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Philosoph Omri Boehm
"Zionismus nicht vereinbar mit humanistischen Werten"

Zwischen einem jüdischen und einem demokratischen Staat besteht ein Widerspruch - diese Ansicht vertritt der israelische Philosoph Omri Boehm. Denn um jüdisch zu sein, müsse man "jüdisches Blut" haben - und ein Staat könne keine liberale Demokratie sein, wenn er sich zugleich erlaubt, ethnisch nicht neutral zu sein, sagte er im DLF.

08.02.2015
    Blick auf Haifa, Israel
    Haifa in Israel ist der Geburtsort von Omri Boehm. (picture-alliance / dpa / Andreas Keuchel)
    Natascha Freundel: Am Mikrofon begrüßt Sie Natascha Freundel. Mir gegenüber im Studio sitzt der israelische Philosoph Omri Boehm, der als Professor in New York an der Universität für Sozialforschung, an der New School, unter anderem Kant, Descartes und Spinoza unterrichtet. Herzlich willkommen, Herr Boehm!
    Omri Boehm: Hallo!
    Freundel: Omri Boehm wurde 1979 in Haifa geboren und ist in der kleinen Ortschaft Gilon im Norden Israels aufgewachsen. Er ist ein israelischer Jude und deutscher Staatsangehöriger, mit einer - ich zitiere ihn - "bildungsdeutschen jüdischen Großmutter und einem traditionsverhafteten iranischen jüdischen Großvater". Omri Boehm hat in Tel Aviv studiert und in Yale promoviert, über "Kants Kritik an Spinoza". Er hat in Heidelberg und München gelebt und geforscht und er schreibt meinungsstarke Artikel, etwa in der israelischen Zeitung Haaretz oder hierzulande in der ZEIT, in denen er das politische Denken und Handeln Israels sehr heftig kritisiert. Und wir wollen mit Omri Boehm über sein Heimatland reden und über die deutsch-israelischen Beziehungen, die - auf diplomatischer Ebene - seit 50 Jahren bestehen. Zunächst aber möchte ich Sie fragen, Herr Boehm, welche familiären Beziehungen Sie zu Deutschland haben? Sie sprechen von Ihrer "bildungsdeutschen" Großmutter - woher stammte sie?
    Boehm: Meine Großmutter stammte aus Breslau. Sie hat Breslau '39 verlassen, als sie 16 war oder so. Als ein Kind habe ich mit ihr natürlich kein Deutsch gesprochen. Und auch sehr wenig über Deutschland. Aber dann irgendwann als ich nach Berlin zum ersten Mal gekommen bin, das war 2001, habe ich irgendwann verstanden, ach, Berlin ist sehr interessant, wir müssen meine Großmutter doch auch wieder nach Berlin bringen. Dann hat mein Vater sie nach Berlin gebracht, und zusammen waren wir hier für eine Woche. Das war sehr interessant und so haben wir angefangen, mehr über Deutschland und so zu sprechen.
    Freundel: Und inwiefern war sie eine "Bildungsdeutsche" oder ist sie eine "Bildungsdeutsche"?
    Boehm: Es wurde doch Thomas Mann, Schopenhauer, Nietzsche zu Hause gelesen, Wagner gehört, und so weiter und so fort. Also das, was vielleicht nicht in allen israelischen Häusern gemacht wird. Gelesen aber auf Hebräisch oder Englisch, nicht auf Deutsch.
    "Widerspruch zwischen einem jüdischen und einem demokratischen Staat"
    Freundel: Aber man kann schon sagen, dass Ihre Großmutter einen gewissen Einfluss darauf hatte, dass Sie sich für die deutsche Philosophie, insbesondere für Kant interessieren?
    Boehm: Ja, das auf jeden Fall. Wobei das erste Buch, das sie mir geschenkt hat, war Spinozas Theological-political Essay. Sie hat gesagt: "Am Anfang versteht man nicht, warum das überhaupt Philosophie ist. Aber irgendwann wirst du es schon verstehen." Irgendwann habe ich das verstanden, und trotzdem wollte ich, als ich das schon verstanden habe, wollte ich das doch mit Kant kritisieren. Ich dachte, die Philosophie Kants ist viel wichtiger für uns als die Philosophie Spinozas.
