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Poetische Fluchthilfe aus dem falschen Leben

In dem Buch "Mann mit den zwei Augen" lässt der Autor Matthias Zschokke seine Figur ausgerechnet dort nach dem Leben suchen, wo es vermeintlich nicht stattfindet: Der Mann zieht, nachdem er Katze und Frau verloren hat, auf der Suche nach sich selbst nach Harenberg, einer fiktiven Metropole von Allgemeinplätzen.

Von Michaela Schmitz | 30.10.2012
    Was, wenn einer ausgerechnet dort nach dem Leben sucht, wo es vermeintlich nicht stattfindet? In den Augenblicken größter Langeweile, im verpassten Moment, in der falschen Bewegung, beim Aneinander-Vorbeireden, in der völlig unpassenden Reaktion, im total verpatzten Liebesspiel.

    Matthias Zschokke lässt seinen "Mann mit den zwei Augen" im gleichnamigen Roman genau dort danach suchen. Die richtige Frau hört der Mann im Kirchenchor gleich am falschen Gesang heraus. Beim Liebesspiel reiben sich die beiden leidenschaftslos aneinander wie Tiere ihr juckendes Fell am Baum. Über 30 Jahre lang leben sie, wie aus Versehen, in einer Wohnung. "Der Mann mit den zwei Augen" hält der Frau gerne lange philosophische Monologe. Die Frau antwortet mit Unverständnis und naiv-komischen Sprechblasen wie: "Sie plage nicht nur Wissensdurst, sondern Magenknurren und Lust auf Wurst". Eines Tages folgt die Frau der Katze in den Tod. Der Mann zieht auf der Suche nach sich selbst nach Harenberg, der fiktiven Metropole der Allgemeinplätze. Doch dort hält man ihn, wie immer, für einen anderen. Völlig ungerührt plant er daraufhin seinen Selbstmord. Doch statt sich zu erhängen, strandet er versehentlich hinter der Bar des Nachtklubs von Rosaura. So zumindest könnte die Geschichte enden, bemerkt der Erzähler direkt zum Leser gewandt.

    Denn die Geschichte vom "Mann mit den zwei Augen" und der Frau ohne Eigenschaften meint keinen, aber trifft jeden. Die grob skizzierten, farblosen Darsteller sind stilisierte menschliche Schattenrisse ohne jede emotionale Tiefe. Ihr Leben ist so banal und beliebig wie universell.

    "Wie ich rätselt bestimmt die halbe Welt von morgens bis abends an sich herum und stirbt, ohne etwas begriffen zu haben. (...) Alle bringen doch alles nur noch so schnell wie möglich hinter sich, in der Hoffnung, endlich an den Punkt zu gelangen, an dem für einmal etwas mit seinem Namen zusammenfällt, was man dann erleichtert mit seiner eigenen Gegenwart (...) ausfüllen möchte. Doch keiner kommt jemals beim Eigentlichen an."

    Es ist, so scheint es, kein wahres Leben im falschen möglich. Denn das Leben erweist sich als Attrappe. Die Welt ist ein Simulationsmodell. Wie ferngesteuerte Textautomaten bewegen sich die Figuren in einer Pseudo-Realität und sondern pausenlos ausdruckslose Sprechblasensätze ab, die im toten Raum verpuffen. Ihr Denken ist so eng wie die künstlichen Räume, in denen sie herumstehen wie seelenlose Möbelstücke. Miteinander reden gleicht einem ritualisierten Missverstehen. Zusammen ist man einsamer als allein. Und "Liebe ist kälter als der Tod", möchte man mit Rainer Werner Fassbinders sprichwörtlich gewordenem Filmtitel schließen.

