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Politik ohne Ort - der Ort des Politischen

Früher war Politik fest an einen Ort gebunden: an die Polis der Griechen, an das römische Forum oder an das Plenum im Parlament. Doch die Bedeutung des politischen Ortes gerät mit der Globalisierung in den Hintergrund. Heute wird das Politische am Rande von G20-Gipfeln, am Strand von Deauville oder bei abendlichen Diners in Davos geregelt.

Ein Radioessay von Stephan Detjen | 31.12.2011
    I. Ort und Politik. Eine Herkunftsbestimmung
    Vor zwei Jahren gedachte die Welt des 20. Jahrestages des Mauerfalls als epochaler Zäsur. Zur gleichen Zeit, im November 2009, zog Wolfgang Schäuble in einem Zeitungsinterview einen kühnen Vergleich: Die Finanzkrise der Gegenwart, sagte der Bundesfinanzminister, werde die Welt nicht weniger verändern als der Mauerfall von 1989.

    Wolfgang Schäuble hatte recht. Denn die Finanz- und Schuldenkrise ist nur ein Symptom eines viel tiefer reichenden Wandels: Sie veranschaulicht besonders plastisch, wie fundamental sich die Grundlagen unseres Zusammenlebens in staatlich verfassten Gesellschaften verändern. Nach 1989 ging es darum, dass Ideologien ihre Orientierungskräfte verloren, Staaten sich in neuen Konstellationen ordneten und Freiheitsräume weltweit wuchsen. Heute geht es um die Frage, wie Politik überhaupt noch als Instrument zur Gestaltung von Gesellschaften wirken kann. Dies umso mehr, als die Menschen längst die Vertrauensfrage stellen: Ist die Politik noch fähig, die Probleme zu lösen, mit denen sie im 21. Jahrhundert konfrontiert ist? In welcher Verfassung müssen sich also Staaten organisieren, um den Herausforderungen der globalisierten Welt gerecht werden zu können? Müssen vielleicht ganz neue Ordnungen jenseits der vertrauten Vorstellungen von Staat und Verfassung erdacht werden? Wie kann der Raum definiert werden, in dem sich Menschen künftig über ihre gemeinsamen Anliegen, über das Politische, verständigen?

    Es geht um eine Ortsbestimmung. Es geht darum, den Ort des Politischen im Zeitalter von Globalisierung und Digitalisierung neu zu definieren.

    Das Politische hatte von Anbeginn etwas mit Orten zu tun. Politik entstand in der Polis der griechischen Antike. Die Teilhabe an politischen Entscheidungen war dort unauflösbar mit Grundeigentum am Ort des Zusammenlebens verbunden. Daraus entstand ein soziales und topografisches Beziehungsgeflecht, das Verwaltungsstrukturen, Gesetze und Besteuerungsregeln prägte. All diese Institutionen der Politik waren wiederum durch örtliche Bindungen, räumliche Eingrenzungen und Zuständigkeiten bestimmt. Nur in diesem örtlichen Zusammenhang konnte auch das Vertrauen in die politische Gestaltbarkeit eines Gemeinwesens wachsen, das Europa bis heute prägt.

    Die Rückbesinnung auf die Wurzeln des Politischen verdeutlicht, wie der Bedeutungsverlust räumlicher Beziehungen und örtlicher Bindungen heute die Bedeutung des Politischen verändert.

    Die zunehmende Mobilität von Menschen, Gütern und Kapital war in der Vergangenheit eine der Triebkräfte für die Entstehung der Nation als neue Form der sozialen und politischen Gemeinschaft. In der Nation wird die räumliche Beziehung ihrer Mitglieder ergänzt durch eine kulturelle Dimension. An die Stelle der topografisch manifesten und physisch greifbaren Beziehungen tritt die Erinnerung an gemeinsame Erfahrungen. Die Nation ist eine Geschichts- und Erinnerungsgemeinschaft.

    Heute hat auch die Nation als politische Bezugsgröße dramatisch an Bedeutung verloren. Im Zeitalter weltumspannender Kommunikationsnetzwerke sind Erfahrungsräume nicht mehr geografisch begrenzt. Man musste 2011 kein Japaner sein, um nur Stunden nach dem Seebeben vor Fukushima eine energiepolitische Kehrtwende einzuleiten. Es waren nicht nur Amerikaner, die am zehnten Jahrestag der Terroranschläge auf die USA zu einer weltumspannenden Erinnerungsgemeinschaft zusammenfanden. Und längst ist auch die Erinnerung an die Berliner Mauer und ihren Fall zu einer globalen Metapher für die Überwindung von Grenzen und die Vereinigung getrennter Erfahrungswelten geworden.