    Freundel: Was erscheint Ihnen so reizvoll an der Philosophie Kants?
    Boehm: Sie will nicht immanent denken. Heutzutage wollen die Philosophen normalerweise alles immanent denken, sie wollen alles von sozusagen "drinnen" denken, ohne Transzendenz. Ich denke, um wirklich radikal zu denken, muss man auch von außen denken können. Und das kann man mit Spinoza nicht wirklich gut tun. Alles was passiert, alles was gedacht wird, passiert oder wird gedacht von innerhalb der Welt. Mit Kant leugnet man diese Position.
    Freundel: Mit Kant fragt man nach den Bedingungen der Möglichkeit einer Tatsache.
    Boehm: Genau, und das ist eine Frage von außen und nicht von innen. Das ermöglicht wieder auch eine ganz andere Politik, radikaler, finde ich, und, ja, Kritik wird ermöglicht dadurch.
    Freundel: Sie argumentieren außerhalb Israels, im räumlichen Sinne. Sie leben außerhalb Israels, in New York, ich hatte es erwähnt, wo Sie an der New School unterrichten. Und Sie gehören zu den wenigen jüdisch-israelischen Intellektuellen, die die Möglichkeit eines zugleich jüdischen und demokratischen Staates offen infrage stellen. Worauf gründen Sie Ihre Zweifel diesbezüglich?
    Boehm: Soll ich das vielleicht auf Englisch sagen?
    Freundel: Vielleicht.
    Boehm: Wie eigentlich alle Israelis bin ich mit der Vorstellung aufgewachsen, dass es vielleicht eine Spannung gibt, aber keinen Widerspruch in der Rede von Israel als einem jüdischen und demokratischen Staat. Wir sagen gern, Israel ist jüdisch, insofern es demokratisch ist und demokratisch, insofern es jüdisch ist. So kann man es in der Schule hören. Oder sogar von kritischen Linken. Erst nach einiger Zeit habe ich philosophisch begriffen, dass man damit etwas sagt wie: Ein Quadrat ist quadratisch, insofern es rund ist, und ein Kreis ist rund, insofern er quadratisch ist. Man behauptet nichts weiter als einen Widerspruch, aber mit Pathos, und glaubt daran. Meine Überzeugung, dass es einen Widerspruch gibt zwischen einem jüdischen und einem demokratischen Staat, ist unabhängig davon, dass Judentum eine Art Religion ist. Denn Israel könnte Judentum anders interpretieren, nicht als Religion. Sie ist auch unabhängig davon, dass Judentum eine Kultur ist. Denn ich glaube nicht, dass liberale Demokratien kulturelle Neutralität verlangen oder voraussetzen. Ein Staat kann nicht-neutral sein, kulturell betrachtet. Deutschland ist nicht neutral, es ist deutsch, aber es ist eine Demokratie. Der Widerspruch zwischen einem jüdischen und einem demokratischen Staat liegt für mich darin, dass man sozusagen "jüdisches Blut" haben muss, um jüdisch zu sein.
    Jüdisch ist, wer eine jüdische Mutter hat. So verstehen religiöse Juden ihre Identität. Problematischer für uns Israelis ist aber, dass auch säkulare Juden ihre Identität so verstehen. Es ist eine Frage der ethnischen Zugehörigkeit. Und ein Staat kann keine liberale Demokratie sein, wenn er sich zugleich erlaubt, ethnisch nicht neutral zu sein. Die Tatsache, dass man aufgrund seiner ethnischen Herkunft von der Gruppe der jüdischen Israelis ausgeschlossen bleibt, verhindert, dass Israel eine Demokratie ist. Vielleicht kann man es auch so sehen: Die Bezeichnung "israelisch" für mich zum Beispiel - wie Sie es vorhin getan haben, glaube ich - ist nicht ganz zutreffend. Denn das Adjektiv "israelisch" hat einen informellen Status, es ist ein Bastard. Sie sind deutsch, nehme ich an. Wir sind hier von vielen Deutschen umgeben. Sie sind deutsch, weil sie deutsche Staatsbürger sind und zu diesem Land gehören. In Israel hat man zwar die israelische Staatsangehörigkeit, wird aber als "jüdisch" bezeichnet. Anders als Deutschland, das deutsch ist, ist Israel kein israelischer Staat, sondern ein jüdischer Staat. Der Vergleich zwischen nicht-neutralen, liberalen Demokratien und Israel ist daher irreführend. Sie haben nicht den gleichen Status.
