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Platels "Tauberbach"
Erlösungsmusik auf der Müllkippe

Wer die Choreografien von Alain Platel als Bastardtanz bezeichnen würde, beginge damit keine Beleidigung: Er selbst nennt sie so und will sie so haben. Platels jüngste Choreografie ist jetzt an den Münchner Kammerspielen zu sehen. Am Freitag wurde seine Version von "Tauberbach" uraufgeführt.

Von Jörn Florian Fuchs | 19.01.2014
    Fünf Schauspieler in einer Szene des Stückes "Tauberbach" an den Münchner Kammerspielen. Um sie herum liegt Müll.
    Das Stück "Tauberbach" von Alain Platel wurde in München uraufgeführt (picture alliance / dpa / Münchner Kammespiele / Julian Röder)
    Die Reaktionen des Publikums schwankten an diesem Abend zwischen gespannter Stille, erschreckter Erregung, eruptivem Zwischenapplaus und mündeten in hysterischen Jubel. Das hat seine Richtigkeit, denn Alain Platel und seiner Compagnie Les ballets C de la B ist ein glänzender Abend gelungen, intellektuell, zugleich sehr sinnlich, manchmal abstrakt verrätselt und immer wieder doch direkt an Herz und Nieren gehend. Grundlage für "Tauberbach" ist ein Dokumentarfilm von Marcos Prado über eine auf und vom Müll lebenden Brasilianerin.
    Die Bühne ist übersät mit alten Kleidern, Teile der Lichtbrücke sind herabgestürzt, auch auf dem Metall hängen Lumpen. Man hört Insektengesumm, plötzlich tauchen Hände, Arme aus dem Kleiderberg hervor, allmählich schälen sich die dazu gehörenden Menschen heraus. Es sind fünf Tänzer, deren Welt aus rekelnden Bewegungen, spastischen Verrenkungen und enigmatischen Gebärden besteht. Platel nennt die im Kollektiv gewonnenen Ergebnisse "Bastardtanz". Vorne an der Rampe steht und zuckt unterdessen die Schauspielerin Elsie de Brauw und spricht ein Kauderwelsch aus Englisch und Fantasie-Brasilianisch.
    Figuren individuell gezeichnet
    Peu à peu interagieren de Brauw und die Tänzer, sie reagieren indes nur zeitweise aufeinander, bleiben längere Zeit noch auf parallelen oder nur lose verknüpften Ebenen. Aber was sind das überhaupt für Tänzer! Da ist der mit blutrotem Lippenstift auftretende Hüne in Netzunterhemd und knappem Höschen (Romeu Runa), die eher Zartgeschöpfige (Bérengère Bodin), die meist wütend Verzweifelte (Lisi Estaras), der äußerlich recht Unscheinbare (Ross McCormack), die sehnsuchtsvoll in die Ferne Blickende (Elie Tass).
    Jede Figur wird sehr individuell gezeichnet und doch wirkt das Zusammenspiel völlig homogen. Auch Elsie de Brauw integriert sich – oder wird integriert. Was die Mittfünfzigerin körperlich leisten muss, ist spektakulär. Zum Höhepunkt gerät ein völlig ausufernder Exzess aus Spaß, Lust und Gewalt. Erst tragen die Tänzer ihre Mitspielerin buchstäblich auf Händen, urplötzlich werden die schön fließenden Bewegungen zackig brutal, bis nach schier endlosem Hin und Her – auf und unter den Kleiderbergen – de Brauw in einer dreckigen Schubkarre landet und ein wenig Ruhe findet.
    Vorlage meist kaum zu erkennen
    Der Titel "Tauberbach" meint übrigens etwas ganz Konkretes. Es gibt nämlich einen häufig eingesetzten Basso continuo: Johann Sebastian Bach. Manchmal singt das Ensemble, berückend schön, einige Takte aus Chorälen oder Kantaten, häufiger hört man Bachs Musik vom Band. Sie entstammt dem Projekt "Tauber Bach", das Artur Zmijewski mit Gehörlosen realisiert hat. Die Vorlage ist meist kaum wieder zu erkennen, lediglich Rhythmik und Intervalle verweisen auf den Urheber. Der Gesang der Gehörlosen erschüttert eigentlich nicht so sehr wegen falscher Töne und inkorrekter Intonation, sondern weil gerade das Zerbrochene dieser Klänge zitternd, bebend doch auf das Original verweist.
    Gegen Ende muss Elsie de Brauw einige Stotterattacken überstehen und sich mit dunklen eschatologischen Einflüsterungen auseinandersetzen ("Fire ist the solution!"), doch dann verfugen sich alle zu einer vorher so noch nicht gekannten Einheit und singen herzergreifend ein sehr spezielles Versöhnungssextett, inspiriert von Mozarts "Così fan tutte".