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Politik neu denken

Was Politik eigentlich ist, mit dieser Frage beschäftigt sich Jacques Rancière. Dabei interessieren ihn vor allem die Diskontinuitäten und Brüche. In dem Band "Moments politiques" sind jetzt auch in Deutsch Texte und Interviews des französischen Philosophen aus den Jahren 1977 bis 2009 zugänglich.

Von Thomas Kleinspehn | 17.02.2012
    Mögen die staatlichen Organe mit drakonischen Maßnahmen den Einwandererstrom einzudämmen versuchen, gegen die "sans-papier" oder eingewanderten Sinti und Roma vorgehen: Für ihn ist das nicht das Entscheidende. Denn der französische Philosoph Jacques Rancière sucht nach den gemeinsamen Strukturen, die hinter dieser Politik von rechten und linken Regierungen stecken. Erst wenn man die Muster von Ausgrenzung und latenten Rassismus erkenne, könne man auch tatsächlich dagegen arbeiten. Deshalb misstraut er – neben Politikern - mindestens genauso jenen Intellektuellen, die "altmodischen Gutmenschentum" bezeugen und dabei die "harte politische Realität" ignorieren. Mit vereinzeltem Engagement verrenne man sich.

    Es bedeutet im Gegenteil, gegenüber der Illusion des Verwaltungsrealismus und seinen kriminellen Folgen die Dimension einer politischen Aktion wiederherzustellen, die fähig ist, die Spaltungen der Gesellschaft zu ertragen und mit Andersheiten umzugehen.

    Die Ausländergesetzgebung der konservativen französischen Regierung Anfang der 1990er-Jahre ist eines der konkreten "politischen Momente", von denen Rancières in "Moments politiques" gesammelten Texte ausgeht. Es können auch die Sozialpolitik, das Tragen des Kopftuchs oder der 11. September sein. Der kämpferische Philosoph zieht seinen realen Ausgangspunkten immer wieder wie einer Zwiebel die Pelle ab, um auf seine Grundfragen zu kommen: Was ist Politik und welche Rolle haben Intellektuelle dabei?

    Ich setze "Das Politische" als die Bühne einer Konfrontation von zwei Logiken: einerseits die Logik dessen, was ich Polizei nenne, das heißt die Logik, die die Gemeinschaft durch Verteilung der Funktionen und der Plätze, der Kompetenzen und der Anteile strukturiert; andererseits die eigentliche Politik, das heißt die Aktivität, die dieser Ordnung das "hinzufügt", was sie auflöst, nämlich die Macht der Gleichheit jedes Beliebigen mit jedem Beliebigen.

    Erst auf den zweiten Blick öffnen sich solche zunächst sehr abstrakten Sätze zu einer radikalen Politik, bei der es letztlich darum geht, mit Dissens umzugehen, Konflikte auszutragen und Interessen zu klären. Das ist nach Rancières Auffassung der eigentliche Sinn von Politik. Damit räumt er mit dem Missverständnis der Aufklärung auf, alle Menschen müssten "gleich" im Sinne von identisch und unverwechselbar sein. Politik sei vielmehr, permanent den Dissens zu formulieren. Dahinter verbirgt sich eine Vorstellung radikaler Basisdemokratie, bei der sich nicht nur die Grenzen zwischen Politik und Alltag auflösen, sondern auch zwischen Intellektuellen und "gemeinem" Volk.

    Alle diese Aufteilungen bedeuten letztlich, dass es die einen gibt, die die Fähigkeit besitzen, sich um die gemeinsamen Angelegenheiten zu kümmern, und die anderen, die sie nicht haben. Die Aufgabe des politischen Denkens ist es, diese Schranken zu durchbrechen und umgekehrt das aufzuweisen, was es an Politischem in jeder sogenannten sozialen Bewegung gibt … Das bedeutet nicht, dass alles politisch ist, sondern dass es überall Politik geben kann.

