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Horkheimer-Nachlass jetzt auch online

Die Digitalisierung verändert das wissenschaftliche Arbeiten. Das zeigt ein Beispiel der Frankfurter Universität. Seit Kurzem haben Forscher und Philosophie-Interessierte online Zugang zum umfangreichen Nachlass des Philosophen Max Horkheimer, der als Mitbegründer der sogenannten Frankfurter Schule gilt.

Von Peter Leusch | 28.08.2014
    Max Horkheimer, Philosoph, Soziologe, Frankfurter Schule, Institut für Sozialforschung
    Horkheimer war zusammen mit Theodor W. Adorno einer der Begründer der kritischen Theorie der Frankfurter Schule. Er wurde am 14. Februar 1895 in Stuttgart geboren und ist am 7. Juli 1973 in Nürnberg gestorben. (picture alliance / dpa)
    "Wir glauben, dass die sozialwissenschaftliche Erkenntnis doch gewisse Möglichkeiten bietet, dem Unheil wirksam zu begegnen, das in Europa schon vielen Menschen das Leben gekostet hat",
    erklärt Max Horkheimer 1954 auf einem Vortrag über die Aufgaben und die Verantwortung einer kritischen Soziologie. Konkret bezieht er sich hier auf seine Forschungen während der Emigration zum autoritären Charakter.
    "Wir vermuten nicht länger, sondern kennen die psychologischen Kräfte, die einen Menschen anfällig für nationalsozialistische oder andere totalitäre Anschauungen machen."
    Das Tondokument Max Horkheimers gehört zu seinem Nachlass, der in der Universitätsbibliothek Frankfurt lagert. In der vergangenen Woche ist ein erster Schub, nämlich circa 35.000 Textseiten online gestellt wurden. In kurzen Abständen werden weitere Teile dieses Nachlasses folgen, der insgesamt 400 laufende Regalmeter einnimmt, erklärt der verantwortliche Archivar Mathias Jehn:
    "Umgerechnet sind das etwa 250.000 Seiten bis 280.000 Seiten, daneben kommen ungefähr 1.000 Zeitungsausschnitte, die wir in dem Bestand haben, etwa 800 Fotos, die wir gezählt haben, aber auch eine ganz wichtige Quelle - nämlich etwa 120 audiovisuelle Medien, die aus meiner Sicht auch noch nicht umfassend untersucht wurden auf Vorträge von Max Horkheimer und aus dem Umfeld ist noch viel mehr Unpubliziertes dabei.
    Und eben auch die gesamte Privatbibliothek von Max Horkheimer, das sind im Einzelnen über 15.500 Bücher, die zu der gesamten Überlieferung dazugehört. "
    Einer der wichtigsten Vertreter der Gesellschaftstheorie
    Seit drei Jahren arbeitet Mathias Jehn mit einem sechsköpfigen Team an dieser Digitalisierung des Nachlasses. Ein erster Grund liegt in der wissenschaftlichen Bedeutung Max Horkheimers, meint Gunzelin Schmidt Noerr, er lehrt Philosophie an der Hochschule am Niederrhein.
    Schmidt Noerr war in den 80er- und 90er-Jahren Mitherausgeber der Gesammelten Werke Max Horkheimers.
    "Max Horkheimer, der 1895 geboren wurde, hat 1930 die Direktion des Instituts für Sozialforschung übernommen und wurde so etwas wie eine zentrale Figur der deutschen Soziologie und Gesellschaftstheorie. Schon in den 20er-Jahren hatte er eine Reihe von damals bedeutenden Forschern um sich geschart, mit denen zusammen hat er dann auch in der Emigration die Sozialforschung deutlich vorangebracht, sodass man sagen kann, er gehört mit seiner Schule, der sogenannten Frankfurter Schule, wie sie dann später genannt wurde, zu den wichtigsten Vertretern der Gesellschaftstheorie im 20. Jahrhundert."
    Ein zweiter Grund für die Digitalisierung des Nachlasses ist der drohende Zerfall. Vor allem das mangelhafte Papier aus der Zeit zwischen 1920 und 1950 beginnt buchstäblich zu zerbröseln. Nur durch Übertragung in ein elektronisches Medium, so Mathias Jehn, lassen sich bestimmte Teile des Nachlasses erhalten. Und dieses digitale Format wiederum bietet Nutzungsmöglichkeiten, die von Forschern heute nachgefragt sind.
    "Die Benutzer verlangen auch viel mehr digitalisierte Bestände, wo sie von außen darauf zugreifen können, ganz bequem, am besten auch kostenlos, und das ist ein Interesse, das wir auch aufnehmen müssen, weil die größte Benutzergruppe in diesem Archiv sind eben auch amerikanische Soziologen, Politologen und Historiker, die teilweise wochenlange Archivaufenthalte auf sich nehmen, und das ist eben ein ganz zentrales Interesse, dass das breit genutzt werden kann."
