Kerstin Decker: "Franziska zu Reventlow. Eine Biografie"

"Sie hatte Witz, Ironie und Eros"

Portrait der Schriftstellerin und Malerin Franziska zu Reventlow (1871−1918), aufgenommen um 1905 in München
Portrait der Schriftstellerin und Malerin Franziska zu Reventlow (1871−1918), aufgenommen um 1905 in München © dpa / picture alliance / IBA-ARCHIV
Von Bettina Baltschev · 25.08.2018
Sie malte und schrieb – verdiente ihr Geld aber mitunter als Prostutuierte. Die Welt hat Franziska zu Reventlow vergessen. Die Philosophin und Journalistin Kerstin Decker hebt sie nun wieder aufs Podest.
Die Philosophin, Journalistin und Autorin Kerstin Decker hat bereits einige biografische Bücher geschrieben, vor allem über eigensinnige Frauen in Zeiten, in denen Eigensinn keine Eigenschaft war, die man von Frauen erwartete. So hat sie sich unter anderem der Malerin Paula Modersohn-Becker gewidmet, der Schriftstellerin Lou Andreas-Salomé und zuletzt Elisabeth Förster-Nietzsche, der Schwester von Friedrich Nietzsche. Und auch in Kerstin Deckers neuem Buch steht wieder eine eigenwillige und selbstbewusste Frau im Mittelpunkt, deren Todestag sich Ende Juli zum 100. Male jährte: die Malerin und Schriftstellerin Franziska zu Reventlow.
Was fängt man an, wenn man 1871 in Husum geboren wird, als landadlige Tochter mit einem Namen, der für ein ganzes Mädchenpensionat reicht? Man ergibt sich artig den Verhältnissen oder man rebelliert und nennt sich um. Und so kommt es, dass Fanny Liane Wilhelmine Sophie Auguste Adrienne Comtesse zu Reventlow mit Anfang 20 vor allen Einhegungsversuchen flieht und als Franziska zu Reventlow München erreicht. Genauer gesagt Schwabing, das zu jener Zeit als "Weltvorort des Geistes" gilt und dem sie Jahre später ein literarisches Denkmal setzen wird. Denn erst hier beginnt ihr eigenes, ihr eigentliches Leben, das Kerstin Decker in ihrer Biografie ausdrucksvoll und bildreich nachzeichnet.
Buchcover: Kerstin Decker: " Franziska zu Reventlow. Eine Biografie", im Hintergrund ist ein geschwungenes Treppenhaus zu sehen
Wie sich die landadlige Tochter aus Husum vom Elternhaus befreite, beschreibt Kerstin Decker in "Franziska zu Reventlow. Eine Biografie".© Buchcover: Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, Hintergrundfoto: imago/Plusfoto
Dabei richtet sie ihren Blick vor allem auf die Beziehungen der Landadelstochter zu den Männern, denn davon gibt es viele. Ein wichtiger unter ihnen ist Ludwig Klages, der sie in die Münchner Bohème einführt. Über ihre erste Begegnung heißt es:
"Währenddessen reden sie, jemand macht den Vorschlag, zusammen ins Schwabingerbräu zu gehen, und dort bleiben sie sitzen bis spät in die Nacht, der vom Schicksal angefasste Chemie-Student der Gräfin gegenüber, gebannt von ihren Augen, in denen man ertrinken kann, wie er sofort bemerkt, von ihrem Lachen, bei dem es sich um eine entfernte Verwandte der Erlösung handeln muss, und von ihrer Stimme. Aber in welcher Reihenfolge? Später wird er sich so festlegen: die Stimme zuerst!"
Und was schreibt Franziska zu Reventlow über diesen Abend in ihr Tagebuch?
"Gott, das ist endlich etwas ganz anderes, wie aus einer neuen, aber längst bekannten und vertrauten Welt."

