Dienstag, 16. April 2024

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Poesie und Spiritualität
"Gottes lebendiges Schweigen"

Ist Literatur über Gott im 21. Jahrhundert verpönt? Nicht wenige Lyriker machen Spiritualität zum Thema und geben dem Unaussprechlichen eine Stimme. Sie tun das keineswegs naiv. So stellen sie zum Beispiel die nur scheinbar einfache Frage, ob der Gottesgewisse oder der Zweifelnde spiritueller ist.

Von Burkhard Reinartz | 02.04.2018
    Mann steht in Lichtschacht
    Zeitgenössische Lyriker thematisieren in ihren Gedichten zunehmend spirituelle Fragen (imago / Gary Waters)

    "Zurück und diese Stufen hinunter zu dem alten Schauplatz,
    zum Mond, zu den Sternen, dem Nachtwind. Stunden vergehen,
    und nur die Harfe weit in der Ferne und der Wind
    bewegen sich hindurch. Und bald segelt die graue Scheibe
    der Sonne, von Wolken verdunkelt, darüber hinweg.
    Und jenseits
    davon, wie immer, das Meer endloser Klarheit, von äußerster Ruhe, ein Ort beständigen Beginnens, der in sich enthält, was kein Auge gesehen, was kein Ohr gehört, was keine Hand berührt hat, was nicht im menschlichen Herzen hervorgekommen ist. Diesem Ort, dem Hüter dieses Ortes, ergebe ich mich."

    Dieses ungewöhnliche Glaubensbekenntnis schrieb der amerikanische Poet Mark Strand in seinem österlichen Gedichtzyklus "Gedichte über die sieben letzten Worte" kurz vor seinem Tod im Jahr 2014. Neue Töne in seinem lyrischen Lebenswerk, das eher von spirituellen Zweifeln durchzogen war:

    "Das Siechtum der Engel ist nichts Neues.
    Ich habe sie gesehen wie Bienen kriechend,
    ohne zu fliegen, auf ihren Zungen kauend, statt zu singen.
    So lungern sie herum bei den Bus-Endstationen,
    zeigen ihre Beine, verbergen ihre Flügel,
    Scharwenzeln sich durch ihre kurze Erdenzeit"

    "Neue Offenheit in der Auseinandersetzung mit Gott"
    Johann Hinrich Claussen hat den österlichen Gedichtzyklus Mark Strands übersetzt. Der evangelische Theologe ist ein ausgewiesener Lyrikkenner und hat mehrere Bücher über moderne Poesie veröffentlicht. Er ist Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).
    "Ich bemerke ein ganz neues Interesse an der Religion und ich bemerke, dass die Zugänge zu dieser Religion weniger theologischer oder lehrhafter Art sind als lyrischer Art. Ganz viele Menschen sind auf der Suche nach einer neuen Form von Spiritualität und nach einer Sprache, die ganz anders auch den ganzen Menschen, das Gefühl, die Seele anspricht."
    Johann Hinrich Claussen, Kulturbeauftragter der EKD - Berlin Februar 2016 
    Johann Hinrich Claussen, Kulturbeauftragter der EKD. (Deutschlandfunk/ Andreas Schoelzel)
    In der Literatur des 20. Jahrhunderts war das Sprechen über Religion verpönt. Inzwischen gibt es Schriftsteller, die es wagen, dem Unaussprechlichen eine Stimme zu geben und Spiritualität wieder zum Thema zu machen. Allerdings umfasst ihre Suchbewegung oft auch Zweifel und Unsicherheit.
    "Ich glaube, dass in den letzten paar Jahren eine neue Entspanntheit, eine neue Neugier, eine neue Offenheit in der modernen Gegenwartsliteratur- und Lyrik zu finden ist, sich mit dem Thema Gott auseinander zu setzen. Man muss sich nicht mehr gegen allmächtige Pastorenväter oder andere Schrecklichkeiten abgrenzen, sondern man kann sich auf dieses Feld begeben und schauen, was einem dort begegnet."
    Gott als überkonfessionelle Chiffre für das Unfassbare
    Gedichte und Gebete haben gemeinsame Wurzeln. Sie sind verwurzelt im kultischen Tanz und im Gesang. Das wusste im Jahr 1642 schon der Barockdichter Martin Opitz:
    "Die Poeterey ist Anfanges nichts anders gewesen als eine verborgene Theologie und Unterricht von göttlichen Sachen."
    Eine Verbindung, die seit der Aufklärung, aber spätestens seit den schockierenden Traumata des 20. Jahrhunderts - Weltkriege, Gulag, Holocaust - lange Zeit zerbrochen schien.

