Dienstag, 23. April 2024

Archiv


Philosophische Geschlechtertheorien. Ausgewählte Texte von der Antike bis zur Gegenwart

"Männlich oder weiblich ist die erste Unterscheidung, die Sie machen, wenn Sie mit einem anderen menschlichen Wesen zusammentreffen, und Sie sind gewöhnt, diese Unterscheidung mit unbedenklicher Sicherheit zu machen," schreibt Sigmund Freud in seiner Vorlesung Die Weiblichkeit. Nun sind bekanntlich Gewissheiten dieser Art, wenn es über den ersten Augenschein hinaus geht, mit großem Vorbehalt zu nehmen. Dies gilt umso mehr, wenn es sich um die vermeintlichen facta bruta geschlechtlicher Wirklichkeit handelt. Bilden deren harte facts doch facta im wortwörtlichen Sinne, d.h. sie sind etwas Gemachtes, Hergestelltes, Erzeugtes, an deren Erzeugung weniger die Natur ihren Hauptanteil hat, als dass vor allem Gesellschaft, Kultur und Geschichte die Produzentenschaft sich teilen. Hat irgend die Rede von der "zweiten Natur" ihren Sinn, dann dort, wo es um Geschlechterrealität geht, deren gesellschaftlich, kulturell und geschichtlich erzeugtes Sein besonders hartnäckig als "Natur" zu erscheinen vermag. Daher ist es nicht verwunderlich, dass erst in der Moderne, im ausgehenden 19. und vor allem im 20. Jahrhundert, sich das kritische Rüstzeug für die Destruktion solchen Scheins ausgebildet hat. In einer Zeit also, in der auch der ideologische Überbau tradierter Geschlechterverhältnisse reflexiv gebrochen werden konnte - nicht zuletzt durch die Einblicke der Psychoanalyse in die facta bruta der Geschlechterwirklichkeit des ausgehenden Bürgertums. Nun hat seit je die Philosophie nicht unbeträchtlich am theoretischen Überbau von Geschlechterverhältnissen mitgewirkt, obwohl das Thema 'Geschlecht' nicht eigentlich zu den philosophischen Grundthematiken zählt.

Astrid Nettling | 05.03.2003
    Zwar sind von Seiten der Philosophen eine Menge frauenfeindlicher Sottisen geläufig, weniger bekannt jedoch ist es, dass sie auch systematisch um das Verhältnis der Geschlechter bemüht waren. Bislang ein Desiderat ist es die beachtenswerte Leistung des vorliegenden Buches, ein solches Themenfeld nun rekonstruiert zu haben und dadurch dem Leser eine von der Antike bis in die Neuzeit reichende Tradition von Geschlechtertheorien präsent zu machen, die zwar im Windschatten des philosophischen mainstreams verlief, aber nichtsdestotrotz maßgeblich dafür zeichnete, wie der Mensch als 'Mann' und als 'Frau' jeweils geschlechtsspezifisch gefasst wurde. Für diesen erhellenden Gang durch die Tradition geben die Herausgeberinnen bzw. Autorinnen durch ihre vorbildlich verfassten Einleitungs- und Begleittexte auch einem philosophisch ungeschulten Leser einen sicheren Leitfaden an die Hand, mit dessen Hilfe er Formierung wie Wandel des Konzepts 'Geschlecht' durch die Geschichte der Philosophie genau nachvollziehen kann.

    Zudem ist es regelrecht spannend, dies an den sorgfältig ausgewählten und repräsentativen philosophischen Texten selbst mitverfolgen zu können. Es sind Texte von Platon, Aristoteles, Thomas von Aquin, Hobbes, Locke, Rousseau, Kant, Fichte, Hegel und Humboldt für die antike bis neuzeitliche Tradition, sowie Texte von Engels, Simmel, Freud, Horkheimer, Marcuse, de Beauvoir, Irigaray und Butler für die kritische Moderne bis zur Gegenwart. Denn der "gender trouble", wie es bei Judith Butler heißt, fing gar nicht einmal so turbulent an. War es doch immerhin Platon gewesen, der in seinem Dialog Der Staat von der natürlichen Gleichheit von Mann und Frau ausging. Es heißt dort: "Wenn aber ihre Besonderheit bloß darin besteht, dass das Weib gebiert und der Mann zeugt, so ist dadurch noch gar nichts bewiesen. Es gibt keine die Staatsverwaltung betreffende Beschäftigung, die der Frau als Frau oder dem Mann als Mann zukäme; vielmehr sind die natürlichen Anlagen auf ähnliche Weise unter beiden Geschlechtern verteilt, und naturgemäß hat die Frau ebenso wie der Mann Anspruch auf alle Beschäftigungen."

    Aber schon bei Aristoteles ist anderes zu lesen und das Unbehagen im Geschlechterverhältnis nahm seinen Lauf. Dennoch machen die Autorinnen deutlich, dass das eigentliche Ideologischwerden des Konzepts 'Geschlecht' an neuzeitliche Bedingungen gebunden ist. An Bedingungen nämlich, unter denen sich die bürgerliche Gesellschaft formierte und worunter trotz der grundlegenden Idee der Freiheit und Gleichheit aller Menschen jene geschlechtsspezifische "Naturalisierung" von Mann und Frau erfolgte, wodurch prinzipiell freie und gleiche Subjekte durch Geschlechtscharaktere als Männer und Frauen auf eine bestimmte Seinsweise festgelegt und in eine dieser Seinsweise gemäßen, quasi natürlichen Geschlechterordnung festgeschrieben wurden. Für die Frauen bedeutete dies den Einschluss in die enge Welt familiärer Innerlichkeit, deren 'ungesundes' Klima nicht von ungefähr Sigmund Freud dann erforschte. So ist bis in die Gegenwart kritische Theorie der Moderne, zumal feministische, an der Umsetzung der Idee von Freiheit und Gleichheit maßgeblich orientiert. Doch dann stellt sich die Frage, worauf die Autorinnen am Schluß ihrer langen philosophiegeschichtlichen Wegstrecke verweisen, inwieweit dafür ein konstruktives Konzept von 'Geschlecht' überhaupt notwendig ist. Inwieweit Geschlechtertheorien in unserer Zeit, in der Männer und Frauen ihre Lebensweisen selbstverantwortlich gestalten und sie diese zum Teil quer zu allen Naturvorgaben entwerfen, noch Sinn machen. Dies zu beantworten, wäre die Aufgabe eines neuen Buches. Vorher jedoch hat der Leser durch die vorliegende Publikation bestens Gelegenheit, die lange Tradition der Geschlechterkonstruktionen zu sichten und Aufschluss über deren veritable Fragwürdigkeit zu gewinnen.