    "Wir müssen anfangen, unseren Zionismus aufzugeben"
    Freundel: Aber könnte nicht die Interpretation des Begriffs "jüdisch" so geändert werden, dass man es dann doch kulturell auffasst, dass man wegkommt von dieser ethnischen, blutsorientierten Bedeutung?
    Boehm: Sicher kann man Judentum eher als Kultur und weniger als Religion interpretieren. Aber ich weiß von keinem erfolgreichen Versuch, ich weiß von überhaupt keinem Versuch, Judentum so umzudeuten, nicht nur dass es eher als Kultur und weniger als Religion verstanden wird, sondern dass es unabhängig von ethnischer Herkunft ist. Zum Beispiel ich kann Deutscher werden, indem ich hier lebe und ein Gefühl entwickle für deutsche Musik, Philosophie, deutsche Geschichte. Das kann ich auch als Jude oder als Muslim, zumindest ist es möglich. Es ist nicht unproblematisch, aber möglich. Ich kenne kein Konzept von Judentum, kulturell betrachtet, das es einem Araber erlauben würde, ja, was denn zu entwickeln? Ein Gefühl für den Holocaust? Oder soll er Woody-Allen-Filme mögen? Die Bibel lesen? Wäre er deshalb "jüdisch"? Ich kenne keinen Begriff von Judentum, der das erlauben würde. Da wir einen solchen Begriff nicht haben, kann ein Staat nicht jüdisch und demokratisch zugleich sein. Die Frage ist, was tun wir angesichts dieser Herausforderung? Eine Möglichkeit besteht darin, zu verstehen, dass wir zumindest anfangen müssen, unseren Zionismus aufzugeben. Die andere Möglichkeit wäre, das Judentum aufzugeben. So verstehe ich Ihren Vorschlag, wenn Sie fragen, ob wir Judentum nicht so umdeuten können, dass es nicht mehr vom Blut abhängt. Dann aber ist Israel wichtiger als das Judentum selbst, und es geht nur darum, den Zionismus aufrechtzuerhalten. Ich halte das für einen Irrtum.
    Freundel: Sie sprechen hin und wieder, Omri Boehm von der "Tragik" des jüdisch-israelischen Lebens heute. Was genau meinen Sie damit?
    Boehm: Wahrscheinlich genau das, was ich Ihnen eben gerade geantwortet habe: Diesen Widerspruch zwischen zwei Werten, die aus guten Gründen sehr wichtig sind für die meisten Juden und die meisten israelischen Juden, auch für mich. Da ist der Wert des Zionismus, Israel als jüdischer Staat. Ich gehöre nicht zu den Kritikern Israels, die keine Zuneigung für den Staat als jüdischen Staat hegen. Ich sehe die historischen Ursachen für seine Gründung, ich sehe die wunderbare Kultur und Gesellschaft, die er hervorgebracht hat. Ich liebe Israel als jüdisch-israelischen Staat. Auf der anderen Seite müssen wir uns fragen, als Juden, als Menschen, ob wir eher diesen Werten verbunden sind oder eher den Werten der Menschenrechte, der Gleichheit, der Demokratie. Ich glaube, als Menschen und vielleicht sogar als Juden, sollten wir das Letztere wählen. Vielleicht ist das die Lehre, die wir aus der jüdischen Geschichte ziehen sollten. Dieser Widerspruch bedeutet eine Tragödie. Denn er führt uns zu einer Lebensform, die Dingen widerspricht, an die wir wirklich glauben. Es gibt keine Lösung, mit der wir uns in dieser Tragödie einrichten können. Wir müssen die bittere Pille schlucken und uns etwas Neues ausdenken. Ich weiß nicht, was das sein wird.
