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Poetische Zeichen der Zeit

Der Dichter Heinrich Kleist hatte eine Sensibilität für die Wandlungen des frühen 19. Jahrhunderts. In seinen Schriften reflektierte er soziale Veränderungen in sprachlichen Feinheiten. Noch 200 Jahre nach seinem Tod entdecken Literaturwissenschaftler neue Zeichen der Zeit.

Von Thomas Frank | 11.08.2011
    Heinrich von Kleist wurde Zeuge eines epochalen politischen Umbruchs: Nachdem Preußen 1806 die Doppelschlacht von Jena und Auerstedt gegen Napoleon verloren hatte, geriet es dermaßen an den Rand seiner Existenz, dass ein neues politisches System unerlässlich wurde. Das Modell des Souveräns hatte ausgedient, umfassende verwaltungstechnische Reformen sollten Preußen in einen modernen Staat verwandeln, der nichts weniger im Sinn hatte als die Menschheit zu veredeln. Mit dem Übergang zum neuen Machttyp, den der französische Historiker Michel Foucault "Biopolitik" nennt, ändert sich auch der Stellenwert des menschlichen Lebens für die Politik:

    "Das alte Modell der Souveränität zeichnet sich Foucault zufolge dadurch aus, dass die Macht des politischen Oberhaupts im Recht besteht, seine Untertanen töten zu dürfen, wenn es darum geht, die soziale Ordnung vor gesetzlosen Übeltätern zu schützen. Moderne Politik hingegen, wie sie sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts herauszubilden beginnt, hat ein problematisches Verhältnis zu dieser Tötbarkeit des Menschen. Die Debatten um die Todesstrafe etwa sind nur ein Zeichen dafür, dass sich der neue Machttyp durch die umfassende Sorge um das physische Dasein der Bürger und Bürgerinnen definiert, und zwar bis heute. Es geht nämlich darum, das menschliche Leben zwecks Reproduktion zu optimieren, man kann etwa an die aktuellen Diskussionen zur Sterbehilfe oder Präimplantationsdiagnostik denken."

    Laut Davide Giuriato, Literaturprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität München, schlägt sich der Wechsel der Machttypen in Kleists literarischem Schaffen nieder. Kleist erweise sich als brillanter Analytiker sowohl des vormodernen Modells der Souveränität als auch der modernen Biopolitik. Am deutlichsten zeige sich das an der Erzählung "Michael Kohlhaas". Im ersten Teil trifft der Leser auf den Rosshändler Kohlhaas, der sich aus einem verletzten Rechtsgefühl heraus von einem mustergültigen Bürger in einen entsetzlichen Verbrecher verwandelt. Hier beschreibt Kleist vor allem einen Rechtsfall, der staatspolitische Ausmaße annimmt. Im Schlussteil der Erzählung erfolgt allerdings ein rätselhafter Bruch. Überraschenderweise gibt Kohlhaas seine starrsinnigen Forderungen nach Gerechtigkeit auf:

    "Wie ich glaube, geht es ihm vielmehr darum, das Leben und das Überleben seiner Kinder zu garantieren. In diesem Sinne, würde ich sagen, handelt er eben nach den Maßstäben moderner Biopolitik."

    Doch um seinen Kindern ein gutes Leben zu sichern, muss Kohlhaas sich der Staatsgewalt beugen und einen "ehrlichen" Tod sterben, den Tod durch das Schwert. Wenn Kohlhaas aber stirbt, was hat es dann mit dem mysteriösen "Wunderblatt" und der Prophezeiung auf sich, die Kohlhaas am Schluss der Erzählung von einer Zigeunerin erhält:

    "Verwahr‘ es wohl, es wird dir dereinst das Leben retten!"

    Auch diese Frage lässt sich Giuriato zufolge nur biopolitisch beantworten. Das Leben des Kohlhaas wird nämlich insofern gerettet, als er für das Überleben seiner Kinder stirbt. Sein Tod garantiert den Nachfahren ein gutes Leben in der Zukunft, und insofern bestätigt der Text die Diagnose, wonach das gute Leben der einen durch den Tod der anderen zu haben ist. Der Kurfürst von Sachsen hingegen geht an diesem mysteriösen Zettel zu Grunde:

    "Der Kurfürst von Sachsen kam bald darauf, zerrissen an Leib und Seele, nach Dresden zurück, wo man das Weitere in der Geschichte nachlesen muss."

    "Zuletzt stirbt dieser Souverän, während mit den letzten Worten des Textes die Kinder des Kohlhaas überleben. Damit könnte man sagen, wird auch das alte Regierungsmodell von einer modernen Biopolitik abgelöst."