    Die Wissenschaftler studieren das Werk Max Horkheimers und die Arbeiten des Instituts für Sozialforschung auch als Phänomen im historischen Kontext. Denn die kritische Gesellschaftstheorie der Frankfurter Schule hat nicht ungestört im Professorenlehnstuhl und in ruhigen Bibliotheksstunden heranreifen können - ihre Vertreter wie Max Horkheimer, Theodor Adorno, Herbert Marcuse und andere wurden von den Nazis vertrieben, das Institut für Sozialforschung geschlossen. Man suchte auf der Flucht in Genf, Paris, London schließlich in New York nach einer Bleibe. In dieser Lage entwickelte und bewegte sich ein Denken, das vom nationalsozialistischen Terror geächtet und verfolgt wurde, und das selber wiederum eine Antwort auf diese Barbarei suchte.
    Gezielter Forschen durch Digitalisierung
    Genau diese Zusammenhänge zwischen Wissenschaft und Politik, zwischen Theorie und historischer Realität lassen sich nun am Beispiel des Horkheimer-Nachlasses wesentlich besser untersuchen, da die Digitalisierung den Forschern zusätzliche Möglichkeiten bereitstellt:
    "Sie haben die Möglichkeit, sogenannte Cloud-Suchen zu machen, das heißt Schlagwörter, die sehr häufig verwendet werden, darauf zuzugreifen, dass sie dann bestimmte Begrifflichkeiten sich zusammenstellen - wie zum Beispiel American Jewish Community eingeben, und dann bekommen Sie die Auswahl der Stücke , die in diesem Titel aufgenommen werden, präsentiert. Was auch ein ganz schönes Instrument ist, dass wir an jeden Indexbegriff - der klassische Index nämlich Personen-, Orts- und Sachindex - dass Sie da eine Weiterleitung haben auch zu anderen Suchportalen wie Wikipedia beispielsweise, wo Sie dann neben diesen Suchportalen auch die wesentlichen Informationen von anderen bekommen können, das ist eine sehr vernetzte Software."
    Mathias Jehn vermutet, dass sich mithilfe dieser neuen informationstechnischen Möglichkeiten der Blick auf Themen und Personen richtet, die bisher von der Forschung vernachlässigt wurden. Zum Beispiel auf Friedrich Pollock, den Jugendfreund Max Horkheimers. Seine nicht unbedeutende Rolle im Institut für Sozialforschung ist noch nicht näher untersucht worden. Mathias Jehn:
    "Es bedarf einer wissenschaftlich fundierten Biografie einmal zu Pollock, der im Hintergrund den ganzen Betrieb des Instituts für Sozialforschung am Laufen gehalten hat. Und das ist eine Person, die man bislang, weil er auch nicht so in der Öffentlichkeit stand, ein bisschen unterschätzt, und gerade jetzt mit dieser Online-Verfügung, wo die ganzen Briefe von Pollack zur Verfügung stehen, wird man vielleicht auch dieses Verhältnis etwas mehr in den Mittelpunkt stellen können."
    Das Online-Archiv bietet darüber hinaus Gelegenheit, das Bild der Frankfurter Schule in weiteren Punkten zu revidieren. Denn immer noch halten sich hartnäckige Klischees. Schmidt Noerr:
    "Dazu gehört unter anderem dieses Klischee der Praxisferne, was immer noch in Umlauf ist, das seien Leute, die schwierig geschrieben haben, die man kaum versteht, die eigentlich so im Elfenbeinturm saßen und sich dabei wohlgefühlt haben - das völlige Gegenteil ist der Fall, das kann man hier sehr gut studieren, wie stark sie verbunden waren mit alltäglichen Problemen in der Politik und in der Wissenschaft."
    Öffentlichkeit für Wissenschaft begeistern
    Horkheimer und Adorno, die manchmal sperrig schrieben, verschanzten sich keineswegs in elitärer Arroganz. Sie engagierten sich vielmehr in der Bildungspolitik, vor allem in der Universitätsreform. Sie suchten die breitere Öffentlichkeit zu erreichen in populären Ausätzen, in Vorträgen, auch im Rundfunk.
    Horkheimer verstand sich als Aufklärer. Er rief dazu auf, das, was allgemein gilt, was scheinbar selbstverständlich ist, immer wieder zu durchdenken und auf den Prüfstand zu stellen - und wie er es selbst ausdrückte - sich nicht dumm machen zu lassen.