    II: Postkonstitutionelle Ordnungen: Die Erosion der Verfassung
    Bereits vier Jahre nach dem Mauerfall hatte der französische Politikwissenschaftler Jean Marie Guéhenno in seinem immer noch aktuellen Buch "Das Ende der Demokratie" vorgezeichnet, was der Bedeutungsverlust örtlicher und nationaler Bindungen für unser Verständnis von Politik bedeutet: "Mit der Evidenz der Nation und des Territoriums", schrieb Guéhenno, haben wir "jenes Fundament von Prinzipien verloren, das uns als Gesellschaft konstituierte". Mit dem Begriff der Konstitution einer Gesellschaft verweist Guéhenno auf die Verfassung als Instrument zur Ordnung des Politischen. Verfassungen sind Landkarten des Politischen. Sie markieren die Orte, an denen Politik sich entfaltet: Parlamente, Regierungen, Gerichte, Räume der öffentlichen Meinungsbildung. Verfassungen zeichnen die Wege vor, auf denen politische Diskurse zu demokratisch legitimierten Entscheidungen gerinnen: durch Wahlen und Volksabstimmungen, durch Gesetzgebung und Rechtsprechung sowie durch das Handeln der Exekutive. Und: Verfassungen stabilisieren das Vertrauen in die Funktionsfähigkeit von Politik, weil sie mit einer besonderen Würde versehen und durch strenge Verfahrens- und Mehrheitsanforderungen vor kurzatmigen Änderungen geschützt werden.

    Auch Verfassungen aber sind ursprünglich auf jene Zusammenhänge gegründet, die sich aus territorialen Begrenzungen und örtlichen Bestimmungen ergeben. Im Zeitalter von Globalisierung und Digitalisierung werden Verfassungsordnungen deshalb geradezu zwangsläufig brüchig und von neuen Ordnungen überwölbt. Das 21. Jahrhundert könnte als postkonstitutionelles Zeitalter in die Geschichte eingehen.

    Postkonstitutionelle Ordnungen zeigen sich besonders plastisch im Bereich des Rechts – obwohl selbst Staatsrechtler darauf kein besonderes Augenmerk richten. Große, vor allem angelsächsische Anwaltsfirmen haben für den internationalen Handelsverkehr in den letzten Jahren Vertragsstandards entwickelt, aus denen eine neuartige Rechtsordnung erwachsen ist. In bestimmten Bereichen des internationalen Handels und Wirtschaftsverkehrs hat sie konventionelles, staatlich gesetztes oder zwischenstaatlich vereinbartes Recht bereits weitgehend verdrängt. So ist eine hochmoderne sogenannte Lex mercatoria, ein international anerkanntes Kaufmannsrecht entstanden, das von keinem Parlament verabschiedet wurde und seine Geltung ohne jede Hilfe staatlicher Gerichte behauptet. Denn auch Rechtsstreitigkeiten zwischen international agierenden Unternehmen werden heute kaum noch vor Gerichten ausgetragen, sondern von spezialisierten Anwaltskanzleien im Rahmen sogenannter Arbitration-Verfahren geschlichtet. Unternehmen machen sich damit in ihren weltumspannenden Beziehungen unabhängig von den örtlichen Gerichtszuständigkeiten und den begrenzten Geltungsbereichen staatlicher Rechtsvorschriften.

    Postkonstitutionelle Ordnungen aber stellen die Demokratie infrage. Denn nicht nur die internationalen Unternehmen, die sich ihre eigenen Rechtswelten schaffen, entziehen sich unter dem Druck der globalen Herausforderungen den Bindungen geltender Rechts- und Verfassungsordnungen. Auch die Politik sucht sich immer öfter neue Orte und Wege jenseits verfassungsrechtlich markierter Pfade und Leitplanken. Regierungsvertreter sprechen gerne von "neuen Formaten" der Politik: informelle Gremien, flexible Verhandlungsrunden und wandelbare Allianzen. Sie sind in keiner Verfassung oder keinem Vertragswerk beschrieben, dafür aber schnell und effektiv handlungsfähig: G-20 Gipfel, Ministerquartette und Expertengruppen gehören dazu genau so wie die abendlichen Diners am Rande des privat organisierten Weltwirtschaftsforums in Davos, das gemessen an Macht und Prominenz der politischen Teilnehmer manche UN-Vollversammlung in den Schatten stellt.

