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Politik in Thüringen
Hundert Tage mit Bodo Ramelow

Seit über einem Jahr regiert Rot-Rot-Grün in Thüringen. Landolf Scherzer hat den Ministerpräsidenten Bodo Ramelow in den ersten Monaten seiner Amtszeit begleitet und sucht vergeblich nach revolutionären Neuigkeiten.

Von Henry Bernhard | 04.01.2016
    Bodo Ramelow, Spitzenkandidat und Fraktionschef der Linken im Thüringer Landtag.
    Ein Buch ohne Siegel: Ministerpräsident Bodo Ramelow in Thüringen (picture alliance / dpa / Martin Schutt)
    Im dichten Gedränge der Thüringenmesse steht ein kleiner, drahtiger, grauhaariger Mann im blauen Strick-Pullover. In den Händen hält er Notizblock und Bleistift. Vor ihm schiebt sich Bodo Ramelow durch die Menge, eskortiert von Kameras und seinen Sicherheitsbeamten. Eine "Bürgersprechstunde" will der Ministerpräsident von Thüringen abhalten. Aber vergebens. Die Leute wollen ein Autogramm, ein Selfie, ein Schulterklopfen, mehr nicht. Der grauhaarige Mann macht sich Notizen, bleibt im Hintergrund. Keiner redet mit ihm. Landolf Scherzer ist Beobachter.
    Ein paar Wochen zuvor löffelte Scherzer Nudeln im adventlichen "Restaurant des Herzens" für Bedürftige, als der Ministerpräsident für ein paar nette Worte und eine Spende zu Besuch kam.
    "Rechts neben mir sitzt ein sehr alter grauhaariger und bartstoppeliger Mann. Er geifert. Er spuckt. Er kleckert die Tomatensoße auf die speckige Hose. Und riecht nach Urin. Ständig schimpft er über die "Scheiß neue Zeit" und erwartet meine solidarische Zustimmung. Stattdessen halte ich den größtmöglichen Abstand und versuche, an einem Gespräch drei Stühle weiter teilzunehmen. Ein jüngerer Mann mit flachsblonden Haaren zeigt auf den Ministerpräsidenten und lästert: "Der sollte lieber Politik machen. Schließlich könnte er jetzt was dafür tun, dass es unsereins besser geht.'"
    In der Lokalzeitung am nächsten Tag war ein Foto zu sehen, auf dem Bodo Ramelow dem essenden Landolf Scherzer landesväterlich seine Hände auf die Schulter legt. Und Scherzer musste sich von besorgten Freunden fragen lassen, warum er in der Suppenküche essen müsse. Landolf Scherzer ist 74 Jahre alt, hat zwei Dutzend Reportage-Bücher geschrieben, und noch immer lässt er nichts aus, wenn es darum geht, einem Phänomen, einer Situation, einem Menschen auf die Spur zu kommen. Wie bei früheren Recherchen, 1988 bei einem SED-Kreisvorsitzenden etwa oder 1999 bei einem CDU-Landrat, wollte er mindestens eine Woche lang, aber lieber länger, ganz nah dran sein. Das hat nicht geklappt.
    Nichts Neues, nur Nebensächlichkeiten
    Landolf Scherzer: "Ja, natürlich, man scheitert immer mit seiner Naivität! Und meine Naivität war: Ich werde, ähnlich wie mit dem "Ersten" oder "Zweiten", auch den Herrn Ramelow werde ich längere Zeit begleiten, und ich werde da reinkommen tiefer. Also, mit dieser Naivität bin ich eigentlich gescheitert. Weil, die Zeitfenster, die sich da öffneten, die waren sehr kurz! Dann hat er den ganzen Tag von irgendwelchen Leuten Interviews geben müssen den ganzen Tag. Und dann hast du abends oder irgendwann, wenn der Scherzer nun auch noch kommt, was machst du? Du erzählst nochmal dasselbe! Außerdem nimmt er dich nicht mit, wenn er mit irgendwelchen Investoren Geheimprojekte oder sonst was abkasperst! Das war meine Naivität. Von daher bin ich eigentlich gescheitert. Seine Arbeitsweise, wie er das genau macht, das habe ich nicht mitbekommen."
    Scherzer graste Ramelows Umfeld ab: Minister, Staatssekretäre, Fraktionsvorsitzende, sogar den Friseur des Ministerpräsidenten und die junge Frau, die den Abgeordneten im Landtag frisches Wasser ans Rednerpult bringt, hat Scherzer interviewt; 60, 80 Leute, schätzt er, insgesamt. Dennoch ist "Der Rote" kein Buch über den praktischen Politikbetrieb im jungen rot-rot-grünen Thüringen. Lieber besucht Scherzer eine rechtsradikale Demo in Suhl – und die Gegendemo – und redet im ganzen Land mit den sogenannten "kleinen Leuten". Er nennt sie auch "Mittlerfiguren für soziale Wirklichkeiten".