    "Im Schiff der kleinen Kapelle links unterm ewigen Licht:
    Wieder die plötzliche Verlassenheit spüren, wenn die Psalmen
    und das gebet ums vollkommene sterben vorüber sind.
    Später springt dich draußen Gottes lebendiges Schweigen an,
    des Todes betäubendes Vorspiel."
    Richard Exner
    "Vielleicht hat meine Mutter Gott aus mir heraus geschnitten
    als ich zwei war und in meinem Laufstall.
    Ist es zu spät? Zu spät, die Narbe zu öffnen,
    ihn neu einzupflanzen?"
    Anne Sexton

    Die Poesie war – von wenigen Exoten abgesehen – im vergangenen Jahrhundert eine gottfreie Zone. Doch nicht nur Johann Hinrich Claussen bemerkt in jüngster Zeit eine neue Tendenz - sondern auch Margit Rugerup, die Verlegerin der Edition Rugerup:
    "Ich finde, in den letzten zehn Jahren kommt immer mehr das Transzendente in die Poesie zurück. Oft auch in Zusammenhang mit Naturpoesie oder eben mit dem expliziten Begriff Gott, den auch Ulrich Schacht in seinen Gedichten verwendet."

    "Wer spielt mit mir? Der Komet,
    der vorbeikam, quer zum Gesetz aller Harmonie
    auch im Lied von der Sonne, dem Mond und den Sternen,
    berührte die Kinderaugen des Mannes
    nachts auf dem First seines Hauses.
    Licht aus Eis, sagt er - und: Schneeball
    von Gott durch die Zeit geworfen - und aufgefangen
    am anderen Ende: von Gott"
    Ulrich Schacht

    Heute verwenden nur wenige Dichter den Begriff "Gott" im christlichen Sinne. Die meisten benutzen ihn als überkonfessionelle Chiffre für das Unfassbare, das dennoch in der Welt wirksam sei. Selbst christliche Dichter wie der Theologe Christian Lehnert bewegen sich in ihrer Lyrik nicht mehr auf dem Boden einer orthodoxen Gottesvorstellung und verweigern sich einem naiven Gebrauchs der Chiffre Gott.
    "Die Fragen nach dem an- und abwesenden Gott ist für heutige spirituelle Menschen eine zentrale Frage geworden, weil wir spüren – stärker vielleicht als frühere Jahrhunderte – wie stark unsere Ausdrucksformen in der Religion ideologisch und geschichtlich überformt sind, wie sie an Grenzen gekommen sind durch Missbrauch über Jahrhunderte. Wir sind heute in einer Situation, wo wir ganz neu buchstabieren müssen: Was ist das eigentlich, Gott? Und wir erleben Gott eben zunächst als etwas, das nicht da ist, wo etwas fehlt, wo man quasi hinübergehen muss aus dem, was man schon kennt und begriffen hat."
    Der Lyriker und Pfarrer Christian Lehnert.
    Der Lyriker und Pfarrer Christian Lehnert. (dpa / picture alliance / Lukas Schulze)

