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Polens neue Regierung
"Wir sind Europa"

Nächtliche Parlamentssitzungen, Beschlüsse ohne gesellschaftliche Debatte, Gesetze im Eilverfahren: Die Kritiker der neuen Regierung in Warschau sagen, die Gewaltenteilung sowie europäische Werte würden mit Füßen getreten. Polen, noch vor Kurzem der östliche Musterknabe in der Europäischen Gemeinschaft, entwickelt sich plötzlich zum Enfant terrible.

Von Florian Kellermann | 16.01.2016
    Die Regierungspartei PiS im polnischen Parlament
    Im Schnelldurchlauf boxt die polnische Regierungspartei PiS (Recht und Gerechtigkeit) ein Gesetz nach dem nächsten durch das Parlament. Vorne: Ministerpräsidentin Beata Szydło und PiS-Vorsitzender Jaroslaw Kaczynski. (picture alliance / dpa / Foto: Rafal Guz)
    Sphärische Klänge in einer Fabrikhalle in Breslau, südwestlich der Altstadt. Hier üben Musiker, Schauspieler und Helfer für das große Eröffnungs-Spektakel an diesem Sonntag, zu dem 150.000 Zuschauer erwartet werden. Es wird für Breslau, auf Polnisch Wroclaw, das Jahr einleiten, in dem die Stadt Europäische Kulturhauptstadt sein wird.
    "Erwachen" heißt die Veranstaltung und sie wird in vier Stadtteilen gleichzeitig beginnen. Von dort aus nehmen vier Geister ihren Weg ins Zentrum der niederschlesischen Metropole auf - zurzeit stehen die Metallgestelle in vier verschiedenen Ecken der Halle.
    Mitten durch den zehn Meter hohen Raum schlendert Chris Baldwin. Der britische Regisseur inszenierte 2012 die Fackel-Zeremonie bei den Olympischen Spielen in London, nun ist er verantwortlich für "Erwachen".
    "Ich weiß nicht, ob ich das sagen darf: Der Geist dort hinten ist mir am liebsten. Es ist der Geist der vielen Glaubensrichtungen. Wenn er sich am 17. Januar durch die Stadt bewegt, begegnen ihm auf dem Weg vier verschiedene Chöre. Einer singt katholische, einer orthodoxe und einer jüdische Musik - und einer geistliche Musik aus verschiedenen nicht-westlichen Kulturen."
    Neben dem Geist der vielen Glaubensrichtungen gibt es den Geist des Wiederaufbaus, den Geist der Innovation - und der Geist der Flut. Die Oder, ihre Brücken und ihre Naturkatastrophen faszinieren Chris Baldwin. Dem Fluss war schon eine Veranstaltung vor zwei Jahren gewidmet. Das Thema wird in einem weiteren Spektakel in diesem Sommer wiederkehren. Das Verhältnis zum Wasser sage viel aus über die heutigen Breslauer, sagt Baldwin.
    Es war faszinierend, was hier 1997 passiert ist, im Jahr der großen Oder-Flut. Die Bürger dieser Stadt sind von Zuhause gekommen, sie haben sogar ihre Arbeitsplätze verlassen, ganz spontan, und sind zur Universitätsbibliothek gegangen. Die Universität liegt direkt neben dem Fluss. Sie haben die Bücher geholt und zu höher gelegenen Orten am Ring gebracht. Deshalb haben wir damals einerseits eine Katastrophe gesehen, auf der anderen Seite aber das Erwachen von Bürgerstolz und Bürgergemeinschaft.
    Solche Geschichten erzählt Chris Baldwin nicht nur Journalisten oder Gästen der Stadt: Er erzählt sie den Polen selber. Dieses Jahr, in dem die Stadt Kulturhauptstadt sein wird, solle die Menschen hier auch selbstbewusster machen, meint er.
    "Die Menschen sind sich nicht im Klaren darüber, welche Rolle menschliche Werte in dieser Stadt wieder spielen, wie erfolgreich sie ist. 180.000 junge Menschen studieren hier an Universitäten. Hier gibt es Theater auf europäischem Spitzenniveau. Mir kommt es manchmal so vor, als ob Breslau und ganz Polen sich nicht wirklich bewusst sind, was für eine dynamische europäische Nation sich hier entwickelt hat."