    "Es gibt keine politische Kultur in Israel, die es erlauben würde, diese Haltung offen zu vertreten"
    Freundel: Das heißt, Sie beziehen den Begriff der Tragik nicht auf historische Ereignisse, die als tragisch betrachtet werden können, wie die Vertreibung der arabischen Bevölkerung 1948 im Unabhängigkeitskrieg bei der Staatsgründung Israels und so weiter, alle Kriege, die daraus gefolgt sind. Sie glauben an einen inhärenten tragischen Widerspruch?
    Boehm: Ja, ich glaube, das ist die größte Tragödie für die Juden in Israel heute. Die Tragödie, von der Sie gerade gesprochen haben, ist vielleicht eher ein Verbrechen. Ich würde es nicht als Tragödie bezeichnen, muss ich sagen, sondern als ein Verbrechen, infolge der Unfähigkeit, ernsthaft mit unserer Tragödie umzugehen. Statt ernsthaft darüber nachzudenken, was wir als israelische Juden tun sollten, gehen wir mit Gewalt gegen die palästinensische Bevölkerung vor. Das stimmte vielleicht schon für 1948, wobei die Umstände damals natürlich sehr verschieden waren so kurz nach dem Holocaust, eine völlig andere Situation im Nahen Osten, ohne Frage. Doch man sieht an Denkern wie Hannah Arendt und Martin Buber - Denkern, die jedenfalls nicht unberührt waren von der Situation der Juden in Europa - dass es schon damals sehr wohl möglich war, anderer Meinung über ein Zusammenleben im damaligen Palästina zu sein.
    Freundel: Sie leben in New York, und ich frage mich, Omri Boehm, ob Sie Ihre Thesen genauso offen in Jerusalem oder Tel Aviv vertreten könnten?
    Boehm: Ja also... Die Antwort ist Nein. Ich könnte diese Ansichten aus zwei Gründen nicht vertreten. Das heißt, ich würde es tun, aber die Gefahr und die Komplexität dabei hat zwei Gründe: Zum einen die politische Kultur in Israel. Um es klar zu machen, ich glaube nicht einmal Haaretz, bekanntermaßen die liberale Zeitung in Israel, die meiner Meinung nach eine sehr gute Arbeit macht in der Verteidigung der israelischen Demokratie - nicht einmal Haaretz und ihre Leser sind bereit, sich mit dem, worüber wir hier reden, ernsthaft auseinanderzusetzen. Natürlich gibt es dort ein paar Autoren, die solche Meinungen vertreten, aber nur am Rande. Und in der Regel geht es diesen Autoren um die Besatzung, sagen wir Gideon Levi oder Amira Hass. Sie werden gehasst, sie haben Bodyguards, das ist allgemein bekannt. Es geht ihnen nicht besonders um die Frage, ob Israel jüdisch und demokratisch sein kann. Sie schreiben über die Verbrechen der Besatzung, die ja Konsens ist. Das einzige Problem, das Israelis mit Gideon Levi oder Amira Hass haben, ist die Klarheit, mit der sie über die Besatzung sprechen, und schon das macht sie zu Verrätern für einige Israelis. Es ist kein Geheimnis, ich habe in der Vergangenheit manchmal Meretz und manchmal Hadasch gewählt.
    Freundel: Also sehr linke Parteien in Israel, am "linksten" Rand, wenn man so sagen kann...