    "Ich habe gelernt wie ein Blinder zu sehen, im Dunkel
    zu lauschen, wann die trockenen Samen rascheln.
    Immer bin ich an dem Punkt, wo gerade die Atmung einsetzt.
    Wie viel Verlassenheit das ist: der Atem, schwebender Stein,
    wie einer von den Haufen, den ich aufrichtete,
    um dem Nachtwind den Namen Gott zu geben,
    ihn zu wiederholen, zu wiederholen, bis ich endlich leer bin,
    alles zu erwarten vermag."
    Christian Lehnert

    "Wunderbare Blasphemie großer alter Mystiker"
    Viele Versuche, Poesie und Spiritualität im christlichen Bereich zu verbinden, wirken heute eher peinlich, meint Johann Hinrich Claussen.
    "Religion und Lyrik sind schwierige Schwestern, weil sie einerseits von ihren Uranfängen miteinander verbunden sind, also wie Zwillingsgeschwister, zugleich sie immer wieder Schwierigkeiten hatten, in ein angemessenes Verhältnis zueinander zu treten. Lange Zeit war die Kunst eine Magd der Kirche, wurde benutzt, um theologische Lehren zu illustrieren - und das lässt sich die moderne Lyrik natürlich nicht bieten. Schlechte religiöse Lyrik sind für mich Gedichte, die eigentlich nur das aussagen, was man meint, theologisch ohnehin schon zu wissen, aber dann in gereimter Form und in Versen, die eine feste Botschaft haben, die immer schon feststeht und nur noch ein anderes Transportmittel braucht."
    Der Lyriker Dieter Gräf sieht das ganz ähnlich wie der Theologe Claussen.
    "Mich interessiert die spirituelle Sichtweise und weniger die religiöse Poesie. Für mich ist der religiöse Ansatz der, der feste Gebäude errichtet: Kirchen, Moscheen, Denkgebäude, Theorien. Der spirituelle hingegen, der Durchlässigkeit möglich macht. Man bewegt sich dann durch alle Wände hindurch."
    Und bei Christian Lehnert heißt es:
    "Für mich haben in der Religion Aussagen über Weltende, Apokalypse, Jüngstes Gericht wesentlich einen poetischen Horizont."
    Der amerikanische Lyriker Stanley Moss arbeitet mit der Chiffre Gott in Bildern, die manche Christen als Blasphemie empfinden könnten.

    Frohlocken:
    "Gott wusch seinen Schoß im Meer.
    Alles, was im Ozean und über ihm lebte,
    frohlockte darüber, dass er da war.
    Der Sand unter den Felsen,
    das Treibholz verlockte. Die glücklich Lebenden
    riefen ihresgleichen zu und frohlockten.
    Als ich noch jung und verschwenderisch war,
    tauchte ich ein in Gottes Schoß und ins Meer.
    Gott sprach zu mir, als ich schwamm
    durch tausend Spiegelungen.
    Sein Gesicht und das meine berührten sich
    wie die Wange Marias die Wange des Sohnes am Grab.
    Gott überflutete mich. Mein Gesicht war in ihm.
    Im Schwimmen, ab und zu, spie ich ihn aus.
    Patschnass kam ich aus seinem Schoß und war sauber.
    Ich wusste, Gott war kalt, eine nasse Wildnis.
    Fröstelnd rieb ich ihn mit dem Handtuch ab
    und hängte ihn an die Wäscheleine zum Trocknen.
    Gott und Handtuch gefiel es dort und sie lachten
    und flatterten ohne Gebote im Wind.
    Vom Strand aus sah ich bis zum Horizont:
    Dort wusch er im Ozean seinen Schoß
    nach einem Tag der Liebe, vor der Gala der Nacht."
    Stanley Moss

