Freitag, 19. April 2024

Archiv


Platzeck kündigt "raue Zeiten" in der Koalition an

Matthias Platzeck rechnet für die nahe Zukunft mit harten Auseinandersetzungen in der Großen Koalition. Angesichts der Debatte um Mindestlöhne und einen längeren Arbeitslosengeld-Bezug für Ältere "werden die Zeiten bestimmt ein bisschen rauer", sagte der SPD-Politiker, Ministerpräsident in Brandenburg.

Moderation: Oliver Thoma | 27.10.2007
    Oliver Thoma: Die SPD fast geschlossen hinter Kurt Beck: Nach dem Streit um die längere Zahlung des Arbeitslosengeldes I haben sich die Kritiker in die Parteipflicht nehmen lassen. Fast einstimmig wurde das Neun-Punkte-Programm "Reformen für ein soziales Deutschland" gestern Abend auf dem Parteitag gebilligt. Ein Punkt darin eben: Das ALG I soll an ältere Menschen 2 Jahre, also 6 Monate länger gezahlt werden. Nicht nur Vizekanzler Franz Müntefering findet das eigentlich nicht so richtig, auch die Minister Frank-Walter Steinmeier, Peer Steinbrück und der brandenburgische Ministerpräsident, Matthias Platzeck, hatten sich ja schon mit ihrem gemeinsam Buch "Auf der Höhe der Zeit" viel Kritik eingehandelt, weil sie die Agenda 2010 für richtig und notwendig hielten.

    Und Matthias Platzeck begrüße ich jetzt in Hamburg. Schönen guten Morgen!

    Matthias Platzeck: Ich grüße Sie! Guten Morgen, Herr Thoma!

    Thoma: Sie haben dann auch für das Neun-Punkte-Programm gestimmt?

    Platzeck: Ich bin kein Delegierter, sondern nur beratend. Aber ich stimme dem zu, das habe ich auch sehr deutlich gemacht. Ich fand das, was gestern auf dem Parteitag beschlossen wurde, nicht nur zu diesem Programm, sondern auch was die Personalentscheidungen, die ja auch immer Botschaften in sich tragen, beinhaltet, alles sehr kluge, sehr gute Entscheidungen. Und das stärkt die Partei. Das stärkt den Zusammenhalt, und das stärkt auch sehr deutlich, Sie haben es in der Anmoderation gesagt, den Parteivorsitzenden. Alles das ist wichtig in einer ja schließlich nicht einfachen Phase, in der wir gewesen sind. Und von daher bin ich mit den Stunden des gestrigen Parteitages sehr, sehr froh.

    Thomas: Aber das bedeutet doch auch, nicht mal zwei Monate nach dem Erscheinen ist das Buch "Auf der Höhe der Zeit" nicht mehr wirklich so auf der Höhe der Zeit, oder?

    Platzeck: Also, ich finde das, wenn ich das mal so sagen darf, schlicht eine Übertreibung, was da miteinander vermengt wird. Kurt Beck hat gestern in seiner Rede sehr, sehr deutlich gemacht, dass unsere Gesellschaft weiterhin auf die Höhe der Zeit gebracht werden muss, das heißt auch, modernisiert werden muss. Er hat ganz klar gemacht, dass er zum vorsorgenden Sozialstaat steht. Es ist alles expressis verbis deutlich zum Ausdruck gekommen. Auch darüber war ich sehr froh. Und wenn wir auf der anderen Seite, und das ist ja auch einer der wirklich großen Stärken von unserem Parteivorsitzenden, wenn wir in der Lage sind als Partei, Stimmungen aufzunehmen, die sich einfach manifestiert haben, das waren keine Einzelmeinungen, sondern das sind Meinungen, die sich quer durch unser Volk gezogen haben, dann muss man, wenn man nicht dogmatisch werden will, damit auch umgehen. Auch manifeste Stimmungen sind politische Dinge, mit denen man umgehen muss und wo man drauf reagieren muss, und das haben wir getan.

    Thoma: Also die Menschen wollen, dass das länger gezahlt wird, das Arbeitslosengeld I, aber politisch ist es eigentlich falsch?