    Boehm: Meretz ist die am meisten linke, aber immer noch jüdisch-zionistische Partei. Es gibt in Israel keine linke Partei, die nicht als "arabische Partei" gilt - ich betone: gilt -, die die Idee einer jüdischen Demokratie nicht unterstützt. Die wenigen Parteien, die nicht für eine jüdische Demokratie sind, gelten als "arabische" Parteien. Angefangen von Hadasch, die gar keine arabische Partei ist, eher eine arabisch-jüdische Partei, dazu kommunistisch, weshalb mir nicht ganz wohl dabei ist, sie zu wählen. Und dann gibt es andere arabische Parteien, die Israels Existenz als im Kern jüdischen Staat nicht akzeptieren. Aber es gibt keine politische Kultur in Israel, die es auch nur erlauben würde, diese Haltung offen zu vertreten. Ich verrate Ihnen den anderen Grund, weshalb es in Israel so schwierig ist, Meinungen zu äußern, die nicht zionistisch sind: Die Familie und die Freunde. Sehr wenige Menschen wissen Meinungen dieser Art zu tolerieren. Wenn man die Beziehungen zu seinen Nächsten in Israel bewahren möchte, ist es besser, weniger davon zu reden. Das ist eine echte Frage für Leute wie mich. Ich fühle mich verantwortlich, über diese Dinge in Israel zu reden und ich tue es auch. Aber mein Eindruck ist, dass solche Äußerungen ihren Preis haben.
    "Die Linke ist im Zionismus verschwunden"
    Freundel: Viele Menschen, die Israel schon länger im Blick haben, sich für israelische Politik interessieren, fragen sich, wohin die israelische Linke verschwunden ist. Sie haben zwei Parteien genannt, die ja durchaus den Namen "links" verdienen, aber auf der politischen Ebene begegnet man linken Positionen doch nur noch selten. Friedensverhandlungen sind nur noch eine leere Formel für ein Kreisen um die immer gleichen Widerstände, tatsächlich einen Weg in den Frieden zu versuchen. Wohin ist die Linke verschwunden, Omri Boehm?
    Boehm: Ich möchte nicht zu radikal klingen. Sie ist im Zionismus verschwunden. Sogar die extreme Linke, also Meretz, solange sie am Zionismus festhält, als ihrem wichtigsten Wert, kann sie nicht mit gutem Gewissen linke Ideale vertreten, wie Gleichheit und Menschenrechte. Ich geb' Ihnen ein Beispiel: Im jüngsten Gaza-Krieg im Sommer kursierte ein Plakat auf Facebook, eine Anzeige gegen Rassismus in Israel. Es zeigte drei Soldaten in Uniform, drei arabische Israelis, die gerade in der israelischen Armee dienten, in einer operativen Einheit. Auf dem Plakat stand: "Bevor du wieder 'Tod den Arabern' rufst", - wie das bei Demonstrationen letzten Sommer geschehen ist -, "überleg es dir noch mal". Das ist natürlich ein übles Plakat, das wieder mal zeigt: Was sind die Leitlinien, sogar für Linke in Israel? Dass Loyalität zum Staat die Voraussetzung dafür ist, als legitim anerkannt zu werden. Das war kein offizielles Plakat etwa von Meretz oder Peace Now. Eine Woche später tauchte aber ein neues Plakat auf, diesmal offiziell von Peace Now, der wichtigsten außerparlamentarischen linken Organisation in Israel. Dieses Bild zeigte eine weitere Gruppe von Soldaten in Uniform, mit Gaza im Hintergrund. Und darauf stand: "Bevor du Linke Verräter nennst, denk daran, dass einige der Soldaten, einige deiner Waffenbrüder, auch Linke sind." Wieder war das Argument, auch wir sind loyal gegenüber dem Staat, wie könnt Ihr uns Verräter nennen? Ich erkenne darin den Ausgangspunkt der israelischen Linken. Sie muss sich als loyal darstellen, um sich als legitim darzustellen. Es geht nicht nur um Darstellung, sie glauben wirklich daran. Sie wollen sagen: Auch wir sind gute Zionisten, die den Staat unterstützen, wie jeder andere auch, und das verleiht uns Legitimität. Wenn man so argumentiert, und wenn der Zionismus, wie ich meine, nicht vereinbar ist mit humanistischen Werten, dann verschwindet die Linke. Deshalb gehen sogar Meretz-Wähler nicht auf die Straße, wenn da ein Krieg vor sich geht, wie der letzten Sommer.