    Johann Hinrich Claussen: "Hinreißend, wie Stanley Moss ganz neu und anders, erstaunlich und verblüffend über Gott spricht, wie er dieses alte Wort, das ja auch so eine Verhärtung und Verholzung erfahren hat und ja auch oft genug wie ein Wortgötze durch die Kirchenräume getragen wird, aufweicht und verbindet mit Naturvorstellungen, mit Glückserleben, mit Erfahrung von Entgrenzung. Und ich finde, es ist auch überhaupt nicht blasphemisch, sondern es hat diese wunderbare Blasphemie großer alter Mystiker, die ja genauso frei und ungebunden über Gott gesprochen haben und ihn heraus nahmen aus dieser dogmatischen Kleriker-Ecke."
    Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen, schrieb der Philosoph Ludwig Wittgenstein. Das Wesentliche der Welt und das Wesentliche jenseits der Welt sind unsagbar, gäbe es nicht die Künste, die Musik, die Dichtung. Poesie ist immer an eine materielle Form gebunden, ohne die sie nicht existieren kann. Gleichzeitig können Gedichte über die materielle Form hinauszuwachsen und ein anderes Energiefeld öffnen, sagt der Lyriker Dieter M. Gräf.
    "Die Poesie spricht das Unaussprechliche nicht aus, sie lässt es mitschwingen. Das gibt ihr Möglichkeiten, die ein Aussprechen nicht haben kann. Es entsteht zusätzlich zu dem Ausgesprochenen eine Art Obertonsequenz."
    Spirituelle Erfahrungen auch ohne Gottesbezug
    Auch Dichter, die sich als Atheisten oder als Agnostiker verstehen, ringen in ihrem poetischen Werk mit der spirituellen Dimension des Lebens. So setzt der argentinische Dichter Roberto Juarroz der Gottesgewissheit eine Mystik der Verneinung entgegen:

    "Die Abwesenheit Gottes bestärkt mich.
    Ich kann seine Abwesenheit besser anrufen
    als seine Anwesenheit.
    Die Stille Gottes lässt mich sprechen.
    Ohne seine Stummheit hätte ich überhaupt
    nicht sprechen gelernt.
    Stattdessen
    stelle ich jedes Wort
    in eine kleine Pause der Stille Gottes,
    auf ein Fragment seiner Abwesenheit."

    Die enge Verbindung von Diesseits und Jenseits, wie sie für archaische Kulturen und die griechische Philosophie noch selbstverständlich war, löste sich im Mittelalter auf. Das Jenseits wurde Richtung Himmel ausgelagert, die Erde zum Jammertal erklärt, dem es schnellstmöglich zu entkommen galt. Das Leben in Diesseits und Jenseits aufzuteilen, ist für viele heute nicht mehr akzeptabel. Spirituelle Erfahrungen lassen sich auch ohne einen direkten Gottesbezug machen. Im unspektakulären Alltag oder in der Begegnung mit der Natur. Der schottische Dichter John Burnside betont, wie wichtig es ihm ist, nicht in eine spirituelle Welt zu flüchten, sondern geerdet zu bleiben.
    "Ich fühle mich unwohl, wenn meine Gedichte in Begriffen wie Immanenz und Transzendenz interpretiert werden. Ich bin sehr auf das Hier und jetzt bedacht: Was ist physisch, spirituell, emotional und psychologisch da? Ich glaube nicht an ein Jenseits. Es gibt zwar eine "autre monde", eine andere Welt, aber sie ist hier, aber wir sind dabei den Kontakt zu ihr zu verlieren. Poesie ist eine Erkundung und eine meiner Erkundungen ist der Versuch, die 'andere Welt' zu finden. Sie ist hier."

