Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


Pierre oder Die Doppeldeutigkeiten

Inzwischen arbeitete Pierre noch immer an seinem Buch und wurde sich dabei mit jedem Augenblick deutlicher der äußerst unheilvollen Umstände bewußt, unter denen dieses mühevolle Werk vorankam. Und während das nun fortschreitende und sich verdichtende Unternehmen mehr und mehr geballte Anstrengung von ihm verlangte, spürte er, daß er immer weniger und weniger daranzugeben hatte. Denn Pierres entschiedenes Unglück war nicht allein, daß er sich, wenn auch nur durch einen Zufall, in der Stunde geistiger Unreife unversehens zu dem Versuch hatte anstacheln lassen, ein reifes Werk zu schaffen (...), er hatte sich darüber hinaus in der Stunde seiner schreienden Mittellosigkeit auch dazu anstacheln lassen, ein langes und in der Ausführung zeitaufwendiges Unternehmen zu beginnen, das ganz und gar nicht darauf berechnet war, am Ende einen finanziellen Gewinn zu bringen. (...) Auf die Dauer brachten ihn die häuslichen Bedürfnisse - Miete und Brot - so sehr in Verlegenheit, daß er, ob er wollte oder nicht, die ersten Seiten in den Druck geben mußte; und so kam noch eine weitere Drangsal hinzu, denn nun diktierten die bereits gedruckten Seiten das weitere Manuskript und sagten zu allen folgenden Gedanken und Einfällen Pierres: Auf die und die Weise, so und nur so, sonst paßt es nicht. Darum war sein Buch schon beschränkt, gefesselt und der Unvollkommenheit überantwortet, noch ehe es zu irgendeiner klaren Form oder einem Abschluß gelangt war.

Klaus Modick | 11.01.2003
    Im derart unter innerem und äußerem Druck produzierenden Schriftstellers Pierre hat Herman Melville ein kaum verschlüsseltes Selbstportrait geliefert. Es zeigt den Autor des "Moby-Dick" bei der Arbeit an jenem Roman, auf den sich heute, vor allen anderen seiner Werke, sein Ruf als ein Urvater der literarischen Moderne gründet. Die Tinte auf dem Manuskript des "Moby-Dick" war noch naß, da ging es schon in Druck, und die Druckerschwärze war kaum getrocknet, da hagelte es bereits Verrisse. Melville freilich, gespannt zwischen die Pole selbstverzückten Größenwahns über die erbrachte Leistung und ohnmächtiger Einsicht in die Defizite des Vollbrachten, legte unverzüglich nach. Er befand sich, wie stets während seiner kurzen Karriere als Romancier, in einem exaltierten Schaffensrausch, aber auch in einer materiellen Zwangslage. 1851 war der gewaltige "Moby-Dick" erschienen, ein Jahr später folgte schon der gleichfalls voluminöse Roman "Pierre or the Ambiguities", "Pierre oder Die Doppeldeutigkeiten" also. Was es mit dem rätselhaften Untertitel auf sich hat, werden wir sehen. Als vexiertes Selbstportrait Melvilles hätte das Werk durchaus auch "Pierre or The Making of Moby-Dick" heißen können, legt es doch andeutungsweise dessen äußere, explizit und detailliert jedoch dessen innere Entstehungsbedingungen frei, wirft Licht auf die Seelenlandschaft des Autors. "Pierre" zeigt unter anderem, wie Melville, im Rausch des Gelingens und der damit untrennbar verknüpften Panik des Scheiterns, im "Moby-Dick" schon den Keim von "Pierre" wittert, wie das eine Werk sozusagen bereits seinen Nachfolger träumt.

    Was jetzt Pierres Zeit und Leben frißt, ist nicht das Buch, sondern es sind die schlichten Anfangsgründe der Bändigung jener seltsamen Dinge, die, während er versucht, das Buch zu schreiben, in seiner Seele aufgewallt und emporgesprudelt sind. Zwei Bücher sind im Entstehen, von denen die Welt nur eines sehen soll, und obendrein noch das verpfuschte. Das größere und unendlich viel bessere Buch ist für Pierres eigenes, privates Bücherregal bestimmt. Dies ist dasjenige, dessen unauslotbare Sehnsucht ihm das Blut aussaugt; das andere fordert bloß seine Tinte. Doch die Umstände haben es so gefügt, daß er das eine nur dann zu Papiere bringen kann, wenn er das andere in seiner Seele niederschreibt.