    III. Postdemokratie: Europa und die neuen Formate des Politischen
    Was Jean Marie Guéhenno Anfang der Neunzigerjahre als "Ende der Demokratie" kommen sah, hat der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch zehn Jahre später mit dem Begriff der Postdemokratie konkretisiert. In der postdemokratischen Gesellschaft sind die verfassungsrechtlich beschriebenen Verfahren der Politik zu bloßen Ritualen verkümmert. Wahlen, Parlamentsabstimmungen, Anhörungen sind nur noch der glänzende Zuckerguss auf der Oberfläche eines Systems, in dem Politik nach ganz anderen, ungeschriebenen Regeln funktioniert. PR-Strategen und Spin-Doktoren machen sich in der Postdemokratie die Eigengesetzlichkeiten der Massenmedien zunutze, um politische Entscheidungen zu steuern. Der Einfluss von Lobbyverbänden dominiert die Verfahren demokratischer Mitsprache. Die Politik mutiert zu einer Expertokratie, da die verfassungsmäßigen Institutionen der Demokratie nicht mehr in der Lage sind, die Kompetenz zu mobilisieren, die erforderlich wäre, um die Welt noch wirksam gestalten zu können.

    Die Herausforderung für die Akteure der Postdemokratie besteht darin, die Bürger von der Richtigkeit ihrer Entscheidungen zu überzeugen. Das Verfassungsvertrauen, das die konstitutionelle Demokratie über Generationen hinweg erzeugt hat, kann die Postdemokratie nicht ersetzen.

    Bis zu dem Zeitpunkt, als aus der Finanzkrise eine europäische Staatsschuldenkrise wurde, hatte sich besonders die Europäische Union kommod im Zustand der Postdemokratie eingerichtet. Teils desinteressiert, teils verständnislos, hier und da auch unüberhörbar murrend fügten sich die Bürger in den Mitgliedsstaaten der Verwaltung durch die Brüsseler Expertokratie. Als es bei den Verhandlungen um den späteren Vertrag von Lissabon darum ging, die Institutionen und Verfahren der EU zu demokratisieren, verzichtete man bewusst darauf, das Regelwerk als das zu bezeichnen, was es eigentlich sein sollte: eine europäische Verfassung. Stattdessen wurde die Sprache des Vertrages in der Schlussphase der Beratungen absichtsvoll verkompliziert, um den skeptischen Teil der Bürger in der wohligen Illusion zu wiegen, dass ihr Schicksal nach wie vor ganz alleine nach den gewohnten Prinzipien ihrer nationalen Verfassungsordnungen entschieden werde.

    Die Dramatik der gegenwärtigen Schuldenkrise aber hat Europa aus dem postdemokratischen Dämmerzustand aufgerüttelt. Im Kampf um die Rettung der gemeinsamen Währung geht es nicht nur um Geld und Wohlstand, sondern um Bestand und Form der Gemeinschaft schlechthin. Mit der ganzen Brutalität einer global vernetzten Ökonomie ist die EU heute dazu gezwungen, ihre Verfassung zu bestimmen und die Rolle der Politik darin zu verorten. Denn so, wie sich in früheren Epochen das Politische und das Militärische als Gestaltungsinstrumente für Weltordnungen und Gesellschaften gegenüberstanden, so muss sich heute entscheiden, ob Politik oder die Kräfte der Ökonomie die herrschende Macht in Europa sind – und darüber hinaus.

    In dem Ringen um ihre Vorherrschaft hat sich die europäische Politik bereits weit aus den konstitutionellen Bindungen nationaler Verfassungen und europäischer Vertragsregelungen gelöst. Nationale Regierungen, Parlamente und selbst die europäische Exekutive in Brüssel mussten in den zurückliegenden Monaten oft genug wie Statisten zuschauen, wenn schicksalhafte Weichenstellungen bei zweisamen Strandspaziergängen am Atlantik oder klandestinen Treffen in kleinsten Kreisen verhandelt wurden.

    Auf dem einstweiligen Höhepunkt des griechischen Staatsschuldendramas schlossen sich am Rande der Verabschiedungsfeier für den scheidenden Präsidenten der Europäischen Zentralbank, Trichet, Bundeskanzlerin Merkel, der französische Staatspräsident Sarkozy, der neue EZB-Chef Draghi, IWF-Chefin Lagarde und die führenden EU-Repräsentanten van Rompuy, Barroso und Juncker zur sogenannten "Frankfurter Runde" zusammen. Wieder war ein neues Format der Politik geboren. Beherzt nahm der kleine Kreis die Zügel in die Hand und drohte den säumigen Griechen an, was bis dahin als Tabu galt und auch in keinem europäischen Regelwerk vorgesehen war: den Ausschluss aus der Währungsunion.