    "Stell dir einen Gott vor, der aus dem Nichts auftaucht,
    zackige Späne im Herzen, ein abgebrochener Nagel,
    der das Funkeln im Auge
    oder den Schauer im Mark verfolgt,
    und frage dich, ob Beten möglich ist,
    wenn nicht zu Fremden, Strömendem:
    dem Kratzen eines Blattes gegen das Fenster,
    gereizter Haut, die im Dunkeln blüht;
    und ob diese Gebete von der Angst
    oder von irgendeiner anhaltenden Sehnsucht herrühren,
    wie die Laute der Seevögel am Strand in der Dämmerung;
    ob wir zu einem Gott
    oder zur Wucht seiner Abwesenheit beten,
    was zählt ist wie die Geschichte auf ewig
    über die Felder der Verwandlung weiterläuft:
    Schrecken, ein unermesslicher Schritt
    auf dem Weg zur Verborgenheit;
    Verborgenheit, eine heimliche Tür
    zu dem, was jenseits strömt."
    John Burnside

    John Burnside , aufgenommen im Oktober 2017, auf der 69. Frankfurter Buchmesse, in Frankfurt/Main (Hessen)
    John Burnside auf der Frankfurter Buchmesse 2017 (picture alliance/dpa)
    "Die Anziehung des Nihilismus ist eine große Versuchung in der Welt. Die Essenz oder die Geisteshaltung, warum ich Lyrik schreibe, ist der Wunsch, genau dagegen zu arbeiten. Menschen fragen, was ist der Sinn des Lebens? Ich sage: Es gibt keinen Sinn, warum sollte es ihn geben? Und die Leute denken: ganz schön nihilistisch. Aber meine Gedichte sagen: Dieses Leben hier ist genug. Einfach zu sein, ist Freude genug! Warum brauchen wir eine Bedeutung, warum einen Zweck, eine Erklärung? Einfach nur leben, durch die verschiedenen Erfahrungen, von Freude und Schmerz. Ein Teil dieses Ganzen zu sein, ist ein unglaubliches Privileg."

    "Der Mann, der nie betet, bestreitet nicht,
    dass das Weizenfeld im Sommer niederkniet,
    wenn der Wind weht, dass Regen und Schnee
    wortlos die Welt schützen vor der Blasphemie.
    Seine Frau deckt ihn mit einer Decke zu,
    wenn die Nacht kalt ist
    vielleicht ist auch das ein Gebet?
    Der Mann, der nie betet, sagt:
    Freundlichkeit und Gebet sind nicht weit,
    doch Schlaf und Tod sind sich näher.
    Die hohen Festtage feiert er nicht,
    alle Tage sind ihm gleich heilig.
    Eingehüllt in göttliche Fügung, geht er,
    Ende September, schwimmen im Meer"
    Stanley Moss

    Johann Hinrich Claussen: "Dort sind die Gläubigen und dort sind die Ungläubigen, hier sind die Christen und dort sind die Atheisten: Wenn man Gedichte wie das von Stanley Moss über das Beten liest, dann nimmt man wahr, wie unsinnig solche Gegenüberstellungen sind, dass der Mensch, der nie betet, vielleicht eine viel wahrere Frömmigkeit in sich trägt als derjenige, der vielleicht korrekte Gebete nachspricht."
    Transzendente Erfahrungen in der sinnlichen Welt
    Im deutschen Sprachraum gehören Lutz Seiler und Ralf Rothmann zu den Grenzgängern, deren Lyrik zwischen Skepsis und spiritueller Luftigkeit pendelt.

    "Sonntags dachte ich an Gott, wenn
    Wir mit dem Autobus die Stadt bereisten.
    Am Löschteich an der Straße stand
    Ein Trafohaus & drei & vierzig
    Kabel kamen aus der Luft in dieses
    Haus aus hart gebrannten Ziegelsteinen.
    Dort im Trafo an der Straße wohnte Gott.
    Ich sah wie er in seinem Nest aus Kabelenden
    Hockte zwischen seinen Ziegelwänden
    Ohne Fenster dort am Grund
    Im Dunkel an der Straße hinter
    Einer Tür aus Stahl
    Saß der liebe Gott; er war
    Unendlich klein & lachte
    Oder schlief"
    Lutz Seiler