    Platzeck: Ja, es geht um, wenn Sie Unsicherheit im Lande haben, wir müssen doch ab und zu auch gucken als Politik, als Politiker, ob das, was wir tun, so wie wir es beabsichtigt haben, erstens wirkt und zweitens auch bei den Menschen ankommt, goutiert wird und aufgenommen wird. Schließlich machen wir die Politik nicht für einen luftleeren Raum, sondern für die Menschen, die hier leben. Und wenn in einer großen Zahl da bestimmte Dinge artikuliert werden, dann kann man da nicht drüber wegwischen und sagen, das interessiert mich nicht, sondern dann muss man damit, ich sage es noch mal, umgehen. Und das hat Kurt Beck sehr gut aufgenommen. Wir haben uns auseinandergesetzt, auch dazu stehe ich, und zwar sehr intensiv in den vergangenen Wochen. Ob es dieser Schritt ist, der da, sage ich mal, am meisten am sinnvollsten ist, oder ob es auch andere Schritte gibt. Also ich stand zum Beispiel bei denen, die gesagt haben, wenn wir Schritte gehen wollen, wo wir sagen, wir müssen mehr nachjustieren und uns an die Entwicklung anpassen, kann man auch an Hartz IV denken. Aber das ist vielleicht auch ein Stück weit ostdeutsch geprägte Sicht, weil das bei uns noch ein drängenderes Problem ist.

    Ich sag mal, in der Summe haben wir uns verständigt. Wir haben uns geeinigt. Es war eine gute Diskussion, auch eine menschlich anständige Diskussion, und ich bin froh, dass jetzt so entschieden wurde.

    Thomas: Aber gerade Sie haben auch den vorsorgenden Sozialstaat propagiert, der auf Eigenverantwortung setzt. Was bleibt davon übrig, wenn jetzt zum Beispiel dann eben zwei Jahre lang das Arbeitslosengeld I an Ältere gezahlt wird?

    Platzeck: Also der vorsorgende Sozialstaat hat als wichtigste Elemente, und die sind in keiner Weise tangiert oder negativ berührt worden, dass wir Chancen erzeugen dadurch, dass wir uns um die Menschen, ihre Entwicklung und ihre Möglichkeiten vom ersten Lebensjahr an kümmern. Dazu hat sich Kurt Beck, dazu hat sich gestern der Parteitag ganz klar bekannt. Wichtige Elemente sind zum Beispiel Kindertagesbetreuung, Ganztagsschule, lebenslange Weiterbildung. Das sind die Dinge, die im 21. Jahrhundert Menschen in die Lage versetzen, ihr Leben zu gestalten. Und das sind die wichtigen, die wirklich wichtigen Fragen auch aus unserer gesellschaftlichen Entwicklung. Und wenn Sie mal sehen, was für ein Personaltableau von diesem sehr klugen Parteitag zusammengestellt wurde, dann finde ich, mit den drei Stellvertretern alleine, mit Andrea Nahles, mit Peer Steinbrück und unserem Brandenburger Frank-Walter Steinmeier, über dessen Ergebnis ich mich natürlich ganz besonders gefreut habe mit 85 Prozent, ist ein breites Spektrum abgedeckt mit kompetenten Leuten, ein Spektrum dessen, was in unserer Gesellschaft vorkommt, nötig und erforderlich ist.

    Thoma: Muss die SPD von der Agenda 2010 abrücken, weil man die Wähler mitnehmen muss, weil man nicht noch weitere Wähler verlieren kann, um zur Splitterpartei zu werden?

    Platzeck: Wir haben gestern sehr deutlich gemacht, und das habe ich quer durch den Parteitag, ich habe mit unzähligen Delegierten geredet, auch gespürt, dass überhaupt nicht daran gedacht ist abzurücken. Aber wie schon gesagt wurde, Buch Moses und anderes ist ja zitiert worden. Wir entwickeln uns weiter. Die Entwicklung ist ja auch in den letzten Jahren weitergegangen. Nun muss man nicht sagen, was ich einmal vor Jahren gemacht hab, ist in Stein gemeißelt, und ich werde keinen Millimeter, dazu ist gesellschaftliche Entwicklung nicht ...