    Zusammen etwa mit Michel Foucault, Jacques Derrida oder Bernard-Henri Lévy gehörte Jacques Rancière in den 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts zum Kreis des seinerzeit einflussreichen Philosophen Louis Althusser. Er beteiligte in "Das Kapital lesen" an einer neuen Lektüre von Karl Marx' Schriften, die zwar den französischen Strukturalismus begründete, aber weiterhin an der Vorstellung festhielt, die wichtigste Aufgabe von Intellektuellen sei es, die Gesellschaft "für andere" zu interpretieren. Gegen diese Vorstellungen - und vielleicht immer noch gegen seinen mächtigen Lehrer Althusser - entwickelte Rancière seit den 70er-Jahren verstärkt Überlegungen zu einer Politik des Dissenses. Seitdem interessiert er sich für die Diskontinuitäten, für die Brüche und Widersprüche. Sie sieht er gebündelt und in Frankreich zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg massiv im Mai 1968. Diese Revolte war für ihn mehr als eine Manifestation von Ungehorsam oder der Forderung nach sexueller Befreiung.

    Der Mai 68 bietet die Wiederaneignung einer starken Idee der Politik an, die Schaffung eines eigenen Raums, der nicht auf das institutionelle Spiel, aber auch nicht auf die bloße Manifestation der darunter liegenden sozialen Konflikte reduziert ist.

    In dieser Tradition gründete er zusammen mit anderen unabhängigen Intellektuellen seiner Generation – Historiker, Soziologen, Philosophen – die Zeitschrift "Révoltes logiques", in der die Autoren – gegen den Zeitgeist versucht haben eine Brücke zu finden zwischen Wissenschaft und Politik. Oder anders ausgedrückt als Suche nach der gesellschaftlichen Verantwortung für das, was wir - an welcher Stelle auch immer - konkret tun. Damit beschäftigen sich in den letzten Jahrzehnten die meisten Arbeiten des Philosophen, der bis 2000 an der Universität von Vincennes/Saint Denis in Paris unterrichtet hat. Seit einiger Zeit kreisen seine Werke um ästhetische Themen und es sind besonders diese Bücher, die zunächst ins Deutsche übersetzt worden sind. Aber das bedeutet nur scheinbar einen Themenwechsel. Denn auch bei der Kunst, der medialen Ästhetik des Spektakels oder des Öffentlichen geht es darum, Politik neu zu denken.

    "Alles hängt davon ab, was man unter Ästhetik versteht. Ich verstehe unter "Ästhetik der Politik" den Bruch mit dem System der konstituierten Identitäten, die Öffnung neuer Räume. Es handelt sich nicht darum, das Prinzip der Organisation zugunsten einer ausschließlichen Wertschätzung explosiver Szenen zu diskreditieren. Ich versuche mitzuhelfen, neu zu denken, was 'Politik' heißt. Politik gedacht in ihrem Abstand zu institutionellen Spiel."

    Aus der Sicht Rancières braucht man dafür durchaus die Bühne der Inszenierung oder des Spektakels, es komme aber darauf an, sie immer wieder zu brechen und gegenseitig zu spiegeln. Aus deutscher Sicht fällt einem dabei eher Bertolt Brecht oder das experimentelle Theater ein. Rancière dagegen beruft sich überraschender Weise auf Joseph Jacotot. Jener französische Reformpädagoge des 19. Jahrhunderts hat vor allem das Verhältnis von Lehrer und Schüler problematisiert und das Wissen des Mächtigen in Frage gestellt. Die in "Moments politiques" jetzt auch in Deutsch zugänglichen Texte und Interviews von Jacques Rancière sind zwischen 1977 bis 2009 geschrieben worden. Manche heftige Polemiken gegen fast jeden bei uns bekannten französischen Denker mögen deutsche Leser zunächst irritieren und für sie nicht immer nachvollziehbar sein. Vor allem weil sie von konkreten Ereignissen oder politischen Konflikten ausgehen, bieten sie jedoch einen guten Einstieg in das Denken des bei uns zu Unrecht noch weit gehend unbekannten französischen Philosophen. Der Band könnte motivieren auch auf spezielle andere Studien zurückzugreifen, die übersetzt allerdings nur sehr verstreut in kleineren engagierten Verlagen zu haben sind.

    Jacques Rancière: Moments politiques. Interventionen 1977 - 2009
    Zürich, diaphanes Verlag, 2011, Preis: 24,80 Euro