Witz, Ironie und Eros

Geschickt flicht Kerstin Decker Zitate aus den ausführlichen Aufzeichnungen ihrer Protagonistin in ihren eigenen Text ein und scheut sich auch nicht, deren literarische Werke wörtlich zu nehmen. Wobei das Schreiben zunächst noch eine Passion ist, von der sich träumen, aber nicht leben lässt. Weil Franziska zu Reventlow mit ihrer wohlhabenden Familie gebrochen hat und auch der wohlmeinende Ehemann Walter Lübke bald aufgibt sie zu unterstützen, versucht sie auf unterschiedlichste Weise Geld zu verdienen. Mal als Übersetzerin, mal als Glasmalerin, mal als Edelprostituierte im Salon der Madame X.
"Sie stellt sich als verheiratete, erotisch unterforderte Nürnbergerin vor mit starkem Bedürfnis nach finanzieller Teilselbstständigkeit. Madame X. ist der Ansicht, dass die Neue eine Chance verdient hat, für die Garderobe sorgt sie. Später wird sie dem Neuzugang geradezu Naturtalent bescheinigen."
Anrüchig erscheint Franziska zu Reventlow das nicht, schließlich schläft sie gern und oft mit den Männern, die ihr gefallen, denen sie gefällt. Von einem, dessen Namen sie nie nennen wird, bekommt sie 1897 ein Kind. Rolf wird zur überlebenswichtigen Konstante in ihrem turbulenten Leben, ihre einzige wirkliche große Liebe. Dabei steht die Mutterrolle der "Versuchsanordnung" wie Kerstin Decker diese ungewohnte Existenz an einer Stelle so treffend nennt, nicht im Wege. Im Gegenteil.
"Sie hat Witz, Ironie und Eros. Sie klagt nicht an, sie steht ganz für sich, so sehr, dass sie nie einem Mann ein Mitbestimmungsrecht überlassen würde. Die Frauenbewegung will die Männer abschaffen? Sie schafft die Väter ab, jeden paternalistischen Übergriff verbittet sie sich. Was heißt hier Schulpflicht? Sie wird sich außerstande sehen, ihr Kind einer öffentlichen Schule zu übergeben. Sie soll zuschauen, wie etwas so wunderbar Gerades wir ihr Junge verbogen, seelisch verkrüppelt wird? Niemals!"

Zeitgeister und ein unerhörtes Ansinnen

Während Kerstin Decker das wahrhaft romanhafte Leben der Franziska zu Reventlow ebenso romanhaft erzählt, versäumt sie nicht, auf den Zeitgeist am Anfang des 20. Jahrhunderts einzugehen. Auf die Kosmiker, die sie zu ihrer Ikone erwählen, auf die lebensreformatorische Siedlung am Monte Verità, dessen Ruf auch sie folgt und auf Nietzsche natürlich. Dessen radikales Denken ist zwar auch der Reventlow nicht fremd, doch in der Frauen-Frage lässt sie ihn weit hinter sich. Genauso wie die aufkommende feministische Bewegung, der sie jede Sinnlichkeit, jeden Eros abspricht. Franziska zu Reventlow will alles zu gleich sein, Heilige und Hure, Mutter und Künstlerin. Ein unerhörtes Ansinnen für eine Frau ihrer Zeit.
Und so sind es auch weniger die unzähligen bekannten oder weniger bekannten Namen der Männer, die bei ihr aus und eingehen, sind es weniger die widrigen Umstände, unter denen sie zeitweise lebt oder die Volten, die ihr Leben immer wieder schlägt, die in Erinnerung bleiben. Nein, es ist ihr unbändiger Freiheitsdrang, den Kerstin Decker in ihrer klugen Biografie als Leitmotiv verfolgt und dem offensichtlich keiner ihrer temporären Begleiter je gewachsen ist.
"Das Leben dieser Frau ist bisher vor allem als Emanzipationsgeschichte erzählt worden, als lebenslanger Kampf gegen den Schatten ihrer Mutter mit Tendenz zur erotischen Überkompensation. Das ist gewiss nicht falsch. Doch verfehlt diese Optik en eigentlichen Gestus ihrer Art, in der Welt zu sein: frei, gleichsam von Anfang an frei."

Weibliche Selbstermächtigung

Von Anfang an frei und bis zum Ende frei. Am 26. Juli 1918 erliegt Franziska zu Reventlow den Folgen eines Fahrradunfalls. Kurz zuvor hatte sie noch eine Stelle im Casino von Locarno angenommen, für zehn Franken am Tag.
Franziska zu Reventlow, Irmgard Keun, Annette Kolb, Gabriele Tergit: Es kommt wohl nicht von ungefähr, dass zwischenzeitlich fast vergessene Schriftstellerinnen in letzter Zeit wieder größere Beachtung erfahren. Das ist gut so, nicht nur, aber auch in Hinblick auf aktuelle Geschlechterdebatten. Denn in den Leben und Texten dieser Frauen steckt neben Geist und Esprit ein gesundes Maß an weiblicher Selbstermächtigung. Und die hat - fast möchte man sagen: leider - bis heute ihre Vorbildwirkung nicht eingebüßt.

Kerstin Decker: "Franziska zu Reventlow. Eine Biografie"
Berlin Verlag, 2018
384 Seiten, 26,00 Euro

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