    "Ich möchte ganz klar sagen: Ich liebe Israel"
    Freundel: Sie haben einen sehr scharfen analytischen Blick auf die Politik Israels, auf die inneren Widersprüche der israelischen Staatsräson. Aber man könnte fragen, wo Ihre Empathie ist für die Sorgen und Ängste der jüdischen Israelis, die sich zunehmend bedroht fühlen von den arabischen Staaten, vor allem nach dem sogenannten "Arabischen Frühling", den arabischen Staaten, die das kleine Land Israel umgeben und die, ja man könnte sogar sagen, Todesangst haben vor radikalen islamistischen Bewegungen - und möglicherweise zu Recht.
    Boehm: Zuerst möchte ich noch einmal ganz klar sagen: Ich liebe Israel, und vor allem liebe ich die israelische Lebensart in vieler Hinsicht. Das aufgeben zu müssen, ist keine angenehme Vorstellung für mich. Wenn man die Details Ihrer Frage hinzufügt, die Tatsache, dass es ernsthafte Bedrohungen gibt "in unserer Nachbarschaft", wie man bei uns gern sagt, dann bereitet mir das wirklich Sorgen. Und ich stimme zu: Es ist nicht ersichtlich, dass zum Beispiel ein Ende der Besatzung unsere Situation im Nahen Osten viel sicherer macht. Ich teile jedoch nicht die Ansicht, dass es unsere Situation sehr viel schlechter machen wird. Ich glaube, unsere Situation wird ähnlich und vielleicht etwas besser sein. Weil viele Gründe, uns anzugreifen, verringert sein werden. Ich sollte vielleicht sagen, das ist hier bisher nicht deutlich geworden: Ich bin für eine Zwei-Staaten-Lösung. Ich glaube, idealerweise sollte es einen demokratischen Staat für alle geben. Das ist es, was ich meine, wenn ich sage, dass ich kein Zionist bin. Dass der Staat nicht jüdisch sein sollte, sondern eine Demokratie für alle. Ich glaube nicht, dass das kurz- oder mittelfristig eine wünschenswerte Option ist. In diesem Sinne bin ich kein Revolutionär, ich glaube nicht, dass wir den jüdischen Staat sofort beenden sollten. Wir sollten eher einen palästinensischen Staat errichten, und zugleich eine ernsthafte Diskussion innerhalb Israel über den Zionismus beginnen.
    Freundel: Wir wollten auch über die deutsch-israelischen Beziehungen sprechen, Omri Boehm. Sie haben in Heidelberg, München und auch in Berlin gelebt. Sie haben einen deutschen Pass. Fühlen Sie sich wohl in Deutschland?
    Boehm: Ja, ich bin gern hier. Und hoffentlich nicht nur, weil es ganz lustig ist. Es ist interessant und wichtig für mich. Ich fühle mich wohl in Deutschland, nicht als wäre ich hier zu Hause, aber ich verbringe meine Zeit gern mit meinen deutschen Freunden und anderen Freunden, die ich hier habe...
    Freundel: ... Und Sie sprechen auch wunderbares Deutsch, obwohl wir im Laufe des Gesprächs auf Englisch umgeswitcht sind...
    Boehm: Jetzt habe ich ein Schuldgefühl, dass ich im deutschen Radio Englisch spreche. Aber ich bin hier gern an den Unis und rede vor deutschen Akademikern über Kant. Ich genieße es, in München oder Berlin zu sein und deutsche Zeitungen zu lesen. Ich bin skeptisch und sogar ein bisschen verärgert über die gegenwärtige Debatte über Israelis in Berlin. Ich sag' Ihnen ganz ehrlich warum: Möglicherweise auch aus schlechten psychologischen Gründen; es ist nicht schön, zu wissen, dass man zu einem Trend gehört. Vielleicht muss ich zugeben, dass auch ich zu einem Trend gehöre.
    Freundel: Obwohl Sie in New York leben und nicht in Berlin. Und New York ist ein bisschen teuer als Berlin, es geht ja in dieser Diskussion auch darum...
    Boehm: And Munich!
    Freundel: Ja - und Sie leben auch in München...
