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Polen
Wie Geschichte umgedeutet wird

In Polen regiert seit einem Jahr die rechtskonservative PiS-Partei. Sie hat dem Land eine "gute Wende" versprochen, und das soll wohl auch eine Wende in der Geschichtswahrnehmung sein. So sollen etwa Debatten über polnische Verbrechen während des Zweiten Weltkriegs möglichst beendet werden. Diese Haltung vertritt auch der Journalist Pawel Lisicki in seinem vieldiskutierten neuen Buch.

Von Florian Kellermann | 21.11.2016
    Der polnische PiS-Chef Jaroslaw Kaczynski vor dem Logo der Partei.
    PiS-Chef Jaroslaw Kaczynski (AFP / Janek Skarzynski)
    Im Titel des neuen Buches von Pawel Lisicki gibt es ein Fragezeichen, das einen entscheidenden Unterschied macht. Das Buch heißt: "Blut an unseren Händen?" Das Fragezeichen dahinter verweist für den Autor auf eine groß angelegte Geschichtsfälschung. Auf über 600 Seiten schreibt Lisicki gegen die Behauptung an, die Polen hätten eine Mitverantwortung am Holocaust. Diese Behauptung, die angeblich immer öfter wiederholt werde, sei nicht nur ungerecht, sie beraube die Polen des Gedenkens an ihre eigenen Opfer:
    "Die Existenz von polnischen Opfern [...] - Hunderttausende Christen, die getötet wurden, weil sie Polen waren, passt nicht zur schwarz-weißen Erzählung, in der es Opfer gibt (Juden), eine kleine Gruppe von Gerechten [unter den Völkern] [...] sowie Folterknechte und ihre Henker (Deutsche und der ganze Rest der Christen). Deshalb kommt es immer öfter vor, dass der polnischen Leiden nicht gedacht wird […]. Alle haben Blut an den Händen, alle müssen Blut an den Händen haben."
    Polen sollen patriotischer werden
    Diese - in seinen Augen - grundfalsche Sicht auf den Zweiten Weltkrieg nennt Lisicki "die Holocaust-Religion". Er spricht auch davon, dass der Holocaust "sakralisiert" werde. Das sei für viele Nationen, die unter dem nationalsozialistischen Deutschland gelitten hätten, schlimm, besonders aber für Polen:
    "Während im Zweiten Weltkrieg nach verschiedenen Schätzungen rund sechs Millionen Juden gestorben sind, waren es zwischen zwei und drei Millionen Polen. Also immerhin ein Drittel der jüdischen Opfer. Nehmen wir hinzu, dass Polen nach dem Krieg seine Unabhängigkeit de facto verloren hat, dass seine Elite vernichtet wurde, dass seine Grenzen verschoben wurden. Dann sehen wir, wie gigantisch diese Verluste waren."
    Pawel Lisicki ist Chefredakteur der Wochenzeitung "Do rzeczy" – auf Deutsch: "Zur Sache". Das Blatt sympathisiert mit der amtierenden polnischen Regierung, der rechtskonservativen Partei PiS. Geschichtspolitik hat diese zu einem ihrer Hauptthemen erklärt: Die Polen, so das Ziel, sollen wieder patriotischer werden.
    "Holocaust-Religion"
    Mit seinem Buch liefert Lisicki der Regierung neue Argumente. Etwa für ein neues Gesetzesvorhaben: Danach will die Regierung sogar unter Strafe stellen, die polnische Nation für den Völkermord an den Juden mitverantwortlich zu machen. Gegen diesen Gesetzentwurf kam heftige Kritik auch von jüdischen Organisationen aus Israel und den USA. Lisicki hat dafür eine einfache Erklärung: Die jüdische Nation brauche die von ihm so genannte "Holocaust-Religion", denn, so die krude Argumentation:
    "Auch die Juden sind von der Säkularisierung betroffen, das heißt, sie haben den jüdischen Glauben weitgehend verloren. Aber auch sie brauchen ja eine Form der nationalen Identität. Und dazu instrumentalisiert man den Holocaust. Es wird ein ständiges Bedrohungsszenario erzeugt und erklärt, der Holocaust sei eine Art Krönung des europäischen Erbes gewesen. Daraus ergibt sich, dass alle Nationen, außer den Juden, Mittäter gewesen sein müssen."
    Polentum und Katholizismus
    Antisemitismus sei das nicht, meint Lisicki. Er leugne den Völkermord an den Juden ja nicht. Die von ihm so genannte "Holocaust-Religion" wirke auch auf die Geschichtsschreibung weit vor dem Zweiten Weltkrieg, meint Lisicki. So werde das gesamte Christentum heute vielfach so interpretiert, als stecke in ihm bereits der Keim für den Holocaust. Diese Sichtweise beeinflusse sogar die katholische Theologie - für Polen eine weitere schmerzliche Entwicklung:
    "Das Polentum und der Katholizismus sind so stark miteinander verbunden, so eng, so tief verwandt, dass nicht auszudenken wäre, was mit dem Polentum geschähe, wenn sich herausstellte, dass seine geistliche Grundlage, die Quelle des Lebens, die Wurzel, die Nation und Staat über Jahrhunderte gehalten hat, innerlich verdorben und krank wäre."
    Seitenhiebe gegen Jan Tomasz Gross
    Lisicki ist davon überzeugt, Grundlagenarbeit zu leisten. Konkrete historische Debatten erwähnt er kaum. Prominentes Beispiel: das Massaker von Jedwabne. Polnische Dorfbewohner verbrannten dort 1941 ihre jüdischen Nachbarn, mutmaßlich angestiftet von den deutschen Besatzern. Lisicki belässt es bei einigen Seitenhieben gegen den US-amerikanischen Historiker Jan Tomasz Gross, der vor 16 Jahren die Debatte um dieses Pogrom angestoßen hatte:
    "In den Büchern von Gross wird die polnische Bevölkerung kaum besser […] beschrieben, als es die Nazis nach der Eroberung taten: als stumpfe, beschränkte Gemeinschaft, die über keinerlei höheren Antrieb oder Ideen verfügt, sie von Mordlust und Gier durchtränkt ist, ein dunkler, dummer Mob."
    Debatte über Geschichtspolitik in Polen
    "Blut an unseren Händen?" wird in Polen höchst kontrovers diskutiert. Im Dunstkreis der PiS gibt es enthusiastische Rezensionen. Die Gegner einer Geschichtspolitik à la PiS zeigten sich dagegen entsetzt. Das Buch von Lisicki diskreditiere Polen, meint der Historiker Marcin Urynowicz:
    "Wenn wir Polen zu solchen Schlussfolgerungen gelangen, dann zeigen wir der Welt, dass wir zurückgeblieben sind, dass wir von Stereotypen und Hass getrieben werden. Bleibt die Frage, ob Leute, die uns in solch einem Licht zeigen, überhaupt sprechen und gehört werden sollten."
    "Blut an unseren Händen?" ist vom Stil und von der Stoßrichtung her weniger eine geschichtliche Abhandlung als vielmehr eine Kampfschrift. Sie ermöglicht demaskierend tiefe Einblicke in die Gedankenwelt regierungsnaher polnischer Rechtskonservativer. Dort wird das Buch zweifellos seine größte Wirkung entfalten und über deren Medien - unabhängig von der verkauften Auflage - indirekt auch in die breite Öffentlichkeit Polens hineinwirken.
    Paweł Lisicki: "Krew na naszych rękach?" ("Blut an unseren Händen?")
    Fabryka Słów, Lublin 2016. 640 Seiten, 46,90 PLN. (in Deutschland für ca. 13 Euro erhältlich)