Donnerstag, 28. März 2024

Archiv

Pippi Langstrumpf
Das stärkste Mädchen der Welt wird 70

Frech, anarchisch und unabhängig: Das Mädchen mit den roten Zöpfen ist bis heute die Heldin vieler Kinderzimmer. Astrid Lindgren hatte die Geschichte einst für ihre kranke Tochter erfunden, das erste Pippi-Langstrumpf-Buch wurde heute vor 70 Jahren veröffentlicht. "Manche Menschen sagten, so was kann man Kinder nicht lesen lassen", erinnert sich Astrid Lindgren in einem Interview, das sie 2002 dem Deutschlandfunk gab.

Astrid Lindgren im Gespräch mit Walter Ausweger | 28.01.2002
    Pippi Langstrumpf eingehüllt in einen blauen Schal.
    Frech, frei und unabhängig: Pippi Langstrumpf ist eine der weltweit bekanntesten Kinderbuchfiguren (imago)
    Walter Ausweger: In diesem Naturparadies Schweden handeln Ihre Erzählungen und Abenteuer von Karlsson, der über die Dächer fliegt, die Wald- und Wiesenkinder von Bullerbü, Michel aus Lönneberga und natürlich Pippi Langstumpf, die bekannteste Kinderbuchfigur der Welt. Wie entstand eigentlich dieser Bestseller?

    Lindgren: Ja, durch einen Zufall. Meine Tochter Karin war mal als sie sieben Jahre alt war krank. Sie hatte eine Lungenentzündung. Und sie wollte jeden Abend etwas von mir hören. Erzähl mir etwas, sagte sie immer. Und da sagte ich einen Abend: "Aber was soll ich denn erzählen?" "Erzähl mir von Pippi Langstrumpf", sagte sie. Sie erfand den Namen in diesem Augenblick und ich fragte nicht: "Wer ist Pippi Langstrumpf?", sondern ich fing an von einem Mädchen zu erzählen, das zu diesem Namen passen könnte. Und danach wollte sie nichts anderes mehr hören als von Pippi Langstrumpf. Jeden Abend. Und ihre Schulkameraden, die zu ihr zu Besuch kamen, sie sagten oft: "Erzähl von Pippi Langstrumpf!" Ich war so mit Pippi Langstrumpf ganz bekannt und ich meinte nicht, dass ich darüber etwas schreiben sollte. Aber drei Jahre später, als Karin zehn Jahre alt wurde zu ihrem Geburtstag habe ich gedacht, dass ich diese Abenteuer schreiben sollte und das Manuskript meiner Tochter geben sollte. Und das machte ich und dann dachte ich: Vielleicht könnte man das Buch zu einem Verlag senden, aber ich glaubte keine Minute, dass sie es haben wollten, und das wollten sie auch nicht, der erste Verleger. Aber zuletzt wurde es so, dass ich den ersten Preis in einem Wettbewerb bekam, und das war mit Pippi. Und so wurde es gedruckt und manche Menschen waren ja sehr entrüstet und sagten, so was kann man die Kinder nicht lesen lassen. Aber alle Kinder sagten Ja zu dem Buch und es wurde ein großer Erfolg vom Anfang an.

    Ausweger: Pippi bedeutete, so Erich Kästner, eine Revolution gegen den Dilletantismus, die Tantenhaftigkeit, die Kitschsucht, die bis dahin die Jugendliteratur prägte. Haben Sie das beabsichtigt?

    Lindgren: Ich habe nur für mein Vergnügen und für das Vergnügen meiner Tochter geschrieben, was ich schrieb.

    Ausweger: In Ihren 1975 erschienenen Erinnerungen "Das entschwundene Land" heißt es: "Es begann am 14. November 1907. Da wurde ich als zweites Kind des Landwirts Samuel August Ericsson und seiner Ehefrau Hanna in einem alten roten Haus geboren, das von Apfelbäumen umgeben war. Der Hof, auf dem wir lebten, hieß und heißt auch heute immer noch Näs. Näs ist seit 1411 ein Pfarrhof, aber mein Vater war nicht Pfarrer, sondern Pächter auf Näs wie sein Vater vor ihm und wie es sein Sohn später auch wurde. Es war schön, dort Kind zu sein." Astrid Lindgren, war diese Welt in Smaland die schönste Zeit Ihres Lebens?