    Der Wechsel von der Souveränität zur Biopolitik wirkt sich aber noch auf etwas anderes aus: darauf, wie sich ein Subjekt selbst wahrnimmt. Grundsätzlich definiert sich das Subjekt über den Blick auf das Andere. In der alten politischen Ordnung waren die Verhältnisse zwischen den Subjekten klar festgelegt: wer ist oben, wer ist unten, wer ist schwarz, wer ist weiß. Dadurch war die Identität des Subjekts immer klar bestimmt. Der Niedergang der alten Souveränität aber führte nicht nur zu einer Wandlung der politischen Ordnung, sondern auch zu einer Auflösung der gewohnten Sichtweisen. Laut Christian Metz, Literaturwissenschaftler von der Goethe-Universität Frankfurt, beweist gerade Kleist ein ungeheures Gespür für derartige Verunsicherungen. Kleist habe auf sie mit einer Poetik der Unschärfe reagiert.

    "Der konzipiert – so wäre meine These – Texte, in denen die literarische Form von Unschärfe hochvirulent wird auf allen Ebenen des Textes und in denen reflektiert wird: Wahrnehmung an sich, wie funktioniert das überhaupt? Wie funktioniert dann Subjektbildung, wenn unsere Wahrnehmung etwas verunsichert ist und nicht alles klar sieht, wie funktioniert das Sich-Orientieren in Welt? Und genau diese Fragen reflektiert er anhand seiner Unschärfe."

    Ein Paradebeispiel für Kleists Poetik der Unschärfe bildet - Metz zufolge - die Erzählung "Die Verlobung in St. Domingo", die von der scheiternden Liebe zwischen dem weißen Gustav und der "Mestizin" Toni handelt. Der Text spielt in Haiti um 1800, als die "schwarzen Sklaven" gegen ihre "weißen Kolonialherren" um Freiheit kämpften. Kleist verkürzt allerdings die komplexen historischen Ereignisse derart, dass ihm seitens der Forschung immer wieder latenter Rassismus vorgeworfen wurde. Für Christian Metz geht es Kleist jedoch nicht darum, eine rassistische Parole zu proklamieren, sondern Wahrnehmungsweisen des Anderen, Fremden, weit Entfernten durchzuspielen:

    "Ich würde sagen, dass dieser literarische Text die Wahrnehmung dazwischenschaltet und also ausstellt, wie Wahrnehmung funktioniert, und dass dort dieser unscharfe Blick, das Phänomen der Unschärfe eine entscheidende Rolle spielt und dass das Ergebnis von unscharfer Wahrnehmung dann solche rassistischen Stereotype sind und damit wäre die rassistische Stereotype zwar immer noch Teil des Textes, aber sie ist dem eigentlichen Wahrnehmungsprojekt nachgeordnet."

    Ein Beispiel für unscharfe Wahrnehmung findet sich gleich zu Beginn der Erzählung, als Gustav auf die schwarze Babekan und deren Tochter Toni trifft:

    "Demnach traf es sich, dass in der Finsternis einer stürmischen und regnigten Nacht, jemand an die hintere Tür seines Hauses klopfte. Die alte Babekan öffnete das Fenster, und fragte: wer da sei? 'Bei Maria und allen Heiligen,' sagte der Fremde leise: 'beantwortet mir, ehe ich euch dies entdecke, eine Frage! Seid ihr eine Negerin?' Babekan sagte: nun, ihr seid gewiß ein Weißer, daß ihr dieser stockfinstern Nacht lieber ins Antlitz schaut, als einer Negerin!"

    "Also genau diese Konstruktion, dieses Stockdunkle, Neblige, nichts zu Erkennende, dann aber schemenhafte Wahrnehmung, die Augen, denen man nicht mehr trauen kann, die Blicke, die eben keine Auflösungskraft haben, und die vor allem in Dunkelheit ja nur schwarzweiß erkennen, das heißt ein farbloser Raum, der dort erst einmal entworfen wird."

    Nicht nur im Inhaltlichen, sondern auch auf der Ebene, wie erzählt wird, spielt "Die Verlobung in St. Domingo" Unschärfen durch. Als etwa Gustav und Toni sich in der Verlobungsszene sehr nah kommen, ihre Tränen sich vermischen, alles auf eine sexuelle Vereinigung hinausläuft, der Text jedoch mit dem Satz abbricht:

    "Was weiter erfolgte, brauchen wir nicht zu melden, weil es jeder, der an diese Stelle kommt, von selbst lies’t."

    Der Erzähler verweigert sich seiner Aufgabe und lässt die Vorstellungsbilder des Lesers im Unklaren verschwimmen. Für Metz spiegelt sich in Kleists Poetik der Unschärfe ein grundlegender Skeptizismus wider: Zum einen gegenüber der menschlichen Wahrnehmung, zum anderen gegenüber der sprachlichen Darstellung. Damit offenbart sich Kleist als ein Vorläufer einer Ästhetik der Unschärfe, die in der Kunstgeschichte längst etabliert ist, in der Literaturwissenschaft aber noch ein Randdasein führt.