    Hier irgendwo zwischen den Kunstfilmen Rainer Werner Fassbinders und den Lehrstücken Bertolt Brechts ist Matthias Zschokkes Parabel vom "Mann mit den zwei Augen" zu verorten. Wie der Film- und Bühnenklassiker setzt Zschokke substanziell Alltägliches in stilisierte Bilder von extremer Künstlichkeit um. Seine Figuren wirken, ähnlich den Darstellern in Fassbinders Filmen, "wie verschneit von innen". Die emotionale Kälte findet im völlig distanzierten formalisierten Sprechen ihren Ausdruck. Es ist ein Ausdruck ohne Leiden und ein Leiden ohne Geschmack. Der Mann und die Frau bleiben auch nach 30 Jahren beim Sie - sogar noch im fingierten Abschiedsbrief der Frau; einem im emotionsfreien Beamtendeutsch formulierten und in seiner unsentimentalen Förmlichkeit traurig-komischen Dokument vom Charme einer juristischen Stellungnahme. Der Tod ist eben genauso wenig authentisch wie das Leben. Ein Leben, das in Zschokkes Geschichte vom "Mann mit den zwei Augen" in eine scheinbar beliebige Aufeinanderfolge künstlich ausgeleuchteter Studioszenen zerfällt. Im Bühnenlicht und durch die Verfremdungseffekte werden die Sequenzen zum Modell eines falschen Lebens, das der Leser mit seinem eigenen vergleicht. Dessen Sehnsucht nach echtem Leben und wahrer Liebe wird doppelt enttäuscht. Fast zwangsläufig wächst daraus die Wunschfantasie nach einer neuen, besseren Realität: einer Utopie. Denn ohne Utopie, weiß Bardame Rosaura, ist der Mensch nicht mehr als ein Insekt:

    "Wenn Sie sich heute Abend aufhängen, würden Sie sterben, (...) ohne gelebt zu haben, (...) und ob sie da sind oder nicht, das hat keinen Einfluss auf den Fortlauf der Dinge. (...) Bei Tieren nimmt man das hin, bei sich selbst weniger gern. (...) Insekten zum Beispiel (...) kommen auf die Welt, leben ihr Insektenleben, werden zertreten aus Versehen und sind weg. (...) So ein Insektenleben fristen Sie und ich. (...) Man setzt einen Schritt vor den anderen, und eines Tages fällt man um und ist tot. Ein Drama ergibt das natürlich nicht."

    Nein, ein Drama ergibt das wohl nicht. Aber ein melodramatisches Lehrstück vielleicht doch. Denn wer will schon als lästiges Insekt versehentlich zertreten werden? Für den Leser beginnt die Geschichte nämlich erst dann, wenn der Roman zu Ende ist. Die tote Erzählung soll im Kopf der Leser lebendig und im Bezug auf seine eigene Wirklichkeit weiterfantasiert werden. Denn vielleicht gibt es ja doch ein wahres Leben hinter dem falschen?

    Hinter Matthias Zschokkes stilisierten Angstbildern vom falschen Leben wütet jedenfalls der Zorn über die schale Wirklichkeit, hinter der Beziehungs- und Kommunikationsunfähigkeit seiner marionettenhaft ferngesteuerten Figuren steht der unbedingte Glaube an die Liebes- und Mitteilungsbedürftigkeit des Einzelnen. In seiner in Künstlichkeit erstarrten negativen Utopie fordert Zschokke den Leser dazu auf, selbst das positive Gegenbild einer besseren Realität zu entwickeln. In den puppenhaften Darstellern, den ungerührten Dialogen und der gekünstelten Inszenierung verfremdet Zschokke die Welt zu einer Kunstwelt, bis sich die Wirklichkeit als Projektion erweist. Gerade das Unrealistische soll die Leser paradoxerweise näher zu ihrer eigenen Realität und darüber hinaus zur Utopie einer besseren Wirklichkeit führen. Denn die Veränderung soll schließlich nicht im Roman stattfinden, sondern im Leben. Aber ist das Literatur? Nein, wenn man darunter die poetische Fluchthilfe aus dem falschen Leben in eine schöne bessere Kunstwelt erwartet. Ja, wenn man Literatur im Sinne der Konzeptkunst als Anstoß eines künstlerischen Prozesses versteht, der erst im Kopf des Lesers stattfindet. Matthias Zschokkes "Mann mit den zwei Augen" ist Konzeptliteratur. Die Idee ist gut, ausgerechnet dort nach dem Leben zu suchen, wo es vermeintlich nicht stattfindet. Doch leider liest sich der Text in weiten Teilen so sperrig, dass der Prozess gleich im ersten Befremden darüber steckenzubleiben droht.


    Matthias Zschokke: "Der Mann mit den zwei Augen", Roman, Wallstein Verlag 2012, 240 Seiten, 19,90 Euro.