    In Breslau klingt dieser Satz selbstverständlich. 350 Kilometer weiter nordöstlich nicht mehr unbedingt. In Warschau hat Anfang November eine neue Regierung ihre Arbeit begonnen. Ihre Kritiker sagen: Sie trete europäische Werte mit Füßen, die Gewaltenteilung, die Medienfreiheit. Polen, noch vor Kurzem der östliche Musterknabe in der Europäischen Gemeinschaft, der ohne Rezession durch die Finanzkrise kam, entwickelt sich plötzlich zum Enfant terrible.
    Jaroslaw Kaczynski ist der mächtigste Mann in Polen
    Die Regierung wird allein von der rechtskonservativen Partei "Recht und Gerechtigkeit" getragen und kleineren Formationen, die sich ihrer Wahlliste angeschlossen hatten. Die Partei mit dem polnischen Kürzel PiS definiert sich selbst als katholisch geprägt, als patriotisch und gleichzeitig als zutiefst europäisch. Aber ihr Verständnis von Europa ist nicht das vom toleranten Nebeneinander der Kulturen, wie es ab Sonntag in Breslau gefeiert wird. Immer wieder grenzen sich PiS-Politiker vom westlichen Europa ab, so wie der Parteivorsitzende Jaroslaw Kaczynski:
    "Die polnische Regierung verteidigt die Demokratie gegen den von Konzernen regierten Staat, sie verteidigt die Bürgerrechte. Die Religionsfreiheit, die heute im westlichen Europa zutiefst gefährdet ist, ja, die es an vielen Orten gar nicht mehr gibt. Sie verteidigt auch die Meinungsfreiheit, die unter dem Namen der politischen Korrektheit vielerorts eingeschränkt oder aufgehoben wurde. Polen ist heute eine Bastion des echten Europa."
    Was Jaroslaw Kaczynski sagt, ist Gesetz. Er ist heute mit Abstand der mächtigste Mann in Polen, obwohl er überhaupt kein Amt bekleidet. Das politische Genie des 66-Jährigen hat zuerst einen bis dahin nahezu unbekannten EU-Abgeordneten zum Staatspräsidenten gemacht: Andrzej Duda. Dieser schlug im vergangenen Mai völlig überraschend den noch kurz zuvor beliebten Amtsvorgänger. Und im Oktober schaffte es die PiS als erste polnische Partei im Parlament, dem Sejm, die absolute Mehrheit der Sitze zu erringen - und das gegen den Widerstand der einflussreichsten Medien.
    Der Vorsitzende der regierenden Partei Recht und Gerechtigkeit, Kaczynski, hält eine Rede in Warschau.
    Der Vorsitzende der regierenden Partei Recht und Gerechtigkeit, Kaczynski, hält eine Rede in Warschau. (picture alliance/dpa/EPA/Pawel Supernak)
    Die neue Regierungsmannschaft fühlt sich stark. Die EU-Kommission leitete am vergangenen Mittwoch zum ersten Mal ein Verfahren ein, dass die Rechtsstaatlichkeit in einem Mitgliedsland prüft, in Polen. Aber Ministerpräsidentin Beata Szydlo zeigte sich unbeeindruckt. Im Gegenteil: Die 52-Jährige nutzte diese Gelegenheit gleich für eine wichtige Botschaft an die Bevölkerung:
    "Europa hat heute viel ernstere Probleme, mit denen es nicht zurechtkommt. Die PiS hat schon viel früher davon gesprochen, dass entschiedene Schritte notwendig sind. Das Problem der Immigranten und die naive Herangehensweise haben Folgen gezeigt, die viele Staaten heute verschweigen und beschämt unter den Teppich kehren wollen. Die Ereignisse in Deutschland sind eine Warnung für ganz Europa."
    Ein rechtes Programm
    Mit "den Ereignissen" meint Beata Szydlo die Silvesternacht in Köln. Immer wieder verweisen PiS-Politiker in diesen Tagen auf das Immigranten-Problem anderer Länder. Es passt perfekt, um zu zeigen: Wir sind Europa, der Westen ist auf einem Irrweg.
    Das klingt nach Populismus, aber dahinter steht ein Programm. Ein rechtes Programm, wie die PiS es selbst beschreibt. Der Soziologe Pawel Spiewak:
    In Polen bedeutet "rechts" eine Verbindung aus Klerikalismus, Traditionalismus und eines weichen Nationalismus, zu dem auch soziale Losungen gehören. Ein "weicher Nationalismus"?
