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Philosophische Vorträge im Krankenhaus
Was an uns nagt

Im Pariser Krankenhaus Hotel Dieu halten seit Neuestem Philosophinnen und Philosophen Vorträge über Krankheit und Leid. Die frei zugänglichen Veranstaltungen des "kooperativen Lehrstuhls für Philosophie" thematisieren metaphysische und ethische Fragen der Medizin. Schon jetzt verändern die vermeintlich abstrakten Ideen den Krankenhausalltag.

Von Margit Hillmann | 25.11.2016
    Frontansicht des Pariser Krankenhaus Hotel Dieu.
    Der Austausch von Medizin und Philosophie soll Patienten und Personal zugutekommen. (AFP)
    Kurz nach 18 Uhr, im Krankenhaus Hotel Dieu: In den Rängen eines alten Amphitheaters sitzen mehrere Dutzend Frauen und Männer. - Unten am Pult, Bertrand Vergely. Der Philosoph und Theologe gehört zum mehrköpfigen Kollegenteam, das im Pariser Krankenhaus wöchentlich Philosophiekurse gibt. Er schaut auf seine Uhr, dann legt er los: mit dem dritten Teil seiner Vortragsreihe über das Christentum.
    Vergangene Woche hat er über den Körper gesprochen. Sein Thema heute Abend: Das Leiden. Vergely seziert den Begriff des Leidens, philosophiert über den spirituellen Prozess, über den Leidenskult im Christentum. Er macht Streifzüge durch die Philosophiegeschichte, zitiert berühmte Kollegen wie Kierkegaard und Pascal, die Existenzialisten Sartre und Camus.
    "Die klassische, rationalistische Metaphysik sucht nach Beweisen einer spirituellen transzendenten Welt, will sie rationell erklären. Für die Denker des Existenzialismus ist dieser Ansatz zum Scheitern verurteilt, widerspricht dem Wesen der Philosophie selbst. Camus hat es vorausgeahnt, als er erklärt: Das einzige Problem der Metaphysik und der Philosophie ist zu wissen, ob das Leben wert ist, gelebt zu werden, oder nicht."
    Nicht einfach, aber hilfreich
    Zwei Stunden dauert die Vorlesung. Schwerverdaulicher Stoff für die Laien in den Rängen. Doch bleiben alle Veranstaltungsteilnehmer bis zum Schluss, viele haben während des Kurses eifrig mitgeschrieben.
    "Ich bin Krankenpflegerin", sagt eine Frau, die die Vorlesung besucht hat. "Ich möchte meine Arbeit und das Leben besser verstehen. Die Philosophiekurse sind interessant, aber doch ziemlich kompliziert."
    Eine andere Besucherin meint: "Ich habe als Patientin viel Zeit im Krankenhaus verbracht und das wird auch so weitergehen. Ich finde es gut, dass man hier kluge Köpfe treffen kann, die uns helfen, das Leben besser zu begreifen. Und auch schwierige Themen wie Leiden oder Tod. Ich denke viel über diese Dinge nach. Es nagt an mir. Ich kann nachts oft nicht schlafen."
    "Der Philosophie-Lehrstuhl am Krankenhaus ist eine spannende Sache", sagt ein Mann, der bei dem Vortrag dabei war. "Ich bin Mitglied eines Patienten-Vereins und selbst krank. Die Kurse helfen mir auch, die richtigen Worte für Gespräche mit Kranken zu finden. Da ist man doch immer wieder von Gefühlen überwältigt, hat Mühe sich auszudrücken."
    Neue Perspektiven für Angehörige und Krankenhauspersonal
    Die Philosophie sei keine Wunderwaffe, relativiert Bertrand Vergely am nächsten Tag bei einem Tee in seiner Pariser Stammbrasserie. Und doch ist er überzeugt, dass seine Philosophiekurse im Krankenhaus besonders sinnvoll sind. Zum Beispiel für Angehörige oder Vereine, die sterbende Menschen im Krankenhaus oder zuhause begleiten wollen.
    "Die Philosophie erlaubt ihnen, sich mental zu befreien", meint Vergely. "Wer einen Sterbenden begleiteten will, muss sich völlig freimachen von Klischees, Vorurteilen und festen Vorstellungen über den Ablauf. Dafür muss man an sich arbeiten. Und da ist die Philosophie sehr hilfreich."
    Im Klinikalltag soll die Philosophie hilfreich sein.
    Im Klinikalltag soll die Philosophie hilfreich sein. (AFP)
    Aber auch das Krankenhauspersonal brauche dringend Nachhilfe: Ärzte und Schwestern seien permanent mit Situationen konfrontiert, auf die sie ihre Ausbildung nur technisch vorbereitet hat. Menschlich, so die Erfahrung des Philosophen, seien die meisten überfordert.
    Das Krankenhaus selbst verändern
    "Die wissenschaftlich-objektive Sichtweise allein reicht nicht aus. Die Möglichkeiten der Medizin sind begrenzt. Leiden und Tod müssen psychologisch, philosophisch, spirituell und ethisch angegangen werden. Das ist keine neue Erkenntnis. Die ganze Philosophie der Antike hat sich damit beschäftigt: Wie Leiden und Tod begegnen? - Mit Weisheit und Akzeptanz. Das gilt auch für uns. Aber es ist noch schwieriger geworden, weil wir heute in einer Welt der Aktion, des Beherrschens leben. Für die Mediziner ist der Tod immer eine Niederlage."
    Öffentliche Philosophiekurse und -seminare als Orientierungshilfe und Forum für metaphysische und ethische Fragen - die Idee funktioniert. Das Amphitheater ist jede Woche gut gefüllt, und auch Forschungseinrichtungen und Gesundheitspolitiker interessieren sich inzwischen für das ungewöhnliche Projekt. Aber das Brainstorming mit den Philosophen soll auch das Krankenhaus selbst verändern: menschlicher und demokratischer soll es werden. Statt die Patienten auf ihre Krankheit zu reduzieren, müsse das Krankenhaus lernen, sie zu respektieren, sie als mündige Akteure ihrer Heilung akzeptieren. Soizic Bertrand, Pressesprecherin des kooperativen Philosophie-Lehrstuhls:
    "Ich glaube, die Krankenhäuser werden gezwungen sein, irgendwann umzudenken. Nicht alle sind für das Thema sensibel. Aber wenn man sieht, wie viele Leute sich für diese Themen interessieren, darunter sehr viel Krankenhauspersonal - dann weiß man, dass sich da etwas tut. Sie merken, dass es mit dem Krankenhaus so nicht weitergeht, dass es sich ändern muss."