    Die Drohung wirkte. Es war allein der viel gescholtene griechische Ministerpräsident Papandreou, der mit seinem kurzlebigen Referendums-Vorschlag daran erinnerte, was bei allen Bemühungen um die Rettung der Währung auf dem Spiel steht: der Anspruch, auch das künftige Europa noch demokratisch zu gestalten.

    In einer subtileren Form hat in Deutschland das Bundesverfassungsgericht dieselbe Frage in einem beispiellosen Ringen zwischen Exekutive, Legislative und Judikative auf die Agenda gesetzt. In immer dichterer Folge reihten sich 2011 Regierungs- und Parlamentsbeschlüsse über die Erweiterung des Euro-Rettungsschirmes, Klagen aufgebrachter Bürger und Abgeordneter und darauf folgende Entscheidungen der Karlsruher Richter aneinander. Es geht in dieser anhaltenden Auseinandersetzung um den Kern der Demokratie: Ist das Parlament noch der zentrale Ort des Politischen?

    Bundestagspräsident Norbert Lammert hat diesen Anspruch stets mit Nachdruck behauptet. Trotz der aberwitzigen Dynamik der exekutiven Maßnahmen zur Euro-Rettung soll sich der Bundestag sein machtvollstes Recht - nämlich die Kontrolle über den nationalen Haushalt - nicht aus der Hand nehmen lassen. Dennoch verabschiedete das Parlament im Herbst 2011 ein Gesetz, in dem das Plenum die Befugnis zu gigantischen Kreditbelastungen des Bundeshaushalts an einen winzigen Kreis von nur neun Abgeordneten delegierte. Getrieben von der Sorge, dass Kettenreaktionen der Finanzmärkte ganze Staaten innerhalb weniger Stunden in den Abgrund stoßen könnten, hatte der Bundestag eine Notstandsregel zur faktischen Selbstentmachtung geschaffen. So etwas war für Staatsrechtler bis dahin allenfalls für Kriegszeiten denkbar gewesen.

    Das verfassungsrechtliche Pingpongspiel zwischen dem höchsten deutschen Gericht und der Politik ist noch längst nicht an seinem Schlusspunkt angelangt. Doch es lässt sich absehen, dass am Ende ein Funktionswandel parlamentarischer Mitbestimmungsrechte stehen wird. In der Kette europäischer Entscheidungsverfahren werden nationale Parlamente in Zukunft immer häufiger nur noch vor der schlichten Alternative stehen, Entscheidungen einer europäischen Wirtschaftsregierung zuzustimmen oder abzulehnen. Eine weiterreichende Gestaltungsmacht kommt dem Bundestag - ganz anders als bei nationalen Haushaltsentscheidungen - dann nicht mehr zu. Das Parlament wird damit zu einem kollektiven Notariat, dessen Aufgabe es ist, die Legitimität exekutiver Entscheidungen zu beglaubigen.

    IV. Rekonstitutionalisierung: Die historische Aufgabe Europas
    In dem Abwehrkampf, den die europäischen Regierungen heute gegen die fatalen Sogwirkungen der Schuldenkrise führen, muss um das Vertrauen der Finanzmärkte in die Stabilität der gemeinsamen Währung geworben werden. Das allerdings wird nicht genügen, um den inneren Zusammenhalt der Europäischen Gemeinschaft selbst dauerhaft zu stabilisieren. Langfristig steht die EU vor der Aufgabe, das Verfassungsvertrauen ihrer Bürger zurückzugewinnen, das sie durch die Preisgabe von Transparenz, Verlässlichkeit und demokratischer Rückbindung ihrer Entscheidungsstrukturen verspielt hat. Die historische Aufgabe Europas ist eine Rekonstitutionalisierung. Es geht darum, zu beweisen, dass Politik auch in der Welt des 21. Jahrhunderts in einer Verfassung verortet werden kann.

    Die gegenwärtige Krise ist die Chance dazu. Sie schafft einen gemeinschaftlichen Erfahrungsraum, den es in dieser Intensität seit der Gründung der Union noch nicht gegeben hat. Die Sorge um die gemeinsame Währung und die Erkenntnis wechselseitiger Abhängigkeiten könnten am Ende die Kräfte sein, die die Identität eines neuen Bürgertums und das Vertrauen in die Verfasstheit einer transnationalen europäischen Polis stiften.

    Stephan Detjen ist Chefredakteur des Deutschlandfunk.