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Pittura metafisica

In dieser Ausstellung sieht man vor allem De Chirico,

Thomas Migge | 07.10.2003
    aber den De Chirico der metaphysischen Periode. Das heißt, die Werke dieses
    Malers aus den Jahren 1909 bis 1920. Die Ausstellung soll verdeutlichen,
    welchen Einfluss diese Periode De Chiricos auf die europäische Malerei
    hatte. Auf den Surrealismus der 20er Jahre und auf den abstrakten
    Expressionismus.

    Esther Coen ist die Kuratorin einer Kunstschau in Rom, die alles andere als
    leichtverdauliche Bilderkost bietet. In den Sälen der Scuderie, den
    ehemaligen Pferdeställen des Palazzo Quirinale im Herzen der ewigen Stadt,
    sind Meisterwerke von De Chirico zu sehen - viele davon seit Jahrzehnten zum
    ersten Mal wieder in Italien. Darunter auch zahlreiche Werke aus
    Privatsammlungen, die nur selten ausgestellt werden. In den Scuderie - die
    dank grosser und auch international Aufsehen erregender Kunstausstellungen
    eine Art römisches Grand Palais geworden sind - bekommen die Besucher auch
    Bilder von Ives Tanguy und von René Magritte, von Joan Mirò und Alberto
    Savinio, von Carlo Carrà, Constantin Brancusi sowie von Max Ernst zu sehen.
    Rätselhafte Bilder, die von der Ausstellungskuratorin unter dem Titel
    "Metafisica" zusammengefasst wurden:

    Die Idee der Metaphysik ist an bestimmte philosophische
    Vorstellungen gebunden, jedenfalls was De Chirico betrifft. Er selbst sagt,
    dass er das Gefühl der Leere in Malerei umzusetzen versuchte. Das erklärt
    auch seine Emphase bei der Darstellung der Realität, einer leeren
    Realität.


    In den großen Sälen der barocken Scuderie, von deren hohen Fenstern aus der
    Blick auf die Dächer der römischen Altstadt geht, geben vor allem die
    Gemälde von Giorgio De Chirico viele Rätsel auf. Zu sehen sind leere Plätze
    und Strassen mit Menschen ohne Gesichter, unförmige Gebilde, die weder Tiere
    noch Menschen sind, Räume mit Fabelwesen. De Chiricos Welt ist ein stiller
    und bewegungsloser Gegenkosmos zum dynamischen Futurismus, jener
    italienischen Kunstrichtung des frühen 20. Jahrhunderts, die die Bewegung
    zur Ikone erhob. Die metaphysische Malerei hingegen, als deren Gründer De
    Chrico gilt, erhebt die Darstellung des Realen - auch beweglicher
    Gegenstände, die der Futurismus ins Zentrum seiner Darstellung setzte - in
    den Bereich einer immobilen Entrücktheit. De Chirico verstand sich als
    "pictor optimus", dessen Werke eine antikisierende Klassizität zum Ausdruck
    bringen. Er malte geheimnisvolle Bilder, lieferte keinerlei Erklärungen zu
    seinem Schaffen und warf Kunstexperten vor, dass sie ihn sowieso nicht
    verstehen würden.
    Esther Coen:

    Seine Bilder mit den Arkaden vermitteln einen Eindruck
    der Leere, wie man sie noch heute nachts in jenen Städten erleben kann, die
    Mussolini in den 30er Jahren errichten ließ, zum Beispiel in Latina,
    südlich von Rom. Metaphysische Architektur im Sinn De Chiricos. Der Mensch
    ist auf solchen strengen klassischen Plätzen nur ein flüchtiger Geist.


    Guillaume Apollinaire bezeichnete diese Malerei als modern und zugleich
    antimodern. De Chiricos Malerei scheint die revolutionäre Avantgarde des
    frühen 20. Jahrhunderts überwinden zu wollen. In diesem Sinn sieht
    Ausstellungskuratorin Esther Coen Di Chirico als einen Maler, der die
    Avantgarde" des 20. Jahrhunderts wie kein anderer beeinflusst hat: zum
    Beispiel Mirò und Ernst, Tanguy und Picasso. Sie geht sogar so weit, dass
    sie Werke amerikanischer Maler wie Willem De Kooning als Metaphysiker im
    Sinn von De Chirico bezeichnet. Ein gewagtes Konzept, das von anderen
    Kunsthistorikern scharf kritisiert wird. Für die römischen Kunstexpertin und
    Kunsthändlerin Gloria Porcella, die vor einem Jahr im europäischen Parlament
    eine De Chirico-Schau organisierte hatte, handelt es sich dabei um reinen
    Unsinn:

    Die Ausstellung in den Scuderie zeigt Werke von Malern
    wie Carra und anderen, die De Chirico entschieden ablehnte, wegen ihres
    Malstils, der seiner Meinung nach nicht den Geist der Zeit einfing. De
    Chirico würde sich im Grab umdrehen, wenn er wüsste, dass er in einer
    Kunstschau unter dem Titel 'Metaphysik' zusammen mit diesen anderen Malern
    ausgestellt wird.


    Andere Kritiker des Ausstellungskonzepts von Esther Coen werfen ihr vor,
    eine Menge rätselhafter Gemälde zusammen gemixt und in einen Sack gesteckt
    zu haben, auf dem "Metaphysik" steht.
    Während die Experten sich streiten, betritt der Besucher der römischen
    Scuderie eine Welt voller Bilder, Orte und Personen, die entrücken, die
    bedrücken, auf jeden Fall aber gefangen nehmen, faszinieren.