    "Wir werden das in den öffentlichen Medien sehen, aber auch in der Kulturpolitik. Der Kulturminister hat bereits davon gesprochen, dass wir unsere nationalen Mythen bewahren sollten. Die polnische Kultur sollte zu ihren geschichtlichen Helden stehen. Auch, wenn ich an einer Versammlung mit dem Präsidenten zur Geschichtspolitik teilnehme, dann erschöpft sich das in der Aussage, dass die Polen eine wunderbare Nation sind. Die Polen sollen zurückkehren zum Selbstbild als Nation ohne Schuld, geschändet, aber selbst unschuldig."
    Für Selbstkritik bleibe da kaum noch Platz, sagt Spiewak, aber nicht nur dafür: Die persönliche Freiheit sei im Programm der PiS ein untergeordneter Begriff, so der Soziologe, der gleichzeitig Leiter des Jüdischen Geschichtlichen Instituts in Warschau ist.
    "Das Individuum wird in dieser Tradition vor allem als Teil der Nation gesehen, als Teil der Geschichte gesehen. Wir sind demnach vor allem Polen und erst dann, viel später, Individuen, Personen."
    Breslau, die Europäische Kulturhauptstadt, hat schon im November einen Vorgeschmack auf dieses Kulturverständnis bekommen. Im staatlichen Polnischen Theater stand die Premiere einer neuen Aufführung an - "Der Tod und das Mädchen" von Elfriede Jelinek. Eine ultrakatholische Vereinigung mit dem Namen "Rosenkranz-Kreuzzug" protestierte, mit einem öffentlichen Gebet auf einer Bühne, und eine nationalistische Gruppierung sperrte den Eingang zum Theater ab. Der Grund: In der Aufführung spielten Pornodarsteller mit, für einen kurzen Moment sollte ein Geschlechtsakt zu sehen sein.
    Von einem schändlichen Stück sprach ein älterer Herr, der selbst mit Megafon gekommen war. Die Protestierenden konnten sich auf die Regierung berufen. Beata Kempa, Büroleiterin von Ministerpräsidentin Szydlo, hatte dem "Rosenkranz-Kreuzzug" Grußworte übermittelt und Kulturminister Piotr Glinski wollte die Premiere absetzen lassen.
    Ziele bewusst mit offenen Konflikten erreichen
    Nicht nur ideologisch, auch vom Stil her hebt sich die neue Regierung von im Westen geübten Gepflogenheiten ab. Der PiS-Vorsitzende Jaroslaw Kaczynski wolle seine Ziele bewusst mit offenen Konflikten erreichen, sagt Ireneusz Karolewski, Professor an der Universität Breslau. Das sei nicht grundsätzlich zu verurteilen, meint er:
    "Es gibt unterschiedliche Politikstile. Es gibt einen Stil, der Harmonie vortäuscht, das war so ein bisschen das Prinzip der letzten Regierung. Es gab Unterschiede zwischen Deutschland und Polen bei der Bearbeitung der Ukraine-Krise. Es gab Unterschiede, die wurden allerdings nicht publik ausgetragen. Heute werden die Unterschiede eher publik ausgetragen, das heißt sie werden betont. Das bedeutet nicht, dass die Unterschiede produziert werden, die sind da."
    Der Umgang mit Deutschland ist ein Beispiel. Jaroslaw Kaczynski verbat sich nicht nur Kritik vom großen Nachbarn. Er verglich sie auch mit dem Angriff sowjetischer Truppen in der Tschechoslowakei 1968:
    "Das heute ist eine Intervention mit anderen Methoden, aber die Situation ist ähnlich. Die Tschechen und die Slowaken damals konnten sich nicht verteidigen. Wir werden uns verteidigen. Wir brauchen von Deutschland keine Nachhilfe in Sachen Demokratie, zumal die Deutschen uns noch sehr viel schuldig sind, in moralischer wie in wirtschaftlicher Hinsicht."
    Jaroslaw Kaczynski gratuliert Beata Szydlo zum Wahlsieg.
