Beobachter zu sein und nichts außer Acht zu lassen, was vielleicht ein Anzeichen, ein Vorbote sein könnte auf Kommendes und daraus eine Linie der Zeichen ableiten. Kurz: Es geschieht heute tatsächlich Furchterregendes, sehr Beunruhigendes. Doch ob es schließlich durch uns hindurch Spuren zeitigen und Marken setzen wird, das werden wir sehen; beziehungsweise werden das erst andere sehen.