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Plädoyer für längeres gemeinsames Lernen

Die Autorin Jagoda Marinic hält das dreigliedrige deutsche Schulsystem für einen Verstoß gegen die Menschenrechte. Kindern würden ihre Entwicklungschancen genommen, wenn man nach der vierten Klasse ihre Laufbahn vorbestimme, sagte Marinic.

Moderation: Jochen Spengler | 24.09.2007
    Jochen Spengler: Die OECD sorgt für Schockwellen in Deutschland. Denn die Vereinigung der wichtigsten Industrieländer bescheinigt uns mit schöner Regelmäßigkeit, dass das deutsche Bildungssystem im Vergleich mit anderen schlecht abschneidet. Das deutsche Schulsystem führt zu weniger Leistung und zu größerer sozialer Auslese. Das waren die Erkenntnisse der PISA-Studie. Letzte Woche hat die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung nachgelegt. Der Vorwurf: Der Staat investiert viel zu wenig ins Bildungssystem, und viel zu wenige Schüler machen Abitur, viel zu wenige Studierende einen Hochschulabschluss.

    Wir sind jetzt telefonisch verbunden mit Jagoda Marinic. Sie ist in Deutschland geboren, ihre Eltern sind Einwanderer aus Kroatien, sie ist Schriftstellerin, hat viele Preise und Auszeichnungen für ihre Kurzgeschichten erhalten und Anfang August ihren ersten Roman mit dem Titel "Die Namenlose" veröffentlicht. Guten Morgen, Frau Marinic!

    Jagoda Marinic: Guten Morgen, Herr Spengler!

    Jochen Spengler: Frau Marinic, die Probleme des deutschen Bildungssystems, die treiben Sie schon lange um. Wieso ist das ein Thema für Sie?

    Marinic: Weil ich selbst aus diesem Hintergrund komme. Ich bin eben selbst sozusagen zweite Generation in Deutschland oder erste, also das Kind meiner Eltern, die eingewandert sind. Und natürlich betrifft mich das sowohl von meinem Familien- und auch von meinem Freundeskreis gesehen her.

    Spengler: In einem Essay für die "Frankfurter Rundschau" haben Sie geschrieben, dass das deutsche Schulsystem die Menschenrechte verletzt. Wie meinen Sie das?

    Marinic: Also weil ich das so wahrnehme, dass ich für mich einen Menschen ab der vierten Klasse in eine bestimmte Laufbahn stecke und ihm dann später nun sehr schwer die Möglichkeit gebe, das aufzuweichen, dass ich einem Menschen da wirklich Rechte nehme, die er haben sollte, wenn ich sage, ich lebe in einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft. Und ich habe das selbst oft erlebt. Ich habe einen Bruder, der auf dem zweiten Bildungsweg viel in seinem Leben verändert hat. Aber ich denke, dass ein Staat da Weichen stellen sollte, dass man nicht nur, weil man Eltern hat, die einen nicht von Vornherein soviel mitgeben können, so viele Abstriche machen muss im eigenen Leben.

    Spengler: Wieso ist das Hauptübel für Sie die Aufteilung nach der vierten Klasse?

    Marinic: Weil einfach, ich glaube, dass der Mensch da noch nicht soweit ist und dass die Eindrücke, die er von zuhause mitbekommen hat, eben noch viel, viel stärker sind, als die Formungen, die er aufnehmen kann von seiner Persönlichkeit her. Ich glaube, dass, wenn ein Mensch mehr Zeit hat, seine Persönlichkeit herauszubilden und die Dinge später entscheiden, ihm einfach mehr Möglichkeiten nach seinem Talent und Wesen gegeben werden, als wenn ich diese frühen Jahre nehme.

    Spengler: Ist für Sie die Hauptschule sozusagen eine Ausländerschule geworden?