    Landolf Scherzer: "Mir war – ich sag's mal so – das Leben der kleinen Leute vom Friseur bis hin zum Kuhhirten, das war mir wichtiger. Also hier beispielsweise dieses Tal: Dort unten, wo die Kühe standen, das war auch Ramelow, geht eben runter und sagt, "Oh, das ist ganz doll, dieser Bauer hier, der die Longhorns, die schottischen Hochlandrinder hier nach Thüringen, 5 Stück und weiß der Kuckuck was ...". Da ist er runter, hat sie gefüttert, die Viecher. Ja, am nächsten Tag kommt der Bauer, Karl, zu mir und sagt, "Weißt du, das beschissenste Land, das es gibt, ist für mich Thüringen!" Ich sag, "Wieso denn?" "Na ich kriege für meinen Traktor, und ich mache ja hier alles, nicht mal ein grünes Kennzeichen! Wäre ich doch nur in Coburg drüben geboren, da würde es mir besser gehen!" – so ungefähr."
    Die Einzelgeschichten mögen banal erscheinen, radikal subjektiv, dennoch erscheint am Ende ein facettenreiches Bild, nicht nur von Thüringen unter Rot-Rot-Grün, sondern von der deutschen Gesellschaft überhaupt. Scherzer findet nicht nur Bilder, sondern auch Menschen, die das oft schon lange Empfundene repräsentieren. Er fühlt dem Land die Temperatur lieber, als sie zu messen. Und so findet sich wenig Eindeutiges in seinem Buch, nichts plakativ Zitierbares. Dafür aber Geschichten, die eine soziologische Studie erklärbar machen, vor wenigen Wochen erschienen, die einem Viertel der Thüringer eine Nähe zu rechtsradikalen Gedanken und eine wachsende Sympathie für die DDR bescheinigte.
    Landolf Scherzer: "Na ja, einer war eben LPG-Vorsitzender und ist in der DDR von dem Tagelöhner-Sohn ..., war dann Genossenschafts-Vorsitzender, hat gut gearbeitet ... Der redet heute über das Leben, über bürokratische Hürden oder so, vollkommen anders als einer, der aufgewachsen ist in einem Pfarrershaus, der in der DDR nicht studieren durfte, der aber heute alle Möglichkeiten hat, beispielsweise künstlerisch oder so, sich auszuprobieren, und das genießt, diese Freiheit! Und das war auch der Versuch in diesem Buch, diese Unterschiedlichkeit ein bisschen darzustellen."
    Vergebliche Annäherung an einen Nicht-Revolutionär
    Scherzer hat Bodo Ramelow wenige Male allein für Gespräche getroffen. Dabei war es ihm nicht immer leicht, das, was er erfahren wollte, unter dem berüchtigten Wortschwall des Ministerpräsidenten herauszuklauben. Letztlich ging es ihm ja um die Frage, ob ein Ministerpräsident Macht habe zu gestalten oder eher der Schraubzwinge aus Bundesentscheidungen und Verwaltung ausgeliefert ist. Und wie er dabei im Vergleich zum 1. Kreisssekretär der SED dasteht, den Scherzer 1988 porträtiert hat.
    Landolf Scherzer: "Du kannst einen 1. Kreissekretär - das ist eben der Erste in einem Kreis gewesen, mit sehr viel mehr Machtbefugnissen als Ramelow, ja! In Systemen, wo die Partei bestimmt, da bestimmt der Erste, was in diesem Kreis passiert! Während eben Ramelow in diesem demokratischen System ganz viele Dinge überwinden muss, bzw. überhaupt nicht überwinden kann, weil demokratische Spielregeln so und so sind. Also, ich habe ihn ganz oft gefragt nach Ohnmacht und Macht des Regierens, was sich auch im Untertitel habe. Er verspürt nie Ohnmacht, sondern nur eine "erweiterte" oder "begrenzte" Gestaltungsmöglichkeit."
    Scherzer ist ein erkennbarer Sympathisant von Ramelow und auch von Rot-Rot-Grün. Man kennt sich, wenn auch flüchtig, seit 20 Jahren. Der Gefahr der übergroßen Nähe ist er sich durchaus bewusst und geht offen damit um. Ob sich Thüringen verändert habe im ersten Jahr der neuen Regierung? Eher nicht. Aber allein das, meint er, könnte man ja revolutionär nennen. Und wie in einer Ehe muss erst mal Stabilität hergestellt werden, ehe man an Veränderungen geht. Falls es soweit kommt: Landolf Scherzer wird mit dem Notizblock dabei stehen und darüber berichten.
    Landolf Scherzer: "Der Rote. Macht und Ohnmacht des Regierens"
    Aufbau Verlag, 363 Seiten, 19,95 Euro, ISBN: 978-3-351-03621-8