    Lindgren: Ja, für mich war die Kindheit eine sehr schöne Zeit. Ich erinnere mich so genau, wie es war, und ich habe fest gestellt, dass manche Menschen sich nicht an die Kindheit, sondern nur an das Erwachsensein erinnern. Das ist glaube ich so, weil sie nicht eine so schöne Kindheit gehabt haben. Aber für mich war die Kindheit die beste Zeit. Das heißt nicht, dass ich nicht mein ganzes Leben fröhlich finde. Ich habe sehr viel Glück gehabt. Aber nichts kann so sein wie die Kindheit.

    Ausweger: Es ist eine heile Welt, es ist eine Welt der einfachen Dinge: Sommerferien und Weihnachten, Schulweg im Schnee, Kirschen pflücken, Großvaters Achtzigster. Spielt heute, wenn Sie an diese Zeit denken nicht auch Verklärung eine große Rolle?

    Lindgren: Was Sie da zitiert haben, dass ist ja eigentlich Bullerbü, wie es in Bullerbü war. Und Bullerbü ist doch ein Buch, das nicht genau meiner eigenen Kindheit entspricht. Zum großen Teil natürlich. Aber Bullerbü war Bullerbü, und mein Leben auf Näs war in Kleinigkeiten anders, in der Atmosphäre war es aber so.

    Ausweger: Ihrem Geburtsort Näs haben Sie mit dem Bestseller "Die Kinder von Bullerbü" ein literarisches Denkmal gesetzt. Diese Bullerbü-Geschichten spielen in den Jahren des ersten Weltkrieges, von dem ja Schweden als neutraler Staat verschont blieb. Astrid Lindgren, aus Erzählungen meiner Großeltern weiß ich von Hunger, Elend und Leid in jenen Kriegsjahren. War diese Zeit in Schweden wirklich die heile Welt, die Sie beschreiben, oder führt nicht auch die zeitliche Distanz zur Verklärung?

    Lindgren: Es gibt ja verschiedene Menschen. Sie können in demselben Land leben und ganz verschiedene Dinge erfahren. Meine Welt war eine heile Welt und wir hatten keinen Hunger. Mein Vater war Bauer und wir hatten immer zu Essen. Ich weiß ja, wie es war, aber für uns war es eine heile Welt die ganze Zeit. Ich habe es nicht schöner gemacht als es wirklich war, denn ich erinnere mich ja an alles sehr genau und ich sage nicht, dass ich als Kind immer nur Freude gehabt habe. Das meine ich nicht, aber es war doch eine wunderbare Welt und sehr glücklich für die Kinder, die in meiner Familie lebten. Aber es kann ja in derselben Zeit und in derselben Umgebung für andere Kinder schrecklich gewesen sein.

    Ausweger: In einem Ihrer Aufsätze über Sinn und Funktion von Kinderliteratur warnten Sie davor, private und gesellschaftliche Konflikte breit zu treten. Geht das nicht doch zu weit in Richtung Heile Welt, verschweigen Sie nicht einen wesentlichen Teil der Wirklichkeit, der hässlichen Wirklichkeit in der Großstadt, Scheidungskinder, Drogenszene und so weiter?

    Lindgren: Ich kann nur schreiben von Sachen, die ich sehr genau kenne. Ich weiß nicht, wie es ist, ein Kind von geschiedenen Eltern zu sein oder in einer Großstadt aufzuwachsen. Ich kann nur von meiner Welt erzählen, wie es damals war. Und in meinen Büchern sind doch nicht nur glückliche Kinder. Es gibt auch andere.

    Ausweger: Die literarische Welt Astrid Lindgrens ist also eine heilende Welt?