    Dieter M. Gräf: "Normalerweise hat man die Vorstellung, dass Spiritualität etwas Weltverneinendes ist. Ich habe den Eindruck, dass für sehr viele Dichter und auch für Menschen, die heute auf der Suche sein mögen, das entgegengesetzte der Fall ist: dass man durch die sinnliche Welt Erfahrungen machen kann, die diese transzendente Dimension haben."
    Der Schriftsteller Dieter M. Gräf.
    Der Schriftsteller Dieter M. Gräf. (imago / gezett)
    Aus Sicht der Verlegerin Margit Lehbert ist Religiosität ist weiter zu fassen als das Bekenntnis einer Religionsgemeinschaft oder die Lehre einer kirchlichen Konfession. Religiös oder spirituell gestimmt zu sein, bedeute, sich der Grenzen menschlicher Autonomie bewusst zu sein. Es bedeute, zu spüren, dass der Mensch in einen transzendenten Ursprung eingebettet sei, der Gott genannt werden könne oder auch nicht. Sie gibt in der Berliner Edition Rugerup unter anderem Gedichtbände des australischen Dichters Les Murray heraus.
    "Les Murray hat die Idee, dass sich jedes wirkliche Leben und vor allem die Poesie und die Religion zusammensetzen aus dem rationalen alltäglichen Denken und auf der anderen Seite dem Denken, das aus der Traumwelt kommt."

    Die Starkstromleitungsinkarnation
    "Weit in der Ferne höre ich wie gewaltige Unterbrecher umgelegt werden
    und mich vermindern. Eine Bedeutungslosigkeit kommt über den Stromkreis
    Der Gott verlässt mich
    aber ich bin in den Hauptstrom eingetaucht
    habe die Schaubilder übersprungen
    habe die erhärtende Musik überquert
    bis hin zum großen, leeren Ort
    wo die festgeschnallten Suchenden, weiße Kleidung nässend,
    hinkommen, um sich den Zeitgeist zeigen zu lassen
    Leidenschaft und Tod meiner Haut
    mein Herz ganz Logik, ich hatte meine Sternstunde
    und muss nun bald verglühen
    ich habe den Gott der Gegenwart gesehen
    Es - das nichts fühlt
    Es - das Gebete erhört"

    Das Sprechen über Gott und Religion ist heute keine Tabu mehr. Anders als in den vergangenen Jahrhunderten klingt es allerdings oft gebrochen und von Zweifeln durchzogen - was zur Frage führt: Wer ist spiritueller: derjenige, der sich Gott sicher ist oder der ihn zweifelnd umkreist? Dem Dichter Mark Strand ist es in seinen österlichen "Gedichten nach den letzten sieben Worten" meisterlich gelungen, die Dunkelheit der menschlichen Existenz und freudige Gelassenheit auszubalancieren.

    "Dies sind die Tage im Frühling, wenn der Himmel erfüllt ist
    vom Duft des Flieders, wenn aus Dunkelheit Begierde wird
    und es gar nichts gibt, das nicht wünschte, geboren zu werden;
    Tage, wenn das Schicksal der Gegenwart eine luftige Fülle ist,
    wenn die große Begabung der Welt zu dichten sogar den Schmutz,
    auf dem wir gehen, zum Glänzen bringt, und wir das Gefühl haben,
    wir könnten ewig leben, aber das können wir nicht. Dies ist unser Los.
    Der Meister des Wetters und von allem Sonstigen, wenn er will,
    kann er ein Dunkel hervorbringen von einer anderen Art, das so tief
    in Dunkelheit verborgen ist, dass es nicht zu sehen ist. Niemand entkommt.
    Nicht einmal der Mann, der glaubte, er wäre dazu auserwählt,
    denn als das Dunkel herabkam, schrie er auf, 'Vater, Vater,
    warum hast du mich verlassen?' Worauf er keine Antwort erhielt."