    Boehm: Wir sollten sehen, dass diese ganze Diskussion von Israelis in Berlin handelt, nicht von Israelis in Deutschland. Ich betrachte mein Leben in Deutschland wirklich als Leben und auch als Projekt in Deutschland. In Heidelberg, das ist zwar lange her, aber es war sehr bedeutsam für mich; in München, das für mich beruflich und persönlich immer noch sehr wichtig ist, und auch in Berlin. Natürlich gibt es viele Israelis an vielen Orten in Deutschland. Aber ich glaube nicht, dass es einen Trend von Israelis in München oder irgendwo in Baden-Württemberg gibt. Tatsächlich glaube ich, dass viele Israelis in Berlin sehr skeptisch darüber wären, ob sie gern in Deutschland leben würden.
    "Gilt unsere Verbundenheit den Juden oder den Israelis oder der Menschheit?"
    Freundel: Aber sprechen wir auch noch einmal über die offiziellen Beziehungen zwischen Israel und Deutschland. Vor sieben Jahren bereits sagte die Bundeskanzlerin Angela Merkel vor der Knesset, "die besondere historische Verantwortung Deutschlands für die Sicherheit Israels" sei Teil der deutschen Staatsräson. Wie verstehen Sie diesen Satz, Omri Boehm?
    Boehm: Darüber habe ich viel nachgedacht und ich kann nicht anders, als diesen Satz wertzuschätzen. Ich verstehe ihn und halte ihn für wichtig, weil ich das Bedürfnis in Deutschland verstehe, alles zu tun, um Israel zu unterstützen. Meine Zweifel an dem Satz haben mit der Frage zu tun, ob Israel der Repräsentant aller Juden auf der Erde zu sein hat. Wenn es zur Grundlage Deutschlands gehört, Israel zu verteidigen, Israels Existenzrecht zu unterstützen, wenn das von der deutsch-jüdischen Geschichte abhängt, dann steckt die Annahme dahinter, dass Israel die Juden repräsentiert. Diese Annahme, glaube ich, sollten wir bestreiten, auch um der Juden willen und auch um Israel willen. Wenn eine Politikerin wie Angela Merkel das sagt, dann erkenne ich es an und verstehe es. Solange Israel ein jüdischer Staat ist, glaube ich, sollte sie es sagen. Ich frage mich aber, warum es keine eigene öffentliche Diskussion gibt, jedenfalls nicht genug, zu der Frage: Gilt unsere Verbundenheit in erster Linie den Juden oder in erster Linie den Israelis oder in erster Linie der Menschheit? Als Deutsche, mit der deutschen Geschichte. Wir können nicht einfach davon ausgehen, dass wir mit Israel die Juden oder die Menschheit verteidigen. Leider hat Israel einen Widerspruch erzeugt zwischen der Unterstützung der Menschenrechte und der Unterstützung Israels. Vielleicht ist das kein notwendiger Widerspruch, aber er existiert nun mal. Ich glaube, die Deutschen und der deutsche Staat, die für mich nicht dasselbe sind, müssen sich harten Fragen dazu stellen: Wo stehen sie in dieser Beziehung? Wenn viele Deutsche, wie ich glaube, eine besondere Verantwortung und eine besondere Sensibilität aufgrund der deutschen Geschichte zu haben meinen, wie interpretieren sie dann diese Verantwortung? Zu schnell wird angenommen, es handle sich um eine Verantwortung gegenüber Israel und nicht eine allgemeinere Verantwortung.
    Freundel: Wenn Sie, Omri Boehm, die israelische Politik, das israelische Bildungssystem, das Militär oder auch die Justiz so scharf analytisch kritisieren, wie Sie es tun - haben Sie da nicht manchmal Angst, dass Sie anti-israelischen Ressentiments das Wort reden?
    Boehm: Das halte ich für unmöglich, weil ich Israel so liebe. Die Antwort ist nein.
    Freundel: Omri Boehm, vielen Dank für das Gespräch.
    Boehm: Thank you very much!
    Der Philosoph Omri Boehm, 1979 in Haifa geboren und in Gilon im Norden Israels aufgewachsen, ist israelischer Jude und deutscher Staatsangehöriger. Promoviert hat Boehm über Kants Kritik an Spinoza, er hat in Heidelberg und München geforscht und lehrt als Professor für Philosophie an der New School for Social Research in New York.