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Sehnsucht nach einer Erneuerung sozialistischer Ideen

In vielen Ländern ist es ruhig geworden um den Sozialismus. Viel zu ruhig - findet Axel Honneth. Der in Frankfurt und New York lehrende Sozialphilosoph will die alte Vorstellung mithilfe seines Buchs "Die Idee des Sozialismus" wieder flott kriegen. Und sieht mit Syriza in Griechenland und Podemos in Spanien die Wiederbelebung dieser Vision.

Von Tamara Tischendorf | 23.11.2015
    Alexis Tsipras (l), Chef der griechischen Partei Syriza, und Pablo Iglesias (r), Parteichef der spanischen Podemos, stehen bei einer Wahlveranstaltung am 25.1.2015 in Athen gemeinsam auf der Bühne.
    Syriza und Podemos wollen entfesselten Wirtschaftsliberalismus bekämpfen. (picture-alliance / dpa / Michael Kappeler)
    Syriza in Griechenland, Podemos in Spanien, die Fünf-Sterne Bewegung in Italien. In den vergangenen Jahren sind in Europa neue politische Kräfte auf den Plan getreten. Gemeinsam ist ihnen, dass sie die Zumutungen eines entfesselten Wirtschaftsliberalismus nicht länger klaglos hinnehmen wollen. Der Sozialphilosoph Axel Honneth teilt dieses Unbehagen, bescheinigt seinen Leidensgenossen aber politische Fantasielosigkeit:
    "Es ist, als mangele es dem grassierenden Unbehagen an dem Vermögen, über das Bestehende hinauszudenken und einen gesellschaftlichen Zustand jenseits des Kapitalismus zu imaginieren.
    Die Entkoppelung der Entrüstung von jeglicher Zukunftsorientierung, des Protests von allen Visionen eines Besseren, ist in der Geschichte moderner Gesellschaften tatsächlich etwas Neues."
    Über 150 Jahre lang diente die Idee des Sozialismus als Gegenentwurf zu einer nach rein ökonomischen, egoistischen Zielen ausgerichteten Gesellschaft. Die sozialistische Realsatire Namens DDR hat ihr hierzulande allerdings die Strahlkraft genommen. Dennoch besteht Axel Honneth in seinem politisch-philosophischen Essay darauf, dass der Sozialismus durchaus wieder als Inspiration dienen könnte:
    "Hier soll es nicht um die strategische Frage gehen, wie der Sozialismus heute auf das tagespolitische Geschehen Einfluss nehmen könnte, sondern einzig und allein darum, wie sein ursprüngliches Anliegen noch einmal so zu reformulieren wäre, dass es erneut zur Quelle politisch-ethischer Orientierungen werden könnte."
    Ans "Reformulieren" macht sich der Autor in den letzten beiden seines insgesamt vier Kapitel umfassenden Buches. Darin zeigt sich, dass Axel Honneth, der auch einen Lehrstuhl an der New Yorker Columbia bekleidet, sich vom amerikanischen Pragmatismus hat beeinflussen lassen. In den ersten beiden Kapiteln spricht aber zunächst ganz der geschäftsführende Direktor des Frankfurter Instituts für Sozialforschung.
    Gedanklich zu den Ursprüngen des Sozialismus
    Mit Kant, Hegel und Marx im Gepäck, reist er erst einmal gedanklich zu den Ursprüngen des Sozialismus: In die 1830er-Jahre zu den Frühsozialisten in Frankreich und England. Die Aktivisten um Robert Owens und die Anhänger von Charles Fourier hatten den Dreiklang der französischen Revolution im Kopf und das Elend der Industrialisierung vor Augen. "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" – für viele war das ein leeres Versprechen geblieben:
    "So gesehen stellt der Sozialismus von Anfang an eine Bewegung der immanenten Kritik der modernen, kapitalistisch verfassten Gesellschaftsordnung dar; akzeptiert werden deren normative Legitimationsgrundlagen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Bezweifelt wird aber, dass diese sich widerspruchsfrei realisieren lassen, wenn die Freiheit nicht weniger individualistisch und damit stärker in Richtung eines intersubjektiven Vollzugs gedacht wird."
    Den frühsozialistischen Schachzug, Freiheit und Solidarität nicht als Gegensatz zu begreifen, hält Honneth auch in der Gegenwart für anschlussfähig. Erst in einer Gemeinschaft, in der die Rahmenbedingungen stimmen, lässt sich persönliche Freiheit leben.