    Der Parteichef und seine Spitzenkandidatin: Jaroslaw Kaczynski gratuliert Beata Szydlo zum Wahlsieg. (picture alliance / EPA / PAWEL SUPERNAK POLAND OUT)
    Außenminister Witold Waszczykowski ließ den deutschen Botschafter in Warschau an einem Samstagabend, genau vor einer Woche, wissen, dass er ihn schon am Montag früh sprechen wolle. Gleichzeitig informierte er die polnischen Medien. Erst im Anschluss beschwichtigte Waszczykowski:
    "Wir haben darüber gesprochen, wie wir gemeinsam ein gewisses Kommunikationsproblem lösen können. Uns scheint, dass wir da auf einem guten Weg sind. Die beste Lösung wäre, wenn deutsche Politiker Polen besuchen würden, um sich zu überzeugen, dass der Zustand der polnischen Demokratie nicht so schlecht ist, wie es aus der Ferne scheint."
    Trotzdem empfahl die PiS-Abgeordnete Krystyna Pawlowicz ihren Landsleuten, künftig deutsche Produkte zu boykottieren. Der Politologe Karolewski weist darauf hin, dass auch deutsche Politiker und Kommentatoren - seiner Ansicht nach - weit über das Ziel hinausschossen.
    "Weder das Ende der Demokratie noch ein Staatsstreich sind in Polen in Sicht, würde ich sagen. Ich würde auch davor warnen, Polen in dieselbe Kategorie wie die Türkei und Russland zu stecken. Es gibt keine Journalisten, die in Gefängnissen sitzen wie in der Türkei, es gibt keine politischen Morde wie in Russland, da muss man schon eine gewisse Distanz gewinnen."
    Auch im Inneren hat die PiS-Regierung den Konflikt angeheizt. Schon drei Wochen nach ihrem Antritt kamen, nach verschiedenen Schätzungen, 30.000 bis 50.000 Menschen zu einer Demonstration in Warschau. Sie schwenkten die polnische und die EU-Fahne. Noch am Abend zuvor hatte Jaroslaw Kaczynski in einem Interview "von der schlechtesten Sorte von Polen" gesprochen, die Kritik an der Regierung ins Ausland tragen.
    Iwona Grzybowska, eine 43-jährige Unternehmerin, gehört zu dieser "schlechtesten Sorte von Polen". Für das "Komitee zur Verteidigung der Demokratie" stellt sie sich vor zugige Metro-Eingänge und verteilt Flugblätter, bei Demonstrationen steht sie im Regen und hält Plakate hoch.
    "Als ich gesehen habe, was vor sich geht, dass wir unsere Stimme abgeben und die Politiker dann einfach machen, was ihnen passt, wollte ich nicht mehr passiv herumsitzen. Eine Woche hat der neuen Regierung gereicht, um allen zu zeigen, dass hier etwas nicht in Ordnung ist."
    Nächtliche Parlamentssitzungen, Beschlüsse ohne gesellschaftliche Debatte, Gesetze im Eilverfahren: Auch Abgeordnete der Regierungsfraktion sprechen, fast ein bisschen stolz, von "Blitzkrieg", andere von einer "Abstimmungsmaschine", in die sich das Parlament verwandelt habe. Zudem setzte die PiS zunächst einmal nicht etwa ihre Wahlversprechen um - mehr Kindergeld, ein höherer Steuerfreibetrag, ein niedrigeres Renteneintrittsalter. Sie begann eine Auseinandersetzung mit dem Verfassungsgericht. Erst wählte sie fünf neue Richter, obwohl ihr laut Gericht nur zwei zustanden. Dann beschloss sie ein Gesetz, das die Arbeit des Gerichts lähmt. Die Richter sollen ihre Entscheidungen künftig mit Zwei-Drittel-Mehrheit fällen und müssen Fälle chronologisch bearbeiten.
    "Blitzkrieg" und "Abstimmungsmaschine"
    Diesen Kampf gegen ein wichtiges Staatsorgan, nur, um sich dessen Kontrolle zu entziehen, verurteilen auch viele Wähler der PiS. Die Umfragewerte der Partei sind auf 30 Prozent und weniger geschrumpft. Auf ähnlich viel Zustimmung kommt inzwischen die erst im vergangenen Jahr gegründete liberale Partei "Modernes Polen". Abgeschlagen bleibt dagegen die abgewählte rechtsliberale "Bürgerplattform". Ihr gehört der EU-Ratspräsident Donald Tusk an. Und trotzdem: Zu den Demonstrationen kamen zuletzt wieder weniger Menschen. Iwona Grzybowska kann das verstehen nach dem Superwahljahr 2015.
