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Pillen für Straftäter
Psychopharmaka können Rückfallquote senken

Haben die Psychopharmaka, die ein freigelassener Straftäter nimmt, Einfluss auf seine Rückfallwahrscheinlichkeit? Eine heute erschienene Studie befasst sich mit dieser Frage. Die Bilanz der Forscher fällt vorsichtig positiv aus - anders als bei psychotherapeutischer Behandlung.

Von Maximilian Schönherr | 02.11.2016
    Ein Insasse der Justizvollzugsanstalt (JVA) Leipzig blickt durch die Gitterstäbe
    Bestimmte Psychopharmaka haben Einfluss auf die Rückfallquote straffällig gewordener Menschen, so eine neue Studie. (picture alliance / dpa/ Sebastian Willnow)
    Professor Seena Fazel arbeitet oben auf dem Berg, wo die Psychiatrie der Oxforder Universität thront. Im klinischen Alltag betreut er Strafgefangene mit psychischen Störungen. Unter anderem verschreibt er ihnen Psychopharmaka. Es gibt fünf Klassen dieser Medikamente, deren Wirkung weitgehend bekannt ist, wo sich aber bisher niemand fragte, welchen Einfluss sie auf das Leben der Täter nach ihrer Entlassung aus der Haft haben. Vielleicht gar keine?
    Doppelblindtests könnten diese Frage beantworten, aber sie sind gerade im Gefängnisbereich schwer durchzuführen, vor allem auch nicht im großen Stil. Seena Fazel griff stattdessen auf eine für die Forschung frei zugängliche riesige Datenbank zurück, die des schwedischen Nationalregisters:
    "In den letzten zehn Jahren wurden 22.000 Straftäter aus schwedischen Gefängnissen entlassen. Wir haben jeden über mehr als vier Jahre beobachtet. 18 Prozent wurden rückfällig."
    Verminderte Rückfälligkeit bei drei von fünf Psychopharmaka-Klassen
    Natürlich hat der Psychiater nicht 22.000 Entlassene "beobachtet", sondern er wertete die anonymisierten Daten aus der schwedischen Datenbank aus. Seit nicht allzu langer Zeit werden dort auch Rezepte erfasst, die schwedische Bürger von Ärzten ausgestellt bekommen. Kaum waren die Daten da, entwickelte Fazel ein stochastisches Modell und stellte diesem seine konkrete Frage: Haben die Medikamente, die ein freigelassener Straftäter nimmt, einen Einfluss darauf, ob er rückfällig wird oder nicht?
    "Wir fanden heraus, dass drei Klassen von Psychopharmaka bewirkten, dass die Entlassenen seltener Straftaten begingen. Bei den beiden anderen Medikamentenklassen blieb die Rückfälligkeit dagegen unverändert. Die drei Typen, die zu verminderter Rückfälligkeit führten, sind Neuroleptika, Stimulanzien sowie Medikamente gegen Suchterkrankungen."
    Neuroleptika dienen dazu, die Ängste von Personen, die unter Schizophrenie leiden, zu dämpfen. Psychostimulanzien kommen etwa bei ADHS-Patienten zum Einsatz, und Medikamente gegen Suchterkrankungen wie Methadon helfen den Menschen, von Heroin herunterzukommen:
    "Am Kontroversesten sind die Psychostimulanzien, die man Menschen mit Aufmerksamkeitsdefiziten oder Hyperaktivität verschreibt. Es gibt bei den Ärzten speziell im Gefängnisalltag Zurückhaltung gegenüber diesen Drogen, weil sie bei Gefangenen begehrt sind und damit Handel getrieben wird.
    Unsere Daten belegen, dass die Psychostimulanzien, richtig verschrieben, durchaus einen positiven Effekt nach der Entlassung haben können."
    Professor Seena Fazel vom Department für Psychiatrie der Universität Oxford
    Professor Seena Fazel und seine Kollegen konnten bei drei von fünf Psychopharmaka-Klassen positive Auswirkungen auf die Rückfallquote feststellen. (Maximilian Schönherr)
    Psychotherapeutische Behandlung führt nicht zu Senkung der Rückfallquote
    Die Studie zeigt Konsequenzen auf, an die kein Psychiater bisher dachte. Ein Zusammenhang zwischen bestimmten Medikamenten und einer Abnahme der Rückfälligkeit von Tätern war bisher nicht bekannt. Auch nicht, dass zwei Medikamentenklassen keine Auswirkungen darauf haben, ob der Entlassene wieder eine Straftat begeht oder nicht. Diese beiden Klassen sind Stimmungsstabilisierer wie Lithium, und Antidepressiva:
    "Dass sich Antidepressiva nicht positiv - aber eben auch nicht negativ - niederschlugen, liegt vermutlich daran, dass Menschen mit Depressionen sowieso nicht zur größten Risikogruppe gehören, einfach weil sie weniger zu Gewalttätigkeit neigen.
    Wir haben uns auch Untergruppen angesehen, schwere und leichtere Gewaltverbrechen. Das Muster war immer dasselbe. Die Studie blieb konsistent.
    Ein kleinerer Teil unserer Arbeit beschäftigt sich mit der Frage, ob es Auswirkungen auf die Rückfälligkeit hat, wenn ein Strafgefangener in der Haft eine psychotherapeutische Behandlung bekommt. Wir konnten dadurch aber keine Senkung der Rückfallquote feststellen."
    Mit diesem Nebenergebnis stellt die zusammen mit dem Wellcome Trust an der Universität von Oxford durchgeführte Studie ein ganzes Förderungssystem infrage.
    "Psychotherapeutische Programme werden schließlich in jedem Gefängnis angeboten, das etwas auf sich hält. Ihre Wirkung ist unbestritten, aber ihre Auswirkungen auf Rückfälligkeit sind, wie wir jetzt wissen, gleich Null."
    Seena Fazel hält seine im Journal of the American Medical Association JAMA veröffentlichte Arbeit für einen soliden Start, dem aber Praxisstudien folgen müssen.