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Pirandello für die Facebook-Ära

Anfang der 20er-Jahre krempelte der Sizilianer Luigi Pirandello mit "Sechs Personen suchen einen Autor" die Schauspielwelt um. Der späterer Literaturnobelpreisträger brach die klassische Trennung zwischen Theater und Wirklichkeit auf. Auf dem Festival von Avignon hat der französische Regisseur Stéphane Braunschweig den Klassiker nun klug ins Jetzt geholt.

Von Eberhard Spreng | 10.07.2012
    Zuerst sitzen sie an einem banal modernen Tisch zusammen und plaudern lustlos über ihr Theaterprojekt. Der Regisseur kann sich kaum selbst noch begeistern, geschweige denn, seine Schauspieler motivieren. Gefühle wollen die erleben, wirkliche Emotionen in sich spüren und keinen hohlen Konzepte wälzen und das könnte sich ändern mit der plötzlichen Ankunft der todtraurigen Angehörigen einer verstörten Familie. Stéphane Braunschweig hat Pirandellos "Sechs Personen suchen einen Autor" bearbeitet, aus dem historischen Entstehungskontext gelöst und anders, als in seiner Arbeit sonst üblich, für heutige Fragen aktualisiert, für die Frage nach dem Ich und seinem Wunsch nach Selbstdarstellung.

    "Um heute das Gefühl zu haben, zu existieren, muss alles ausgestellt werden. In den 80er-Jahren waren dies Reality-Shows, heute ist die Selbstdarstellung zu Facebook und anderen sozialen Netzwerken abgewandert. Man hat das Gefühl, dass das Intime unentwegt den Blicken der Anderen zugänglich sein muss. Das ist ein starker Wechsel in unserem Verhältnis zu uns als Subjekt, zu unserer Intimität und Individualität. Pirandello war da visionär, denn er lässt Figuren plötzlich auf der Bühne private Problem offen legen, die möglicherweise nur sie selbst interessieren."

    Im Innenhof des "Cloître des Carmes" hat der Regisseur, der im Übrigen bereits Pirandellos anderes Stück über die Sehnsucht des Menschen nach einer Geschichte, "Die Nackten Kleiden", inszeniert hatte, die beiden Theaterwirklichkeiten deutlich voneinander abgesetzt. Die eine ist das, was die Familienmitglieder erlebt haben, die andere ihre hitzigen Debatten untereinander und mit den Theaterleuten. Ein weißes Podest mit weißer Rückwand bildet hier den Ort, an dem der in dem Stück eben nur "Der Vater" Genannte die inzestuöse Missbrauchsszene spielen soll. Sie ist eine der Tragödien, die die Familie in ein Trauma gestürzt haben, von dem sich keines seiner Mitglieder erholen kann. Das Theater ist hier also der Ort, der dem namenlosen Schrecken Text und Darstellung verleihen soll. Die Familien verlangt vom Autor und Regisseur also indirekt, in psychoanalytischer Tradition zum Therapeuten zu werden und von den Schauspielern, wie bei einer Familienaufstellung das verborgene psychische Familiensystem zur Darstellung zu bringen. Aber die Bühne verträgt die Offenbarung der nackten Wahrheit nicht.

    Die Stieftochter streitet mit dem Regisseur um die Darstellung. Sie verlangt mehr Härte, aber diese verträgt die Bühne nicht: Der Regisseur verlangt Subtilität, künstlerischer Umsetzung, Verlagerung in den Raum des Politischen. Genau diese Verallgemeinerung lehnen die vom Schicksal Geschlagenen ab, weil sie sie als die Beraubung ihrer eigenen Geschichte wahrnehmen. Letztlich muss der Versuch scheitern, das Trauma der Familie in ein Drama zu fassen. Sehr wirkungsvoll verknüpft Braunschweig Wrklichkeits-, Zeit- und Traumebenen zwischen seinen beiden Bühnen und einer ausgeklügelten Videoprojektion.

    Wo sich Pirandello gegen das Illusionstheater seiner Zeit wandte und die Frage nach der Darstellbarkeit des wahren individuell erlebten Leids auf einer Theaterbühne stellte, ermöglicht Facebook heute seinen Usern, selbst zu Schneidern eines Rollenkleides zu werden. Sie fertigen sich die Maske, hinter der sie auf einem neuen Markt der Illusionen sicher auftreten können. Auch dieses Thema flammt als Diskussion in der klugen Aufführung kurz auf, die sich den Fragen der neuen Medien stellt, ohne die Mittel des guten alten Theaters über Bord zu werfen.