    "Von diesem holistischen Gedanken, nicht mehr die Einzelperson, sondern die solidarische Gemeinschaft als Trägerin der zu verwirklichenden Freiheit zu begreifen, nahm die sozialistische Bewegung ihren Ausgang."
    Mitunter etwas sperrige und professorale Sprache
    Statt Eigennutz und Profitstreben mehr wechselseitige Anerkennung und Orientierung am Gemeinwohl, das macht die Kernidee der "sozialen Freiheit" bei den Frühsozialisten aus. Virtuos navigiert Axel Honneth durch die Ideengeschichte, um zu erklären, warum der Sozialismus trotz aller Attraktivität in seiner frühen Spielart gescheitert ist. Leider bedient er sich dabei einer etwas sperrigen, professoralen Sprache, die in erster Linie ein akademisches Fachpublikum erreicht. Der gravierendste "Geburtsfehler", den er ausmacht: Die Frühsozialisten sahen ihr Betätigungsfeld ausschließlich auf wirtschaftlichem Gebiet.
    "Weil die Sozialisten alle Freiheit, die gute ebenso wie die schlechte, einseitig nur noch im ökonomischen Handlungsbereich platziert haben, ist ihnen plötzlich und ohne es recht zu bemerken die Chance genommen, das neue Regime einer demokratischen Aushandlung gemeinsamer Ziele ebenfalls in Kategorien der Freiheit zu denken. Und die Folge davon musste sein, nicht nur über keinen zureichenden Begriff der Politik mehr zu verfügen, sondern auch die emanzipatorische Seite der gleichen Freiheitsrechte insgesamt zu verfehlen."
    Zu den "gesellschaftstheoretischen Erblasten" des Sozialismus zählt Honneth daneben zwei weitere Punkte: Die Annahme, der gesellschaftliche Wandel müsse von einer klar umrissenen sozialen Gruppe - nämlich von der Arbeiterklasse – vorangetrieben werden.
    Und: Der Glaube, die menschliche Geschichte folge einem gesetzmäßigen Fortschritt. Überzeugend argumentiert Axel Honneth, dass es diese Rückbindung der sozialistischen Ideen "an den Geist und die Gesellschaft der industriellen Revolution" ist, die ihn alt aussehen lässt.
    Eine Verjüngungskur für den Sozialismus
    Der ideengeschichtliche Aufriss macht die Stärke des Buches aus. Die Verjüngungskur, die er dem Sozialismus dann am Ende gerne verordnen würde, will dagegen nicht so recht anschlagen. Um wirklich als "Quelle politisch-ethischer Orientierung" dienen zu können, bleibt der Entwurf zu abstrakt. Was zum Beispiel ist gewonnen, wenn Honneth an die Stelle der Arbeiterklasse als Verfechterin sozialistischer Ideen – wie er schreibt – "institutionelle Errungenschaften als Verkörperungen seiner Ansprüche" setzt? Hier rächt sich Honneths Verweigerungshaltung gegenüber der Tagespolitik.
    Am klarsten ist noch das Ziel des angestrebten experimentellen Sozialismus:
    "In allen Ländern sollen unter seiner geistigen Schirmherrschaft nach Möglichkeit Versuche unternommen werden, in den verschiedenen Sphären der persönlichen Beziehungen, des wirtschaftlichen Handelns und der politischen Willensbildung Bedingungen eines zwanglosen und gleichberechtigten Füreinanders herbeizuführen, die sich dann untereinander noch einmal zum organischen Ganzen einer Lebensform ergänzen."
    Das klingt wie die Beschreibung einer barrierefreien, durch und durch demokratischen Gesellschaft. Konkrete Vorschläge, wie eine auf Konkurrenzkampf getrimmte Gesellschaft eine solche Utopie wohlwollend gleich verteilter Anerkennung erreichen könnte, liefert Honneth nicht. Wie gut, dass in diesem Herbst gleich mehrere Bücher erschienen sind, die die Sehnsucht nach einer Erneuerung sozialistischer Ideen ausbuchstabieren. Der Sozialismus lässt sich eben nicht im Alleingang retten.
    Axel Honneth: "Die Idee des Sozialismus: Versuch einer Aktualisierung"
    Berlin, Suhrkamp, 2015, Preis 22, 95 Euro

    Weitere Neuerscheinungen zum Thema:

    Salvoj Zizek: "Ärger im Paradies: Vom Ende der Geschichte zum Ende des Kapitalismus"
    S. Fischer, 2015, 368 Seiten, 24,99 Euro.

    Pablo Iglesias Turrión: "Podemos! Wind des Wandels aus Spanien"
    Rotpunktverlag, 2015, 192 Seiten, 18,90 Euro.

    Alberecht von Lucke: "Die Schwarze Republik und das Versagen der deutschen Linken"
    Droemer Verlag, 2015, 240 Seiten, 18,00 Euro.