    Indem Melville "Pierre" publizierte, gewährte er also der Leserschaft Zugriff auf sein privates Bücherregal, man könnte auch sagen: in den Giftschrank, öffnete Herz und Seele - ein riskanter Akt der Selbstentblößung, der zum Skandal wurde und Melvilles, durch "Moby-Dick" bereits angeschlagene, Reputation in der literarischen Welt ruinierte. Er wußte durchaus, auf was er sich da einließ, und hatte sich auch alle Mühe gegeben, seinen bekenntnishaften Seelenstriptease allegorisch zu drapieren und durch eine gefällige Oberfläche halbwegs schicklich zu machen. Wie nämlich über den unauslotbaren Abgründen des "Moby-Dick" die Firnis eines handfesten Seeabenteuers liegt, so klebt über den nicht minder unauslotbaren Doppeldeutigkeiten von "Pierre" der zähe Lack einer Familien- und Ehegeschichte, den Melville mit dem breiten Pinsel der Kolportage reichlich dick auftrug. Das für heutige Leser peinlich pathetische Melodrama erzählt vom reichen Gutserben Pierre, einem idealistischen Brausekopf, der mit der hübschen, lebenspraktischen Lucy verlobt ist, sich jedoch in die märchenhaft geheimnisvolle, bedrohlich schöne Isabel verliebt. Da diese sich als uneheliche Tochter von Pierres früh verstorbenem Vater ausgibt, stürzt sie ihren Halbbruder Pierre in einen Malstrom moralischer und psychologischer Konflikte. Er versucht, den gordischen Beziehungsknoten zu lösen, indem er mit Isabel nach New York flieht, wo er sich erfolglos als Schriftsteller zu etablieren versucht, hat jedoch die Rechnung ohne Lucy gemacht. Die nämlich springt gleichfalls über sämtliche Schatten der Konvention und folgt den beiden Durchgebrannten in die Stadt, wo sich eine verhängnisvolle ménage a trois entwickelt, die mit viel Theaterdonner in einer blutigen Katastrophe endet. Es ist verständlich, daß das zeitgenössische Publikum das Anstößige dieses Romans in der trivialen Lackschicht entdeckte; zwar kleidet Melville die scheinbar realen Vorgänge in immer neue, allegorische Schleier, zwar bleibt ganz offen, ob der Inzest überhaupt vollzogen wird, zwar werden die drei Beteiligten vom kommentierenden Autor mit sämtlichen Skrupeln, Entrüstungen und Bedenken überschüttet, die ein solcher Doppel-Skandal im puritanischen Weltbild produzieren mußte - das Undenkbare blieb, wie melodramatisch auch immer gepolstert, dennoch ausgemalt, blieb dennoch gedacht, durchdacht bis in die letzten Winkel dessen, was Psychologie zur Mitte des 19. Jahrhunderts überhaupt denken ließ. Selbst wenn nicht auszuschließen ist, daß Melville sich hier an einem Stoff abarbeitete, der als unbestätigtes Gerücht einer unehelichen Tochter des Vaters kolportiert wurde, bleibt doch der vermeintlich skandalöse Stoff lediglich Vorhang vor dem tatsächlichen Konflikt, mit dem Melville lebte und der, wäre er seinerzeit dechiffriert worden, noch größeren Skandal gemacht hätte. Da dieser Konflikt nicht auszuleben war, schrieb er sich ihn mit "Pierre" von der Seele. Denn in einer problembeladenen, neurosenträchtigen ménage a trois steckte Melville in der Tat. Als Ehemann und Familienvater hatte er nämlich die moralische Korrektheit puritanischer Konformität zu exerzieren und seine Homosexualität zu unterdrücken. Als Ventil, diesen Neigungen zumindest phantasmagorisch nachgehen zu können, blieb ihm nur das Schreiben.

    Pierre, die Lippen, die jetzt zu dir sprechen, berührten nie die Brüste einer Frau; es scheint, als sei ich nicht von einer Frau geboren.

    Mit solchen und ähnlichen, eindeutig männlich kodierten, Wendungen und Attributen staffiert Melville die geheimnisvolle Isabel unermüdlich aus. Als Mensch aus Fleisch und Blut, als realistische Figur, ist sie sowieso nicht angelegt, sondern als gleichnishaftes Phänomen, als Projektionsfläche homosexueller Wünsche. Zugleich verkörpert Isabel als nahezu unstoffliche, romantische Feengestalt innerhalb einer von Rationalität geregelten Gesellschaft die Freiheit der Kunst. Das Geheimnis Isabels besteht also in jenem Punkt, an dem sexuelles Begehren und künstlerisches Schaffen sich wechselseitig bedingen beziehungsweise kompensieren.

