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Plädoyer für freies Denken

"Ich bin schlechthin, weil ich bin": Hinter diesem scheinbar einfachen Satz Johann Gottlieb Fichtes verbirgt sich ein kompliziertes Denksystem. Pünktlich zum 250. Geburtstag des Philosophen legt Wilhelm G. Jacobs eine neue Biographie vor. Sie will den Menschen Fichte beschreiben und die Gedankenwelt des deutschen Idealismus verständlich machen.

Von Christiane Florin | 14.05.2012
    Johann Gottlieb Fichte wird meist in Begleitung der Philosophen Immanuel Kant und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling herbeizitiert. Den großen Soloauftritt gewährt ihm die Nachwelt selten. Dabei ist Fichte der Experte fürs Solo, fürs Ich mit großem I. Aber er gilt als gefährlich: Schon Heinrich Heine fürchtete sich 1833 vor "bewaffneten Fichteanern" und Willensfanatikern. 100 Jahre später marschierten tatsächlich Willensfanatiker in Deutschland auf und erhoben Fichte zum Idol. Seine "Reden an die Deutsche Nation" passten ins nationalsozialistische Beuteschema. Diese Verbindung diskreditiert den Philosophen bis heute. Wilhelm G. Jacobs gönnt Fichte den Soloauftritt. Der Münchner Philosophieprofessor hat 1984 eine schmale Biographie als Taschenbuch bei Rowohlt veröffentlicht, nun, im Jahr des 250. Geburtstags des Philosophen, würdigt er Leben und Werk umfangreicher. Schon im Vorwort schreibt Jacobs wider das Zerrbild an:

    "Fichte war kein Heros, kein Feldherr des Geistes, er war ein Mensch mit Ängsten und Hoffnungen, mit Verletzungen und Freuden, überhaupt kein Denkmal, sondern ein Mensch, dessen Leidenschaft das Denken war, seit ihn dieses durch die Begegnung mit Kants praktischer Philosophie zu sich selbst hatte finden lassen."

    Fichte wurde am 19. Mai 1762 in Rammenau in der Oberlausitz geboren. Über die Kindheit des kleinen Johann Gottlieb ist wenig bekannt. Der Biograph aber will nicht nur des Denkers Geist, sondern auch dessen Seele verstehen. Deshalb geht er auch auf das ein, was nicht passiert:

    "Der (Siebenjährige) Krieg ist zu Ende, noch bevor Fichte ein Jahr alt ist; Schlachten, deren Kanonendonner das Kind hätte erschrecken können, finden in der Nähe Rammenaus nicht statt. Doch überschatten Kriegsfolgen die Kindheit; denn die Fichtes sind kleine Leute, und solche haben in Kriegszeiten mehr zu leiden als begüterte. Not scheint die Familie Fichte nicht zu leiden, aber karg dürfte es hergehen."

    Trotz karger Verhältnisse besucht Fichte die höhere Schule – einem Pfarrer sei Dank. Der Junge reibt sich an den strengen Schulregeln, für seinen Biographen ein Hinweis auf den Drang nach Freiheit und Selbstbestimmung. Im Oktober 1780 beginnt Fichte ein Theologiestudium in Jena. Er hört viel von unbezweifelbaren Wahrheiten, aber wenig von Vernunft. Zu wenig nach seinem Geschmack. Fichte gibt das Studium auf, schlägt sich als Hauslehrer durch und spielt mit Selbstmordgedanken. Sein Lebensretter wird Immanuel Kant. Dessen Kritiken an der reinen und an der praktischen Vernunft revolutionieren Fichtes Denken. Der Biograph jubiliert:

    "Fichte fühlt sich nicht nur frei, er weiß sich frei. … Man könnte meinen, hier brenne ein Strohfeuer ab; dann aber hat man sich getäuscht. Hier ist eine Lebensflamme entzündet."