    Lindgren: Ich glaube, dass viele Kinder von mir geheilt worden sind, falls ich so was sagen kann. Sie schreiben zu mir und sagen das, was das für sie bedeutet hat, als sie klein waren. Und ich kriege ja jeden Tag viele Briefe, die dasselbe erzählen. Ich muss wohl allmählich anfangen, das zu glauben. Es kommen alte Damen und sagen: "Oh, als ich ein Kind war, da waren Ihre Bücher..."

    Ausweger: Der Kinderpsychologe Bruno Bettelheim sprach von der Kinderliteratur als Instanz, die dem Leben auf der jeweiligen Entwicklungsstufe eines Kindes einen tieferen Sinn gibt. Was kann Kinderliteratur überhaupt vermitteln? Welche Aufgabe hat Kinderliteratur?

    Lindgren: Sie kann vielleicht den Kindern klar machen, was das Leben ist, und dass es verschiedene Leben gibt, und dass man es vielleicht, wenn man es nicht in der Wirklichkeit erleben kann, es erleben kann, wenn man ein Buch liest.

    Ausweger: Die Kindererziehung stand in den vergangenen Jahrzehnten in einem heftigen Richtungsstreit zwischen der antiautoritären und der autoritären Schule. Welche Grundwerte wären wünschenswert?

    Lindgren: Demokratie und Geborgenheit, das ist es, was ich von Kinderliteratur erwarte.

    Ausweger: Unser Jahrhundert, auf das Sie, Astrid Lindgren, als Zeitzeugin zurück blicken, war nicht nur in Schweden eine sozialdemokratische Ära. Sie selbst bekannten sich zu sozialdemokratischen Grundwerten wie Geborgenheit, Gleichheit, Solidarität und Demokratie. Sie vermissen aber die Freiheit.

    Lindgren: Momentan ist die Freiheit vielleicht nicht so groß in der Partei, aber grundsätzlich ist es doch eine Partei für die Freiheit.

    Ausweger: Sind Sie zufrieden mit der Freiheit, die Sie heute haben oder wird sie bedroht?

    Lindgren: Ja, es gibt natürlich eine Freiheit, die nicht so gut ist, weil eine Menge junge Menschen die Freiheit nicht bewältigen können. Drogen und alles. Die Gewalt ist ein schreckliches Moment in der Freiheit und in unserem Leben, die man nicht haben möchte. Freiheit soll nicht erlauben, dass man die Freiheit anderer Menschen beschränkt. Freiheit bedeutet, dass man seine Meinung sagen kann und dass man wählen kann, was man will, und dass man nicht alles so machen muss wie alle anderen Menschen auch.

    Ausweger: Sie denken also auch, die Probleme des Rechtsradikalismus, Neonationalismus, das ist nicht Freiheit.

    Lindgren: Neonationalismus ist etwas, das ich fürchte. Die Nazis habe ich so wahnsinnig gehasst. Und das hat einen großen Teil meines damaligen Lebens erfüllt. Ich konnte es gar nicht verstehen und ich glaube, dass es da viele Menschen in Deutschland gab, die sehr viel gelitten haben. Nicht nur die Juden, sondern alle Menschen in Deutschland. Überall in Deutschland gibt es ja einen neuen Nationalsozialismus, wie man gehört hat. Und nicht nur da, sondern auch in Schweden. Es sind natürlich nicht viele Menschen, aber nur der Gedanke, dass so etwas noch einmal entstehen könnte, macht mich total wahnsinnig.

    Ausweger: Warum glauben Sie ist diese Geisel der Menschheit, diese Geisteskrankheit, noch immer nicht überwunden? Warum gibt es immer wieder Menschen, die diese Ideen vertreten, die für diese Ideen leben?

    Lindgren: Ich kann es mir nicht erklären. Es kann sein, dass diese Menschen zu jung sind, um wirklich etwas vom Nationalsozialismus zu wissen. Sie glauben, das war wunderschön. Gewalt ist für sie etwas sehr Nützliches und Notwendiges.