    Solche bestürzenden Gedanken bedrängten ihn und schlugen wie klatschende Wellen an die verborgendsten Geheimnisse seiner Seele, und rechts und links von sich spürte er Isabels und Lucys körperliche Gegenwart; was Pierre fühlte, läßt sich in keine gebräuchlichen Worte übersetzen.

    Aus dieser Not des Ausdrucks gebiert der Roman nun jenen, wie es einmal heißt, "Dunst von Doppeldeutigkeiten", der den Untertitel ausmacht und den Text auf allen Ebenen durchdringt.

    All jene unaussprechlichen Andeutungen und Doppeldeutigkeiten und unbestimmten halben Ahnungen, die mitunter den Äther der Seele so dicht bevölkern wie Schneeflocken in einem sanften, beständigen Schneesturm die Luft. (...) Nach allen Seiten verschob sich die greifbare Welt der festen Körper rings um ihn her, und Pierre entglitt in eine Luftwelt aus Visionen.

    Hier bringt Melville den flüssigen Kern des ganzen Unternehmens, der unter dem Lack der Handlung glüht, auf den Begriff. "Pierre" entpuppt sich als groß angelegter Versuch, das Seelenleben nicht nur eines Menschen, sondern die Regungen der menschlichen Seele als solche zu sezieren und in all ihren Verästelungen freizulegen. Es geht nicht um Pierre oder Lucy oder Isabel, es geht ums Ganze, und Melville geht aufs Ganze.

    Nicht alles wissen, heißt nicht alles lieben.

    Melvilles "Pierre" ist insofern auch ein amerikanischer Faust, einer, der wissen will, was die Welt und das inkommensurabele Individuum im Innersten zusammenhält.

    Es geht um alles; es geht um die ganze Welt. (...) Es geht um Himmel und Erde.

    Diese Worte, mit denen Pierre Einlaß bei einem Moralprediger fordert, sind das hybride Programm des Romans. Wenn es Robert Musil, zu dessen geistigen Ahnen Melville gehört, darum zu tun war, die Emotionalität im Rationalen und das Rationale im Gefühl aufzuspüren, geht Melvilles Versuch einer Kreisquadratur noch darüber hinaus. Er nämlich will jede Regung des menschlichen Geistes und Gefühls auf ihre Ursprünge zurückverfolgen und macht dabei die Entdeckung, daß hinter jeder Tatsache ein Rätsel steht, hinter jeder Antwort neue Fragen lauern und jede scheinbare Eindeutigkeit ein unendliches Unterfutter an Doppel- und Mehrdeutigkeiten aufweist.

    Uns Schriftstellern sind alle unsere Bücher vorbestimmt, - und was mich betrifft, so werde ich die Dinge schreiben, die der Große Verleger der Menschheit seit Ewigkeiten vorausbestimmt hat, bevor er die Welt veröffentlicht hat, unseren Planeten meine ich.

    Diesem hybriden, durch Ironie nur matt gemilderten Drang aufs große Ganze, der alles mit allem verknüpft sieht und den Autor zum Sprachrohr des Allmächtigen erklärt, korrespondiert Melvilles Sprache. Aus jeder denkbaren Disziplin, aus jedem Assoziationsfeld, bricht er sich seine Metaphern, Vergleiche und Bilder, wodurch eine hemmungslose Stilmelange entsteht, keine stilistische Kohärenz. Und auch die kein Ende findenden Satzungetüme, gegen deren syntaktische Sperrigkeit Prousts Konstruktionen leicht durchschaubaren Gebilden gleichen, nähren sich aus diesem rigorosen Alles oder Nichts. Zu erzählen, narrativ in Handlung und Plot aufzulösen, war Melvilles erkenntniskritischer, wahrnehmungstheoretischer, metaphysisch aufgeladener Furor nicht. So wurde ihm "Pierre" unter der Hand zu einem allegorischen Roman-Essay über Fragwürdigstes und kommt über weite Strecken zügellos mystagogisch daher, prunkend pathetisch, überkandidelt hysterisch manchmal, vermessen bis durchgeknallt. Das, und nicht der scheinbare Skandal in Sachen Moral, macht Melvilles Scheitern auf höchstem Niveau aus und provozierte das bedenkliche Kopfschütteln im Kreis anderer Schriftsteller. D. H. Lawrence bemerkte treffend:

    Man wird dieses grand serieux herzlich müde. Irgend etwas stimmt damit nicht. Und dieses Etwas ist Melville selbst. Oh je, wenn der feierliche Esel dröhnt! dröhnt! dröhnt!

