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Plötzlich ist es weg!

Eine unangenehme Situation! Beim Einkaufen grüßt Sie jemand, Ihnen fällt aber der Name nicht ein, obwohl Sie das Gesicht schon häufig gesehen haben. Was spielt sich da im Hirn ab, wenn Informationen plötzlich wie Wasser durch ein Sieb ins Nichts rauschen? Ist Altersvergesslichkeit eine Vorstufe der gefürchteten Alzheimerdemenz?

Von Mirko Smiljanic | 17.03.2009
    "77, davon ziehen ich acht ab, das sind 69, 69 davon ziehe ich acht ab, das sind 61."

    Pascal Schmidt von einem japanischen Spielehersteller hält ein weißes, aufklappbares Gerät in Händen, rechts und links je ein kleiner Bildschirm, auf die er mit einem Stift in rascher Folge tippt.

    "61, davon ziehe ich wieder acht ab, dann sind wir bei 53, und von 53 ziehe ich wieder acht ab, dann sind es 45."

    Gehirn-Jogging heißt das Spiel und es dient laut Hersteller gleichermaßen dem Spaß und dem Kampf gegen die Vergesslichkeit. Das Konzept ist einfach: Wer raste, der rostet; wer sich nicht bewegt, bekommt steife Gelenke und schwache Muskeln; und wer wenig denkt, dessen Gehirn wird unflexibel und – bitte nicht wörtlich nehmen – löchrig, will heißen, wer wenig denkt, vergisst viel! Dabei bietet der kleine Gehirn-Trainer übrigens nicht nur Rechenaufgaben.

    "Zum Beispiel wird einem eine Klaviermelodie vorgespielt mit Noten und man sieht auf der Klaviertastatur die verschiedenen Noten und man hört die Melodie. Und jetzt wird einem vorgegeben, wie die Melodie zu spielen ist und man diese Melodie im Takt nachvollziehen."

    Auch diese Übung – sagt Schmidt – stärkt die Funktionen des Gehirns, vor allem seine Fähigkeit, Informationen zu behalten. Die nimmt zunächst einmal ganz natürlich mit den Jahren ab, was fast jeder aus eigener Erfahrung kennt. Namen, Telefonnummern und Wörter – manchmal ist einfach alles weg, als ob jemand die Festplatte "Hirn" gelöscht hätte. Nun ist das Gehirn aber keine Festplatte und Vergessen nicht gleich Löschen. Mediziner unterscheiden drei Gedächtnisarten: Das Kurzzeitgedächtnis, das mittelfristige Gedächtnis und das Langzeitgedächtnis.

    "Das mittelfristige Gedächtnis ist das Gedächtnis, das so im Alltag, wenn wir uns unterhalten, am meisten eine Rolle spielt. Das Kurzzeitgedächtnis ist wirklich nur für Sekunden bis wenige Minuten, während das Langzeitgedächtnis spiegelt das wieder, was früher war. Die Unterscheidung ist, dass das Langzeitgedächtnis auf chemischer Basis funktioniert, das sind dann wirklich feste Strukturen, während die Kurzzeitgedächtnisse eben elektrische Impulse sind. Das sind elektrische Erregungen, die dort ablaufen und die man auch messen kann."

    Erklärt Morad Ghaemi, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie in Köln. Das Langzeitgedächtnis ist wesentlich robuster, weil sich die Informationen als chemische Struktur im Gehirn festgesetzt haben, während sie im mittelfristigen Gedächtnis und im Kurzzeitgedächtnis flüchtige elektrische Impulse sind. Dies erklärt übrigens, warum sich alte Menschen detailliert an Jahrzehnte zurückliegende Ereignisse erinnern, aber nicht mehr wissen, wo ihre Brille liegt. Was jemand behält oder vergisst, hängt zudem von der emotionalen Bedeutung ab. Positive Dinge haften besser im Gehirn als negative, …

    " … was eine sehr gnädige Funktion ist. Daher kommt das ja zum Beispiel auch, dass viele ihre Schulzeit so glorifizieren, weil die negativen Erinnerungen eher verloren gehen und die Positiven bleiben, und so denkt man, früher war alles besser. Früher war natürlich gar nichts besser, früher war alles so wie heute, aber man hat das Schlechte vergessen."

    Wer älter wird, vergisst aber nicht nur das "Schlechte", er vergisst auch Telefonnummern, Namen und wo er seine Brille hingelegt hat. Keine Angst – beruhigt Ghaemi – das ist völlig normal!