    Ausweger: Dann ist es offenbar auch ein Fehler in der Erziehung, dass immer wieder Rechtsradikalismus und Neonationalismus aufkommt?

    Lindgren: Ja, so wie sie aufgewachsen sind, das macht solche Menschen, die so was tun können.

    Ausweger: Welche Fehler werden da gemacht in der Erziehung, dass aus Kindern Neonazis werden?

    Lindgren: Der Hauptgrund ist meiner Meinung nach, dass junge Menschen keine Liebe bekommen.

    Ausweger: 1978 wurden Sie mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. In Ihrer Dankesrede in der Frankfurter Paulskirche sagten Sie unter dem Titel "Niemals Gewalt": "Die Intelligenz, die Gaben des Verstandes mögen zum größten Teil angeboren sein, aber in keinem neugeborenen Kind schlummert ein Samenkorn, aus dem zwangläufig Gutes oder Böses sprießt. Ob ein Kind zu einem warmherzigen, offenen und vertrauensvollen Menschen mit Sinn für das Gemeinwohl heranwächst oder aber zu einem gefühlskalten, destruktiven, egoistischen Menschen, das entscheiden die, denen das Kind in dieser Welt angetraut ist."

    Lindgren: Das ist genau, was ich meine - auch jetzt.

    Ausweger: Ist unsere Gesellschaft besser geworden seit Ihrer Rede in Frankfurt 1978?

    Lindgren: In mancher Hinsicht. Die Eltern haben etwas gelernt und vor allem die Männer. Die jungen Väter sind so nett zu ihren Kindern und zeigen so viel Liebe, was sie früher nicht durften oder konnten. Ich glaube, es gibt viel mehr Liebe zwischen Eltern und Kindern. Aber in anderer Hinsicht ist es ja nicht besser geworden, sondern schlimmer. So viele junge Menschen sind an Gewalt gewöhnt, das ist ja sehr viel schlimmer geworden.

    Ausweger: Kein Heile-Welt-Buch sind auch die Brüder Löwenherz. Mitte der siebziger Jahre erschienen. Dieses Buch ist eines Ihrer umstrittensten Bücher, weil Sie sich darin mit dem Phänomen des Todes und dem Selbstmord auseinander setzen. Ging es Ihnen dabei um ein didaktisches Anliegen wie etwa um die Enttabuisierung?

    Lindgren: Es ist ein Märchen von der Liebe zwischen zwei Knaben. Ich weiß nicht, was man von der Kinderliteratur erwarten kann, wegen Tabus. Aber ich kenne keine Tabus. Ich schreibe, was ich will und was ich wünsche, ohne nach links oder rechts zu gucken und zu sagen: Was werden sie davon denken? Ich schreibe nach meiner eigenen Meinung.

    Ausweger: In einem Ihrer Kati-Bücher heißt es: "Lebe nicht so als hättest du 1.000 Jahre vor dir. Der Tod schwebt über dir, so lange du noch lebst, so lange du noch kannst. Sei gut!" Astrid Lindgren, ist dieses Zitat auch eine Art persönliche Lebensphilosophie von Ihnen?

    Lindgren: Ja, das ist es. Aber es ist Marcus Aurelius glaube ich, der das gesagt hat. Aber ich finde das sehr gut und ich will gerne so leben, das ist meine Lebensphilosophie. Man muss jeden Tag bereit sein, dass plötzlich Schluss ist. Und möglicherweise sollte man nicht allzu viel Elend hinterlassen. Wir haben diese Welt nur geliehen und sollen sie unseren Enkelkindern einmal übergeben. Das muss jedem bewusst sein. Die Werte, wofür wir leben, sind Wahrheit und Liebe und auch Natur, für mich wenigstens.

    Das war die Stimme von Astrid Lindgren, die jetzt 94-jährig in Stockholm gestorben ist. Ihre weltweit viel gelesenen Bücher liegen auf deutsch im Hamburger Oetinger Verlag vor.