    Das, was an der Sache nicht stimmt, hat Rolf Vollmann allgemeiner gefaßt und subtiler gezeigt, zugleich aber die Schwäche des Romans "Pierre" mit dem unbestrittenen Genie Melvilles verrechnet.

    Es wiegt beim Lesen der Eindruck einer grausig umständlichen Seherei und Lehrhaftigkeit vor - also genau das, was kein Romanleser in Büchern will (...), und ihn schmerzt das alles um so mehr, je wunderbarer er die Bücher gerade dieser Autoren sehr oft findet; wir möchten nicht gern sehn, in welchen grauenhaften Verstiegenheiten des Geistes und der Seele mitunter Autoren zu Hause waren, die so überwältigend Licht auf die Welt geworfen haben; wir fragen uns dann mit einem gewissen Zaudern, ob denn jene Verstiegenheiten mit zu dem Stoff gehört haben, deren Verbrennen dieses Licht erzeugt hat. Die Antwort geben zum Glück die Autoren immer selbst, wenn sie, etwa (...) Melville im ‚Moby Dick', aus ihrem Geisterreich den Himmel machen, unter dem allein sich diese und genau diese große Geschichte abspielen kann.

    Wenn sich an "Moby-Dick" die Geister noch geschieden hatten, waren sich im Fall "Pierre" nicht nur geschmäcklerische Moralkritik, sondern auch intellektuell und ästhetisch belastbare Leser und Schriftsteller-Kollegen einig, daß Melville den Bogen überspannt hatte, daß er, wie Lawrence es ausdrückte, halb über Bord ging und auf der Schwelle zur Psychiatrie landete. Gleichwohl bildet "Pierre" auf dem immer noch nicht vollständig kartografierten Planeten Melville einen wichtigen, mühsam zu durchwandernden, aber interessanten Kontinent. Daß dieser schwer genießbare Klotz in einer inspirierten Neuübersetzung erscheint, verdankt sich dem anhaltenden Interesse, das Melvilles Werk, das lange vergessen und verdrängt war, inzwischen nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland erregt. Nachdem die kleine Achilla-Press Pionierarbeit geleistet hatte, indem sie Melvilles Romane "Mardi" und "Maskeraden" sowie seine überaus aufschlußreichen Reisetagebücher auf Deutsch herausbrachte, veranstaltet der Hanser Verlag eine Ausgabe Ausgewählter Werke, die mit "Moby-Dick" begann und nun mit "Pierre" fortgesetzt wird. Diese Ausgabe ist in jeder Hinsicht eine verlegerische Glanztat, vom Herausgeber Daniel Göske kenntnisreich kommentiert und vom Anglisten Hans-Joachim Lang mit einem erhellenden, übrigens erfreulich unphilologischen, Nachwort versehen. Die großartige Übersetzung von Christa Schuenke folgt den Kriterien, die auch der "Moby-Dick"-Übersetzung anlagen, nämlich "Pierre" als entschieden eigenartiges, vieldeutiges und widersprüchliches Sprachkunstwerk ernst zu nehmen.

    Dieser Vorsatz schließt die adäquate Wiedergabe der rhetorisch stark durchgeformten und der eher lyrischen Passagen, aber auch die Nachbildung des oft labyrinthischen Satzbaus, der suggestiven Wortneuschöpfungen, der kühnen, auch ungelenken Bildersprache oder der jähen Sprünge im Erzähltempus ausdrücklich ein. Der experimentelle und unfertige Charakter des Originals (...) soll auch in der deutschen Version erkennbar bleiben.

    Das derart umrissene Prinzip der Neuübersetzung macht unter der Hand deutlich, mit was für einer Zumutung dieser Roman den Leser konfrontiert. "Pierre" ist eine jener Lektüren, die uns fordern, indem sie überfordern, ermutigen, indem sie zumuten. Es ist ein Roman, der nicht zu verstehen, aber zu lesen ist, nicht eingesehen, sondern nur angesehen werden kann. Wer sich mehr für Fragen als für wohlfeile Antworten interessiert, lese Herman Melvilles "Pierre oder die Doppeldeutigkeiten".