    "Ich sehe es an meiner Familie und meinen Freunden: Sie haben genug von Politik. Sie glauben mir, wenn ich ihnen etwas sage, aber sie schließen sich nicht an. Außerdem wissen viele Polen gar nicht so genau, wozu das Verfassungsgericht dient. Es ist ihnen gleich, ob die Richter unabhängig oder parteigebunden sind."
    Die jüngsten Proteste widmeten sich dem neuen Mediengesetz. Die PiS hat sich die volle Kontrolle über das öffentliche Radio und Fernsehen gesichert. Die Intendanten der Sender werden nicht mehr in einem öffentlichen Auswahlverfahren ermittelt, sondern direkt vom Schatzminister ernannt. Der Minister kann sie auch jederzeit abberufen. Neuer Chef beim Fernsehsender TVP ist deshalb seit einer Woche Jacek Kurski, ein seit Langem mit der PiS verbundener Politiker. Er wird Kaczynskis "Bullterrier" genannt, weil er die politischen Gegner besonders hart anzugehen pflegte. Aber auch das habe die Polen nicht wirklich schockiert, meint der Warschauer Politologe Bartlomiej Biskup.
    Gegner der Regierung in Polen demonstrieren gegen die neuen Pressegesetze.
    Gegner der Regierung in Polen demonstrieren gegen die neuen Pressegesetze. (imago/Zuma Press)
    Sicher, alles in allem wünschen sich die meisten Polen, dass die öffentlichen Medien unabhängig sind. Aber wenn bei den Demonstrationen Abgeordnete der bisherigen Regierungspartei "Bürgerplattform" davon sprechen, dann wirkt das unglaubwürdig. Sie haben die Unabhängigkeit der Medien selbst nicht respektiert.
    Der Sieger bekommt alles - an diese Devise haben sich die Polen in der Politik also gewöhnt. Es gibt aber auch eine ganz andere Lesart dessen, was im Land vor sich geht. Eingefleischte PiS-Anhänger halten die ersten Maßnahmen der Regierung schlicht für notwendig, um das, wie sie es nennen, postkommunistische System zu zerstören. So denkt Michal Karnowski, Vorstandsmitglied im Verlag "Fratria", der Zeitschriften herausgibt und eine Internetseite betreut. Als Beispiel nennt er die Medienlandschaft.
    "Erst hat Andrzej Duda, der aus der PiS stammt, die Präsidentenwahl und dann hat die PiS die Parlamentswahl gewonnen - jeweils klar und überzeugend. Und wenn ich in die polnischen Medien schaue, bekomme ich den Eindruck, dass alle diese Regierung hassen - und das vom ersten Tag an. Das ist doch nicht normal."
    Die Regierung müsse die öffentlichen Medien übernehmen, um ein Gegengewicht zu den privaten schaffen, meint Karnowski. Ähnlich beim Verfassungsgericht, sagen PiS-Anhänger: Es werde von Juristen besetzt, die die Interessen der Eliten schützten.
    Tatsächlich ging der Übergang vom Kommunismus zur Demokratie in Polen sanft vor sich - die alten Kader konnten sich neu aufstellen und beim Verkauf von Staatsunternehmen profitieren. Das müssten gerade Deutsche doch verstehen, meint Karnowski:
    "Was uns sehr weh tut ist, wenn Deutsche mit zweierlei Maß messen. Ein Beispiel ist die Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit. Bei uns wird das als Hexenjagd dargestellt, Menschen würden stigmatisiert. Aber Sie wissen doch, wie Deutschland mit ehemaligen Stasi-Mitarbeitern umgegangen ist. Wir dagegen werden dafür verurteilt, dass wir mit ehemaligen Geheimdienst-Agenten ebenso umgehen wollen."
    In ihrem Selbstverständnis kämpft die PiS also noch immer gegen das alte kommunistische Regime. Deshalb ist es auch kaum vorstellbar, dass die Proteste aus Brüssel ihren Tatendrang bremsen kann. Das Parlament hat Ende der Woche eine Justizreform auf den Weg gebracht, der Justizminister wird weitgehenden Einfluss auf die Staatsanwaltschaft haben.