    Marinic: Ich glaube schon. Also ich mache manchmal Workshops an Hauptschulen über Kreativität und Schreiben und Ausdruck oder Selbstausdruck, und meistens begegnen mir da ausländische Kinder. Also es gibt immer wieder Deutsche, eben auch Unterschichten. Aber es ist sehr wohl eine Unterschichtenschule geworden. Und es sind wahnsinnig nette Kinder, die man aber jedes Mal aufbrechen muss, die wissen, dass sie nicht die Chancen haben, die andere Leute haben, denn sie spüren, in der Welt passiert irgendwas, an dem sie nicht teilhaben. Und es ist wahnsinnig frustrierend als Gefühl und ist auch wahnsinnig schwer, da als Mensch, der ihnen etwas über Kreativität beibringen möchte, heranzukommen. Und es gelingt oft, aber es ist schwierig. Und gerade die ausländischen Kinder haben da oft so eine Resignation, die ich furchtbar finde im Alter von 14, 15 Jahren.

    Spengler: Frau Marinic, Sie schreiben in Ihrem Essay, dumm sein sei keine Schande. Aber es ist eine Schande, wenn man nicht dumm ist und niemand merkt es. Geschieht das oft bei uns in Deutschland?

    Marinic: Ich glaube, das geschieht leider zu oft, ja. Also es gibt in Deutschland ein ganz bestimmtes Bild von Intelligenz ,und das hat ganz viel mit Herkunft und Bildungsbürgertum und das und das gelesen haben, Theater besucht haben. Es gibt sehr viele Menschen, die ganz anders intelligent sind und die auch gerne Bildung genießen würden, aber einfach nicht dazu kamen. Und da wird sehr viel selektiert. Und das weiß ich wirklich aus eigener Erfahrung und habe es bei vielen Menschen erlebt, die, wenn man sie in die Hauptschule steckt, Dreier produzieren, und wenn man sie auf die Realschule steckt, produzieren sie auf der Realschule ihre Dreier. Also ein Mensch wächst nun einmal mit seinen Anforderungen.

    Spengler: Sind Sie nicht selbst der lebende Gegenbeweis, dass man es trotzdem im dreigliedrigen Schulsystem, trotz ausländischer Herkunft bis zum Abi, bis zum Studium schaffen kann?

    Marinic: Ja , aber ich weiß auch, wie viel das kostet. Ich habe sehr, sehr viel Glück gehabt, sowohl mit den Menschen, denen ich begegnet bin, mit den Deutschen, die sich dafür interessiert haben, was aus mir wird, mit Lehrern, mit ganz frühen Begegnungen, die sehr mich unterstützt haben auf diesem Weg. Und ich weiß, dass nicht alle Kinder dieses Glück haben. Vielleicht hatte ich da eine besondere Offenheit, vielleicht hatte ich einfach Glück mit meiner Disposition. Aber es gibt viele Menschen, die eben auch nicht dümmer sind und die das Glück nicht haben.

    Spengler: Wenn Sie deutsche Bildungspolitikerin wären, die das System nun ändern könnte, was würden Sie tun?

    Marinic: Ich würde sofort dieses Schulsystem verändern und zwar, dass man mindestens bis zur 8. Klasse zusammenbleibt. Ich würde auf jeden Fall auch andere Kompetenzen stärken. Also ich würde nicht nur diese klassischen Fächer unterrichten, Talente fördern, mehr Raum für Bewusstseinsentwicklung und Eigeninitiative erlernen sozusagen schaffen an Schulen. Es gibt in Heidelberg, glaube ich, das schöne Projekt im Moment, dass ein Schulfach eingerichtet wird, das "Glück" heißt, wo Menschen einfach lernen, mit ihrem Leben und mit der Eigeninitiative, die heute verlangt wird, umzugehen lernen. So was finde ich schon die richtige Richtung. Und ich glaube, dass die Deutschen da auch sehr offen wären, weil ich im Prinzip denke, dass sie diese Tradition haben, dass Bildung ein wichtiges Gut ist. Und ich finde es schade, wenn die Politiker diese Tradition eigentlich nicht nutzen und weiter ausbauen.

    Spengler: Dankeschön für das Gespräch. Jagoda Marinic, Schriftstellerin und Journalistin mit Wohnsitz in New York und Heidelberg. Die schlechte Leitung nach New York bitten wir zu entschuldigen.