    Thoma: Aber Ihr Buch ist gerade mal zwei Monate her, muss man sagen, das es erschienen ist.

    Platzeck: Wenn Sie das Buch lesen, manche reden ja davon und haben es noch nicht gelesen, dann werden Sie finden, dass das, was da drin steht, sich in den Beschlüssen des Parteitages, wie sie schon gefasst sind beziehungsweise wie sie heute und vor allen Dingen morgen gefasst werden, und es geht ja im Kern um die Forderungen im Sozialstaat, sich dort wiederfindet. Und deshalb sollte man jetzt diesen Schritt, diesen sinnvollen Schritt, einfach nicht überhöhen und fürs Ganze nehmen.

    Thoma: Also von Kurswechsel bei der SPD kann keine Rede sein?

    Platzeck: Nein, nein. Also ich habe auch von allen möglichen Rucks vorher gelesen. Und gestern Abend haben auch Kollegen von Ihnen, wir haben ja abends noch lange auch mit Journalisten dann gesessen, gesagt, nein, kann man wirklich nicht sagen. Es ist ein stabiles Ergebnis nach vorn, aber ein Ruck in irgendeine Richtung und durch irgendwen anders vielleicht noch induziert, war wirklich nicht wahrnehmbar. Und das kann man, wie gesagt, auch am Personaltableau ablesen. Peer Steinbrück, wo ja viel reingeheimnist wurde, hat ein exzellentes Ergebnis mit 75 Prozent. Also lassen wir die Kirche einfach mal im Dorf.

    Thoma: Könnte es mit der Harmonie schon heute wieder vorbei sein, wenn über die Bahnprivatisierung abgestimmt wird?

    Platzeck: Das ist ein schwieriges Thema, das ist doch überhaupt keine Frage, und wo auch Emotionen eine Rolle spielen, wo grundsätzliche Sichten auf die gesellschaftliche Entwicklung eine Rolle spielen, zum Beispiel das Thema, dass in unserer Gesellschaft eine große Skepsis vorherrscht, Daseinsvorsorgefragen der Privatisierung anheim fallen zu lassen. Also ich erinnere an Debatten um Wasserversorgung, um kommunale Verkehrsbetriebe und anderes. Ich kann diese Sorge nachvollziehen, weil ich auch der Meinung bin, dass wir gerade im 21. Jahrhundert sehr darauf achten müssen, dass grundlegende Fragen der Entwicklung, dazu gehören Daseinsvorsorgefragen, auch dem politischen Einfluss nicht entzogen werden. Aber wir haben in einem schwierigen Prozess, glaube ich, ein gutes Papier am Ende zum Thema Bahnreform erarbeitet mit allen kritischen Meinungen auch. Und von daher gehe ich davon aus, dass es heute auch eine Mehrheit findet.

    Thomas: Rechnen Sie bald mit dem großen Krach in der Großen Koalition?

    Platzeck: Das wird mit Sicherheit kein unkompliziertes Herangehen. Die CDU hat sich in den letzten Monaten versucht, ein Mäntelchen der sozialen Gerechtigkeit umzuhängen. Und wir haben jetzt wichtige Themen, ALG I ist ja nur eins, Mindestlohn ist noch ein viel, viel wichtigeres. Das ist ein Thema, was quer durch alle Schichten der Gesellschaft als ein relevantes angesehen wird. Umgang mit Zeit- und Leiharbeit wird uns die nächsten Monate begleiten. Und dann bin ich mal gespannt, ich glaube, das Mäntelchen wird sich ganz schnell als ein zu kurzes bei der CDU erweisen, und von daher werden die Zeiten bestimmt ein bisschen rauer.

    Thoma: Matthias Platzeck, Ministerpräsident in Brandenburg, zum SPD-Parteitag in Hamburg. Vielen Dank für das Gespräch, Herr Platzeck.

    Platzeck: Danke auch, Tschüss.

    Thoma: Tschüss.