    "Es ist ganz einfach so, dass das Gehirn so wie andere Körperteile auch an Funktionen verliert, es verliert an Gewicht, es verliert an Flüssigkeit und Neuronen gehen natürlich unweigerlich zugrunde im Laufe des Lebens. Das ist ein Prozess, der fängt mit dem 20. Lebensjahr an. Das ist aber weniger dramatisch als es klingt, weil es wird sehr gut kompensiert, also ausgeglichen, dass wir durch wachsende Erfahrungen auf der anderen Seite viel besser kombinieren können, das heißt, was wir behalten, können wir besser reaktivieren, besser in den Kontext setzen, und dadurch fällt es in der Regel nicht so stark auf."

    Diese Vergesslichkeit ist bei manchen Menschen allerdings stärker ausgeprägt als bei anderen. Hin und wieder gibt es auch Phasen, in denen einfach nichts mehr haften bleibt im Hirn. Auch dafür hat der Neurologe eine Erklärung. Muss das Gehirn zu viele Informationen speichern und verarbeiten, schaltet es auf Durchzug.

    "Es gibt eine natürliche Aufnahmesperre, weil, irgendwann wird es zu viel. Meistens ist so etwas eher ein Aufnahmestopp als ein Gedächtnisstopp. Man hat das nie richtig ins Gedächtnis reingespeichert, sondern das ist wie man das so volkstümlich sagt, ins eine Ohr rein- und aus dem anderen Ohr rausgegangen."

    Unter Dauerstress stehende Zeitgenossen und überforderte Menschen kennen das Phänomen. Die Therapie ist dabei übrigens ausgesprochen einfach: Weniger arbeiten, mehr Mußestunden einlegen, zur Ruhe kommen – und schon geht es mit dem Gedächtnis wieder bergauf! Allerdings gibt es auch Fälle, in denen das nicht funktioniert, in denen die vermeintliche Vergesslichkeit in eine Altersdemenz übergeht.

    "Kritisch wird es dann, wenn im Alltag ernste Probleme auftauchen, wenn man sich im extremen Fall verläuft in Gegenden, die man sonst kennt, wenn man ständig vergisst, den Herd auszumachen, wenn einem permanent die Worte fehlen und ein flüssiges Gespräch nicht mehr möglich ist. Meist ist so, dass eher Angehörige so etwas merken, wenn jemand an einer Demenz erkrankt ist, merkt es der Betroffene als Letzter eigentlich. Die Patienten, die Angst haben, eine Demenz zu haben, die haben meist keine, und die, die wirklich eine Demenz haben, die werden von den Angehörigen gebracht, weil die das gemerkt haben und der Angehörige selbst das überhaupt nicht festgestellt hat."

    Als Faustregel gilt: Wenn die Vergesslichkeit im Laufe von Monaten schlimmer wird, wenn sich Verlegen und Vergessen wichtiger Gegenstände häufen und wenn der Betroffene ganze Erlebnisbereiche und Gedächtnisinhalte vergisst und sich trotz intensiven Nachdenkens auch später nicht erinnern kann – dann sollte ein Arzt zu Rate gezogen werden. Für alle anderen Fälle gilt: Ruhig bleiben und Gehirn-Jogging treiben. Wer rastet, der rostet!

    "Wie ein Muskel, ist das Gehirn auch trainierbar. Früher dachte man ja, das Gehirn verändert sich nicht, wenn es einmal geprägt wurde, das ist nicht so. Man kann mit bildgebenden Instrumenten feststellen, das bestimmte Hirnareale im Verlaufe der Entwicklung sich verändern, wachsen, auch bei Erkrankten, die einen Schlaganfall hatten, können andere Regionen diese Funktion übernehmen, das heißt, je mehr man macht, desto besser fürs Gehirn, auf jeden Fall."

    Gehirn-Jogging ist eine Möglichkeit, seine Vergesslichkeit zu bekämpfen. Man kann aber auch viel lesen oder eine Sprache lernen – es kommt darauf an, sein Gehirn zu aktivieren. Das schützt auf Dauer vor Vergesslichkeit, es schützt aber auch in gewissem Maße vor der Altersdemenz. Über einen Punkt muss man sich allerdings im Klaren sein: Trainingseffekte – also eine höhere geistige Fitness – erreicht nur, wer regelmäßig und über lange Zeiträume übt. Ab und zu mal etwas zu machen, bringt gar nichts!

    "61, davon ziehe ich wieder acht ab, dann sind wir bei 53, und von 53 ziehe ich wieder acht ab, dann sind es 45."