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Physikunterricht
Schülerinnen werden benachteiligt

Selbst bei gleicher Leistung bekommen Schülerinnen in Physik schlechtere Noten als ihre männlichen Mitschüler, wenn sie von Berufseinsteigern benotet werden. Das hat die Lernforscherin Sarah Hofer von der ETH Zürich herausgefunden. Um gegenzusteuern, könnte man objektivere Verfahren wie Multiple-Choice-Tests einsetzen, sagte Hofer im DLF.

Lernforscherin Sarah Hofer im Gespräch mit Michael Böddeker | 13.01.2016
    Schülerinnen und ihre Lehrerin beugen sich über ein Tablet
    Schülerinnen werden in Physik schlechter beurteilt als ihre männlichen Mitschüler, so eine Studie. (imago / Westend61)
    Michael Böddeker: In Physik bekommen Schülerinnen oft schlechtere Noten als ihre männlichen Mitschüler. Aber – sind sie wirklich schlechter oder werden sie vielleicht unfair benotet, weil die Lehrer ihnen weniger zutrauen? Eine neue Studie der ETH Zürich deutet auf eine ungerechte Benotung hin. Autorin der Studie ist Lernforscherin Sarah Hofer. Mit ihr habe ich gesprochen und gefragt, wie das Experiment aussah. 780 Physiklehrer aus Deutschland, der Schweiz und Österreich waren beteiligt und haben im Rahmen der Studie Schülerarbeiten bewertet. Was haben diese Lehrer zum Korrigieren und Zensieren bekommen?
    Sarah Hofer: Wir haben ihnen eine Frage aus dem Bereich der klassischen Mechanik und eine Antwort eines Schülers beziehungsweise einer Schülerin, also eines fiktiven Schülers sozusagen. Diese Antwort war zum Teil korrekt und zum Teil falsch, also eine mittelmäßige Leistung, und diese Antwort war vor allem immer genau dieselbe. Was wir dann variiert hatten in einem kleinen Einleitungstext, war, ob wir von einer Schülerin oder einem Schüler gesprochen haben. Das war eigentlich die einzige experimentelle Variation, die wir eingeführt haben.
    Böddeker: Anschließend haben Sie dann die korrigierten und benoteten Arbeiten zurückbekommen und ausgewertet – was kam dabei heraus?
    Hofer: Es zeigte sich, dass bei Lehrpersonen mit weniger als zehn Jahren Lehrerfahrung ein Unterschied in der Benotung von Schülerinnen und Schüler vorlag, und zwar zu Ungunsten von Schülerinnen. Und um ein Beispiel zu geben: Bei Lehrpersonen mit bis zu fünf Jahren Lehrerfahrung betrug dieser Unterschied zum Beispiel 0,9 Noten auf der deutschen Notenskala oder 0,7 Noten auf einer schweizerischen Notenskala, also fast eine ganze Note sozusagen.
    Zu Ungunsten von Schülerinnen - bei gleicher Leistung
    Böddeker: Gab es auch Unterschiede zwischen den Ländern?
    Hofer: Es gab von dem her Unterschiede – also ich habe Deutschland, die Schweiz und Österreich untersucht –, dass in Österreich und in der Schweiz es keine Unterschiede gab in Abhängigkeit vom Geschlecht der Lehrperson. In Deutschland allerdings zeigte sich, dass die männlichen Physiklehrpersonen keinen Unterschied machten zwischen Schülerinnen und Schülern. Da zeigte sich überhaupt kein Effekt der Benachteiligung.
    Böddeker: Die Lehrerinnen allerdings haben schon auch unfair benotet.
    Hofer: Genau, ganz ähnlich wie in der Schweiz und in Österreich.
    Böddeker: Haben Sie eine Erklärung dafür, warum es diese Unterschiede in der Bewertung gibt?
