Donnerstag, 25. April 2024

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Philosophie der Menschenrechte

Das Fest ist gefeiert, der Alltag kehrt wieder ein. Das Fest galt der Erinnerung an die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen von 1948, der Alltag besteht aus dem mühseligen Engagement vieler Einzelner für die Realisierung von Menschenrechten in den verschiedensten Ländern der Erde. Ein umfassendes Handbuch der Menschenrechte ist da von Nutzen. Der Philosoph Heiner Bielefeldt hat es geschrieben und setzt sich dabei mit einer Fülle von Fragen auseinander, die die Menschenrechte heute aufwerfen.

Wilhelm Schmid | 08.02.1999
    Da ist beispielsweise ihre inhaltliche Problematik: Hinter der glänzenden Fassade des Begriffs der Menschenrechte verbergen sich, wie könnte es anders sein, innere Konflikte und Widersprüche, die das Potential haben, den Begriff von innen her zu sprengen. Ein "Recht auf Arbeit", das gut klingt, aber wohl nur mit einem Eingriff in andere Rechte umzusetzen wäre, sähen viele heute gerne in den Menschenrechtskatalog aufgenommen; das "Recht auf Eigentum" wiederum halten einige für verzichtbar, andere aber für ein unantastbares Heiligtum. Sodann die institutionelle Problematik: Daß auf dem Papier an Menschenrechten festgehalten wird, sagt über ihre faktische Geltung gar nichts; rechtliche und politische Institutionen sind zu ihrer Wahrung unverzichtbar, ersetzen aber nicht das individuelle und gesellschaftliche Engagement, das die Institutionen antreibt.

    Diese Schwierigkeit wird noch übertroffen von der zwischenstaatlichen Problematik: Ein ums andere Mal kollidiert hier im Konfliktfall die erklärte "allgemeine Achtung der Menschenrechte" (Artikel 1 der Charta der Vereinten Nationen) mit dem Verbot der Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Landes (Artikel 2 derselben Charta). Allerdings betrachtet eine wachsende Zahl von Ländern den Kernbestand von Menschenrechten nicht mehr nur als eine innere Angelegenheit anderer; die Bereitschaft zur Intervention von aussen wächst, und in Bosnien wurden daraus, wenn auch nach langem Zögern, die schmerzhaften Konsequenzen gezogen.

    Besondere Aufmerksamkeit widmet unser Autor jedoch der kulturellen Problematik: Wie kann den Ansprüchen unterschiedlichster Kulturen in ihrer Haltung zu den Menschenrechten Rechnung getragen werden, ohne deren Substanz dabei in Frage zu stellen? Wer glaubt, Menschenrechte seien eine Angelegenheit allein des wohlhabenden Westens, ja sogar Ausdruck seines ausufernden Machtanspruchs, der irrt sich: Auf die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen von 1948 folgten nicht nur die europäische und amerikanische Konvention von 1950 beziehungsweise 1969, sondern auch die afrikanische von 1981; und von 1990 datiert sogar eine "Erklärung der Menschenrechte im Islam", wenn auch mit starken Abweichungen von den anderen Konventionen, und ausserdem nur auf Aussenministerebene unterzeichnet. Manche Regierung pocht auf die besondere "kulturelle Identität" des eigenen Landes, die sich mit dem universalistischen Anspruch der Menschenrechte nicht vereinbaren läßt: Aber dient dabei die Berufung auf die "Kultur" nicht etwa nur dazu, dem kritischen Aufbegehren im eigenen Land die ärgerliche Berufung auf Menschenrechte unmöglich zu machen?

    Den Menschenrechten liegt die Idee der Menschenwürde zugrunde, die in der abendländischen Kultur bis in die Antike zurückreicht; neu hinzu kamen in der Moderne die Bemühungen um die politische und rechtliche Umsetzung dieser Idee. Diesen Bestrebungen konnte es auch nichts anhaben, daß die Menschenrechte im 19. Jahrhundert von der päpstlichen Kirche als Auswuchs des modernen Individualismus, der der Freiheit des Einzelnen zuviel Raum gebe, verworfen wurden. Das Bemühen um bürgerlich-liberale Rechte der ersten Generation wurde vielmehr abgelöst vom Kampf um wirtschaftlich-soziale Rechte einer zweiten Generation, und in einer dritten Generation geht es heute beispielsweise um die Diskussion eines "Rechts auf Entwicklung" der Dritten Welt.

    In den meisten Kulturen haben zumindest einzelne Individuen die Idee der Menschenrechte mittlerweile zu der ihren gemacht. Das ist die wahre historische Basis ihrer Realisierung: die Auseinandersetzung, die Einzelne zu führen bereit sind. Es wäre gefährlich, von dieser Basis absehen zu wollen und die Existenz von Menschenrechten für selbstverständlich, für gleichsam von Natur aus gegeben zu halten. Sie zum Naturrecht zu erklären, hat sich zwar historisch als wirkungsvoll erwiesen, aber "die Natur" dürfte im Zweifelsfall wohl eher ein zweifelhafter Bündnispartner sein. Die Menschenrechte sind von Grund auf bedroht, wenn nicht Individuen sich um sie sorgen, die von der Notwendigkeit ihrer Geltung überzeugt sind.

    Eine Fülle von Informationen und Überlegungen, von Hintergrund- und Detailwissen zur Geschichte und zur Aktualität der Menschenrechte wird im Buch von Heiner Bielefeldt ausgebreitet, geschrieben aus globaler und nicht nur europäischer Perspektive. Das Buch hat alle Voraussetzungen dafür, zum Standardwerk in der Menschenrechtsdebatte zu werden, absolut auf der Höhe der Zeit, da der Autor sich der neuen Herausforderungen vollkommen bewußt ist und darauf antwortet. Bewußt ist er sich auch der Widersprüche, von deren künftiger Überwindung er nicht unbedingt träumt, sondern eher davon ausgeht, daß sie wohl ausgehalten werden müßen. Das mindert zwar die Kraft des Idealismus, von der die Idee der Menschenrechte immer getragen worden ist, stärkt aber den Pragmatismus, der zu ihrer Realisierung heute wohl am meisten beitragen kann.