Freitag, 19. April 2024

Archiv

Polen
Die Zivilgesellschaft wacht auf

Der Vorsitzende der rechtskonservativen Partei PiS, Jaroslaw Kaczynski, macht kein Hehl daraus, dass er Polen von Grund auf verändern will. Solidarischer solle es werden, aber auch patriotischer. Für das größte Aufsehen sorgte in diesem Jahr allerdings, wie die Regierung mit Kontrollinstanzen umgeht.

Von Florian Kellermann | 31.12.2016
    Eine Menschenmenge vor dem Parlamentsgebäude in Warschau hält Banner und Fahnen in die Höhe.
    Demonstranten vor dem Parlamentsgebäude in Warschau (picture alliance /dpa /Marcin Obara)
    So viele Menschen haben in Polen seit Jahrzehnten nicht mehr öffentlich protestiert. An einem Wochenende im Spätsommer kamen über 100.000 in die Innenstadt von Warschau. Auch Tadeusz Jakszewski war dabei, ein 54-jähriger Dolmetscher für Italienisch. Zum letzten Mal habe er sich vor der demokratischen Wende politisch engagiert, sagt er:
    "Wir haben 27 Jahre lang in einem demokratischen Staat gelebt. Leider nimmt man bestimmte Freiheiten nicht wahr, solange man sie genießt. Deshalb bildet sich jetzt erst eine Zivilgesellschaft heraus, direkt auf der Straße. Das erinnert mich an die 1980er-Jahre. Da gab es auch einen Ruck - und plötzlich haben wir gespürt, dass jeder die Geschichte mitgestalten kann."
    Die Regierungspartei PiS wirbelte das Land in diesem Jahr mächtig auf
    Zurzeit beteiligt sich Tadeusz Jakszewski an einem Protest vor dem Parlament. Er unterstützt damit Oppositionsabgeordnete, die den Plenarsaal besetzt halten. Grund dafür ist, wie die Abstimmung über den Haushalt ablief, kurz vor Weihnachten. Der Streit zwischen den Fraktionen eskalierte so sehr, dass die Opposition die Rednertribüne besetzte und der Parlamentspräsident die Sitzung einfach in einen anderen Raum verlegte. Dort hatten - bis auf zwei andere Abgeordnete - nur Mitglieder der regierenden PiS-Fraktion Zutritt. Ein klarer Gesetzesbruch und ein Schlag gegen die Demokratie, sagt Tadeusz Jakszewski:
    "Wir wechseln uns hier vor dem Parlament ab. Ich habe gerade eine Schicht von 24 Stunden hier angetreten, meine Mitstreiterin vorher war auch 24 Stunden vor Ort."
    Die rechtskonservative Regierungspartei PiS wirbelte das Land in diesem Jahr mächtig auf. Zunächst der Streit um das Verfassungsgericht. Die Regierung versuchte, dessen Arbeit zu blockieren und erließ dafür mehrere Gesetze. Schon im Januar leitete die EU-Kommission deshalb ein Verfahren gegen Polen ein, sie sieht den Rechtsstaat in Gefahr.
    Inzwischen habe es die PiS geschafft, das Gericht als Kontrollinstanz auszuschalten, sagen ihre Kritiker, so der ehemalige Präsident des Gerichts Jerzy Stepien:
    "Das Gericht ist so gut wie kalt gestellt. Ich hoffe, dass es wenigstens bis Juni noch einige Lebenszeichen gibt - so lange sein gegenwärtiger Vizepräsident Biernat noch im Amt ist."
    Die mit Abstand populärste politische Kraft in Polen
    Spätestens zur Jahreshälfte werden im Richterkollegium Juristen die Mehrheit haben, die vom amtierenden Parlament gewählt wurden. Einen Konflikt mit der Regierung dürfte es dann nicht mehr geben, meinen Beobachter.
    Mehr Erfolg hatte der sogenannte "Schwarze Protest". Frauen gingen auf die Straße, um ein noch restriktiveres Abtreibungsgesetz zu verhindern. Eine Bürgerinitiative hatte es eingebracht und verlangte, dass selbst vergewaltigte Frauen ihr Kind austragen müssen. Obwohl die katholische Kirche das Gesetz unterstützte, verwarf es die PiS-Mehrheit, die sich sonst betont katholisch gibt.
    Auch hier brachte der Widerstand ein neues politisches Bewusstsein, sagt Joanna Piotrowska von der Stiftung "Feminoteka":
    "Für viele Frauen haben da eine Barriere überschritten, sie haben ihre Ängste überwunden und in eigener Sache gesprochen. Ich hoffe, dass sie diesen Mut behalten und sich künftig auch in anderen Fragen für ihre Rechte einsetzen."
    Über eines jedoch können die Proteste nicht hinwegtäuschen: Die Regierungspartei ist nach wie vor die mit Abstand populärste politische Kraft in Polen. Einer der Gründe dafür: Sie hat ein neues Kindergeld eingeführt, von dem viele Familien profitieren.