    Hofer: Ja, meine Interpretation wäre, dass, weil eben schon aus bestehender Forschung bekannt ist, dass Vorurteile oder Stereotype vor allem dann zum Tragen kommen oder eben einen Bewertungsprozess beeinflussen, wenn sich ein Beurteiler in einer Situation befindet, in der er nur sehr vage Informationen zur Verfügung hat, oder auch, in der er sehr stark kognitiv belastet ist. Und man kann sich jetzt natürlich gut vorstellen, dass eben vor allem die unerfahreneren Lehrpersonen in der Situation, in der sie jetzt eine Schülerin oder einen Schüler bewerten sollen, eben sehr stark herausgefordert werden. Sie müssen das Fachwissen parat haben, sie müssen aber auch versuchen zu verstehen, also zu interpretieren, was der Schüler jetzt mit der jeweiligen Antwort gemeint hat, also welches Wissen dahinter steckt. Also, das ist alles sehr anspruchsvoll, deswegen, mehr so eine Situation, quasi prädestiniert, dass man sich hier meistens unbewusst auf Stereotype beruft, die einem dann helfen können, ein Urteil zu fällen oder eine Entscheidung bezüglich der Bewertung zu treffen. Und mit zunehmender Lehrerfahrung wäre dann eben die Idee, dass die Lehrpersonen Strukturen, Routinen entwickeln, die ihnen dann helfen, in diesen Situationen weniger beansprucht zu sein, und für sie die Informationen auch klarer zu strukturieren, sodass es eben weniger anspruchsvoll, weniger schwierig wird.
    Man könnte auch anonymisieren
    Böddeker: Abgesehen davon, dass die Lehrerinnen und Lehrer möglichst viel Erfahrung mitbringen sollten, was könnte man noch tun, damit es fairere Noten für Schülerinnen gibt?
    Hofer: Genau. Es wäre wichtig, dass auch die unerfahrenen Lehrpersonen, also die Berufseinsteiger, gerecht bewerten. Und ich denke, eine Möglichkeit wäre natürlich, dass man bereits in der Lehrerbildung, in der Lehrerausbildung die zukünftigen Lehrpersonen einfach dafür sensibilisiert, dass jeder Mensch, also natürlich nicht nur Lehr- und nicht nur Physiklehrpersonen, Gefahr läuft, Stereotype heranzuziehen in einem Entscheidungsprozess, in einem Bewertungsprozess, dass aber eben gerade Lehrer das möglichst nicht tun sollten.
    Man könnte mit ihnen trainieren, Schablonen zu entwickeln für die Bewertung von Prüfungen, von Schülerantworten, dass sie wirklich ganz klar strukturieren, auf welche Teilantwort wie viele Punkte gegeben werden, wie man mit Flüchtigkeits-, mit Folgefehlern umgeht. Ich weiß, das sind auch Sachen, die natürlich teilweise schon gemacht werden, aber ich glaube, es wäre einfach wichtig zu betonen, dass es wirklich essenziell ist, dass in jedem Bewertungsprozess immer und klar aufgedröselt wird, zu machen. Man könnte auch dort, wo es passt, häufiger Multiple-Choice- oder Single-Choice-Fragen verwenden, die natürlich wesentlich objektiver sind und auch klarer auszuwerten.
    Die Prüfungen, wenn es geht, zu anonymisieren, vielleicht mit Identifikationsnummern arbeiten, und vielleicht auch, weil man ja häufig auch aus der Handschrift schon erkennen kann, ob es sich jetzt um eine Schülerin oder einen Schüler handelt, auch manchmal computerisiert zu testen, sodass man tatsächlich gar keinen Aufschluss dann mehr hat aus der Prüfung, ob es sich jetzt um einen Jungen oder ein Mädchen handelt. Aber wichtig wäre, glaube ich, einfach auch, die Botschaft zu vermitteln, dass die Gefahr besteht, dass es zu dieser Ungleichbewertung kommt und dass man selbst drüber reflektieren sollte und sensibilisiert dafür sein sollte, dass man dem möglichst zuvorkommt und das vermeidet.
    Böddeker: Sagt Lernforscherin Sarah Hofer von der ETH Zürich. Ihre Studie hat ergeben, dass viele Schülerinnen in Physik bei gleicher Leistung schlechtere Noten bekommen als ihre männlichen Mitschüler, wenn sie von jungen Lehrkräften benotet werden.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.