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Philosophie und Essen
Gemeinsam Kochen für eine bessere Welt

Ein illustrer Kreis von Kulturschaffenden und Kulturinteressierten kam nun in Hamburg zusammen, um drei höchst unterschiedliche Begriffe auf einen Nenner zu bringen: Was verbindet die Topinambur-Knolle mit dem Buch "Utopia" von Thomas Morus und was hat das alles mit dem Kunstwort "Gastrosophie" zu tun? Eine bizarr anmutende Fragestellung, die es in sich hat.

Von Rainer Link | 01.02.2016
    Zeitgenössisches Porträt des englischen Humanisten Thomas Morus (1477-1535).
    Vor genau 500 Jahren schrieb Thomas Morus "Utopia" (picture alliance / dpa / Foto: Bifab)
    Eine Fabrikhalle in einer dunklen Nebenstraße in Hamburg St. Pauli. 30 Frauen und Männer sind der Einladung zu einem besonderen Abend gefolgt. Um was es genau gehen wird, weiß niemand. Das Künstlerkollektiv mit dem merkwürdigen Namen "NoRoomGallery" hat zu einem Stammtisch mit einem noch merkwürdigeren Namen eingeladen.
    "Kunsthasserstammtisch – geschimpft wird am Kunsthasserstammtisch nie ... Kritik üben wir, in dem Sinne, dass man etwas anderes macht, als sich ästhetische Realisate in einem weißen Ausstellungsraum anzugucken."
    Jan Holtmann, Initiator des Kunsthasser-Abends, hat ein paar Kilo Topinambur-Knollen besorgt und dazu den Philosophen Harald Lemke als Referenten eingeladen. Und der tritt gleich vor sein Publikum, um klarzumachen, dass seine Berufsbezeichnung korrekt nicht Philosoph, sondern Gastrosoph sei.
    "Gastrosophie ist ein Synonym für eine philosophische Beschäftigung mit den globalen Ernährungsverhältnissen. Es gilt dabei, alle Aspekte, die in die Ernährungsfrage hineinspielen, in den Blick zu bekommen.... Und das ist Gastrosophie."
    Und dann streut er zum geistigen Warmlaufen der Kunsthassergemeinde zunächst vier Thesen über die Wechselwirkung von Kunst und Kulinarik in die Runde:
    "Essen kann Kunst sein.
    Kunst kann Essen sein.
    Essen muss nicht schmecken , wenn es Kunst ist.
    Aber Essen in der Kunst darf auch schmecken."
    Statt diesen schwer verdaulichen Thesen im Diskurs auf den Grund zu gehen, widmet man sich dann aber lieber den praktischen Seiten der Ästhetik des Essens. Alle Teilnehmer werden zunächst kostümiert, als wären sie für die Frühschicht in einem Gemüseverarbeitungsbetrieb eingeteilt.
    "Jeder hat ein Tischgedeck, bestehend aus einer Einwegschürze, einer Kochmütze, Handschuhen, also Kochhandschuhen und einem Messer und einem Untersatz ..."
    Und in dieser Vollverkleidung beginnen die Teilnehmer, Topinambur-Knollen zu schälen und die werden mit wenigen weiteren Zutaten zu einer exquisiten Suppe gekocht: Wohlschmeckend; politisch korrekt, weil vegan, und alles andere als ein Luxus-Süppchen für Besserverdienende.
    "Eigentlich ist die Idee, dass man gemeinsam isst"
    Zeit für den Gastrosophen, das dritte Thema des Abend anzuschneiden. Das Buch "Utopia". Ein historisches Werk, das Thomas Morus vor genau 500 Jahren schrieb. Ein aufrüttelnder Text, ein revolutionäres Manifest, das die Obrigkeit verunsicherte und den Unterdrückten Mut machte. Denn Morus verlangte nicht weniger als "die Abschaffung des Privateigentums, Verkürzte Arbeitszeit. Morus fordert sechs Stunden am Tag maximal. Aber dann auch Gemeinschaftsküchen... Eigentlich ist die Idee, dass man gemeinsam isst."
    Und hier schließt sich der Kreis von der Topinambur-Suppe, serviert in Hamburg St. Pauli anno 2016, zu dem Morus-Manifest von 1516. Morus' Utopie eines besseren Lebens ging einher mit der Entdeckung neuer Welten, und damit auch neuer Genüsse, u.a. der Topinambur Knolle, die jetzt wieder entdeckt wird. Die Utopie einer besseren Welt, einer klassenlosen Gesellschaft, ist nach wie vor eng verbunden mit dem Zugang aller Menschen auf allen Kontinenten zu ausreichender Nahrung. Nachzulesen beispielsweise in den Milleniumszielen der UN. Was müsste die Menschheit essen und was ändern und wie müsste sie leben, um die real existierende kannibalische Weltordnung des Kapitalismus hinter sich zu lassen?
    Harald Lemke:
    "Dass wir uns mehr Zeit nehmen für etwas, was gar nicht so unwichtig ist. Wir tendieren dazu ,es zu vernebensächlichen und so schnell, schnell fastfoodmäßig zu behandeln. Und die Utopie ist eben, dass wir uns eben mehr Zeit nehmen, und das findet hier in der Veranstaltung statt. Und dass wir hier jetzt Topinambur Knollen kochen, hängt damit zusammen, dass das eben so eine neue Welt ist, auch der Lebensmittel. "Natürlich kann man sich relativ gesund ernähren, aber das steht nicht im Vordergrund eines guten Essens. Das sind dann Gerechtigkeitsfragen, Umweltfragen, Geschmacksfragen, das sind die Fragen, die wichtiger sind."
    Und die natürlich nicht an einem Abend in Hamburg St. Pauli entschieden werden können. Dennoch hat das kollektive, kostümierte Agieren allen Hobbyköchen den Unterschied zwischen utopischen Visionen der Ernährungspolitik und dem problemleugnenden Palaver aus TV Kochshows deutlich gemacht. Insoweit war es ein gelungenes Happening.
    Besucher: "Ich fand es schön, dass die Gruppe in einer Uniform und dann so performativ war...."
    Besucher: "...war auch schön, so eine Gemeinschaft zu sehen, die sich mit Kochmützen und Plastikschürzen schmückt und so ein gemeinsames Event erzeugt."