    Fichtes erstes Buch trägt den Titel "Versuch einer Kritik aller Offenbarung". Es erscheint im Frühjahr 1792, Rezensenten halten es irrtümlich für ein Werk Kants - ein Karriereschub für den unfertigen Theologiestudenten. Der wahre Autor dieser Offenbarungs-Kritik, also Fichte, wird von der zeitgenössischen Fachpresse zu einem der bedeutendsten Philosophen erklärt. Das Ich mit großem I ist die Grundlage seiner Wissenschaftslehre. Dieses Ich ist Subjekt und Objekt, es handelt und ist Produkt der Handlung. Ohne dieses Ich gäbe es keine Welt. Heute greift jeder Kolumnist permanent zum "ich". Wie erklärt man da dem Leser des 21. Jahrhunderts, was an Fichtes Entdeckung des Ichs damals so revolutionär war? Jacobs versucht es redlich:

    "Man versteht jetzt wohl, daß dieses groß geschriebene Ich nicht das meint, was jeder von uns meint, wenn er von sich ich sagt und dieses ich klein schreibt. Im letzten Fall meinen wir unsere ganze leiblich-geistige Person. Als bewußte Personen sind wir zwar Ich, dieses aber bezeichnet nur einen Aspekt von uns als ich, nämlich jenen Grundakt, in dem das Wissen sich als Wissen weiß."

    Wer das Buch mit Gewinn lesen will, sollte philosophische Grundrichtungen wie Realismus und Idealismus kennen. Vor allzu viel Experten-Ernst schützen jedoch unfreiwillig komische Passagen. Der Autor hat offenbar jede Erkältung recherchiert und verzeichnet seismographisch feinste Erschütterung im Eheleben. Ein Denker ist eben auch nur ein Mann. Trotzdem erscheint Fichte mitnichten als wehleidiger Geistesarbeiter. Jacobs Protagonist ist vor allem ein unerschrockener Kämpfer für die Freiheit. Aus dem Jungen, der in der Schule aneckte, wird ein Hochschullehrer, den die Fürsten fürchten. Seit 1794 lehrt Fichte in Jena, er muss sich im Jenaer Atheismus-Streit von 1799 des Vorwurfs erwehren, nicht christlich zu sein. Dabei bestreitet er nicht, dass es Gott gibt, er glaubt jedoch nicht einfach an Gott, sondern denkt über Unbedingtheit, sittliche Forderungen und deren Erfüllung nach. Sein Gott ist ein Ergebnis der Vernunft. Fichtes Schriften werden vom Kursächsischen Hof konfisziert, er wehrt sich mit einer "Appellation an das Publikum". Sie trägt den gewitzten Untertitel: "Eine Schrift, die man erst zu lesen bittet, ehe man sie confiscirt". Fichte unterliegt in Jena. Und sein Biograph verliert fast die Contenance. Jacobs tadelt:

    "Fichte ist, wie er wissen muß, verdächtig, steht auf dünnem Eis und springt auch noch darauf herum. Das letzte ist nicht nötig. Ohne sich zu verbiegen, hätte er nur manches nicht aussprechen müssen. Aber er spricht, und zwar sehr heftig. Kein Wunder, wenn das Eis bricht."

    Als freier Geist taugt Fichte nicht für Institutionen, gut zehn Jahre später wird er Rektor der Universität Berlin, auch diesen Posten wird er schnell hinwerfen. Einer wie er sei seiner Zeit voraus, bilanziert der Biograph. Im Urteil der Nachwelt sind vor allem die "Reden an die Deutsche Nation" ihrer Zeit voraus. Fichte beginnt diese Reihe im Dezember 1807, er ist erschüttert vom Napoleonischen Siegeszug. Jacobs liest die Reden als Plädoyer für freies Denken, für eine Erziehung zur Selbstbestimmung, ja für Demokratie. Nationalisten und Nationalsozialisten hingegen deuteten sie als Beweis für die Überlegenheit des deutschen Menschen. Eher pflichtbewusst als entschieden geht Jacobs auf den Vorwurf ein, Fichte sei Antisemit gewesen. Offenbar gehört dieser Makel für den Autor eher zum Zerrbild als zum Lebensbild. Die Biographie ist kenntnis- und detailreich. Jacbos verwendet selbstbewusst die alte Rechtschreibung mit "ß" nach kurzem Vokal. Das wirkt allerdings, anders als der Biographierte, kaum der Zeit voraus. Fichte starb 1814. Der Autor hat seinen Protagonisten als Geistesgröße gewürdigt, und doch behandelt er ihn stellenweise wie ein Kind, das nicht immer brav ist. Das mutet bieder an. Und tatsächlich begann kurz nach Fichtes Tod das Biedermeier.


    Wilhelm G. Jacobs: Johann Gottlieb Fichte. Eine Biographie.
    Insel Verlag, 251 Seiten, 24,95 Euro
    ISBN: 978-3-458-17541-4