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Polen neu entdecken

Das Buch "Alphabet der polnischen Wunder" will mit 130 äußerst informativen und kurzweiligen Essays Stereotypien über das Nachbarland unterlaufen. Mit viel Hingabe und interessanten wie skurrilen Informationen zeichnen die polnischen Autoren ein neues Bild ihres Landes.

Von Marie Luise Knott | 14.12.2007
    Das Wunder, das mir auf meinen ersten Reisen nach Polen Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre begegnete, waren die Frauen. Anders als in der DDR kleideten sie sich elegant, farbbewusst und nach westlichem Chic, außerdem waren sie klug und wichtig. Frauen erhellten das realsozialistische Grau. Auf den fliegenden Straßenmärkten kursierten zerfleddernde Hochglanz-Modezeitschriften mit Schnittmustern zu Höchstpreisen, die Kranführerin Anna Walentynowicz kämpfte mit Walesa auf der Danziger Werft, und im Zentrum von Warschau residierte die Verlegerin Itena Szymanska. Um es gleich zu sagen: Mein "Wunder", die Frauen, finden sich in dem soeben erschienenen Band "Das Alphabet der polnischen Wunder" verdeckt unter verschiedenen Stichworten wie "Schöne Frauen" oder "Geburtenrate". Unter F im Alphabet findet man als letzten Eintrag die legendäre Galerie "Foksal", das "Mekka der polnischen Konzeptkunst". Hier sollten, so der damalige Slogan, "die bindenden Gesetze der Welt ihre Gültigkeit verlieren" - ein zutiefst antitotalitäres Programm.

    Was wissen wir von unserem Nachbarn Polen? Das Gas aus Russland ist ein Zankapfel, der militärische Schulterschluss mit den USA ein Ärgernis, die Kaczinski-Brüder eine Katastrophe, ebenso wie die Auftritte der Vertriebenen-Chefin Steinbach, die alle Vorurteile der Polen gegen "die Deutschen" locker bedient.

    Dieses Land, mit seiner Angst, noch einmal zwischen Deutschland und Russland zerrieben zu werden, war schon immer ein Hort der Projektionen, fremder wie eigener. Der gekränkte Nationalstolz ebenso wie die Polenwitze geben davon beredtes Zeugnis.

    Der Band "Alphabet der polnischen Wunder" will mit seinen 130 äußerst informativen und kurzweiligen Essays all diese Stereotypien unterlaufen, weshalb die Herausgeberin Stefanie Peter in diesem "Wörterbuch" Stichworte wie "England", "Landkarte", "JP II" , "Rapallo-Komplex" oder "Sonderwirtschaftszone" mit Erzählungen aus dem Reich der kollektiven Fantasie vermischt hat, vor allem aus Literatur und Kunst. Nebenbei gewährt der Band Einblicke in den postkommunistischen Neusprech: Man erfährt, warum die Straßenbahnen Helmutys, die Veteranen von Solidarnosz Styropor und Menschen, die andere imitieren, Kserobojs heißen. Die "Landbewegung polnischer Literaten" aus dem 19. Jahrhundert fehlt ebensowenig wie die jüngste Debatte über die Lustracja, die Öffnung der Geheimdienstakten. Auch der Ort Dukla von Andrej Stasiuk hat einen eigenen Eintrag ebenso wie die vielen symbolträchtigen Tiere des Landes. Frei assoziierend und im besten Sinne respektlos arbeiten die Autoren hartnäckig an einer Auflösung unserer eingefahrenen Gewissheiten und bringen den Dialog zwischen den Kulturen zum Schwingen.

    Seinen Anfang genommen hat dieses außergewöhnliche Projekt im Büro Kopernikus, mit dem die Kulturstiftung des Bundes im deutsch-polnischen Jahr 2006, wie es hieß, den Kulturaustausch befördern und "Initialzündungen" liefern wollte. Solche Initiativen laufen meist Gefahr, sich in ein paar Veranstaltungen und viel gutem Willen zu erschöpfen. In diesem Falle - und das ist ein Glücksfall - haben die polnischen und deutschen Autoren - darunter der Schriftsteller Karl Markus Gauß, der Polenkenner und Übersetzer Martin Pollack, der Verleger Pawel Dunin-Wasovicz und die Dramaturgin Dorota Sajewska - uns all ihre Kenntnisse schwarz auf weiß zusammengetragen. Doch das Alphabet versteht sich explizit in keinem Moment als besseres Geschichtswerk.

    Unter dem Stichwort "Solidarnosz" etwa steht gerade, was man in keinem Geschichtsbuch findet. Erstens: Zu Beginn der Bewegung Ende der 1970er Jahre ging innerhalb eines Monats der Alkoholkonsum um 80 Prozent zurück, was die Machthaber zu Recht sehr beunruhigte. Zweitens: Der Name Walesa kommt von dem Wort " sich herumtreiben", und auch Walesa war vor Solidarnosz-Zeiten einer "fauler Hund", wie er selbst sagte. Die dritte Geschichte aber, die man erfährt, erzählt davon, wie es war, als Walesa, der gelernte Elektriker, nach der samtenen Revolution von 1989 als Staatspräsident in die Weltpolitik geriet. Als Gast im Buckingham Palace wies er die britische Queen auf ihre defekten Steckdosen hin. Ob die Queen die Mahnung tatsächlich nicht hörte oder nicht hören wollte, ist unbekannt. Bekannt wurde, so der Autor, dass es aufgrund defekter Stromleitungen kurz danach im Palast brannte. Si non e vero e ben trovato!

    Den Fetisch der objektiven Wahrheit über Bord zu werfen - ein Anspruch an dem ein solches Projekt sowieso hätte scheitern müssen - schafft Freiheit und die Möglichkeit, zu Wahrheiten jenseits der Gesellschafts- und Politikdiskurse zu gelangen. Auch in den farbigen Illustrationen von Maiej Sienczyk werden Fundstücke der Realität derart mit Imagination angereichert, dass neue Wahrheiten entstehen. Zu den "Mythen des Alltags" gehören nicht nur Mohairperücken (ein weiteres skurriles Stichwort), sondern auch das legendäre Fußballspiel Deutschland gene Polen bei der Weltmeisterschaft von 1974. Damals bescherte das "Wunder" des Platzregens den Deutschen den Sieg - unverdientermaßen, wie man in Polen weiß.

    Mit viel Hingabe und interessanten wie skurrilen Informationen stricken in diesem Wörterbuch die polnischen Autoren auch an einem - anderen - Nationalgefühl. Am Ende weiß man: Auch wenn es wahrscheinlich kein Frauenwunder mehr gibt, sollte man unbedingt einmal wieder hinreisen - das "Alphabet der polnischen Wunder" im Gepäck.


    Stefanie Peter (Hg.): Alphabet der polnischen Wunder
    Illustriert von Meciej Sienczyk
    Suhrkamp Verlag, 329 Seiten