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Politikwissenschaftler nennt Jugendgewalt sozialpolitisches Problem

Die Regierung sollte die Jugendkrawalle in Großbritannien ernster nehmen, so Christoph Butterwegge. Der Politikwissenschaftler aus Köln nennt als Motiv der Krawalle die "Angst vor dem sozialen Absturz". In Deutschland seien diese Zustände erst nur "ansatzweise" vorhanden.

Christoph Butterwegge im Gespräch mit Gerd Breker | 11.08.2011
    Gerd Breker: Die Krawalle in Großbritannien haben auch bei den Sicherheitspolitikern hierzulande Nachdenklichkeit hervorgerufen. Allgemein herrscht jedoch der Glaube, Gleiches könne bei uns nicht geschehen. Doch die Gewaltausbrüche, sie haben Ursachen, sie haben Konditionen, die sie ermöglichen, befördern und Strukturen, die sie überhaupt erst möglich machen. Verbunden sind wir nun telefonisch mit Christoph Butterwegge, Professor für Politikwissenschaften am Institut für vergleichende Bildungsforschung und Sozialwissenschaften der Universität zu Köln. Guten Tag, Herr Butterwegge!

    Christoph Butterwegge: Ja, guten Tag, Herr Breker!

    Breker: Zunächst, eine derartige Eskalation der Jugendgewalt bei uns steht derzeit tatsächlich nicht an, obwohl es im Mai Krawalle in Berlin regelmäßig gibt und in Hamburg. Das ist nicht vergleichbar, oder?

    Butterwegge: Nein, ganz sicherlich nicht, denn in Großbritannien ist das schon ein Flächenbrand, und er betrifft natürlich viele Tausend Jugendliche, die da ganz offensichtlich ihren Frust ausleben. Dieser Frust wird aber irgendwie erzeugt von einer Gesellschaft, die sich sozial immer stärker spaltet in Arm und Reich, und die Politik tut jetzt so, als sei das ein rein sicherheitspolitisches Problem. Es ist natürlich eher ein sozialpolitisches, und man müsste, finde ich jedenfalls, statt die Mittelkürzung bei der Polizei zurückzunehmen, die Mittelkürzung zurücknehmen, die die Jugendlichen selbst betreffen, denn deren Jugendclubs wurden geschlossen, deren Sozialarbeiterstellen werden zusammengestrichen, und das führt natürlich dazu, gemeinsam mit der beruflichen Perspektivlosigkeit vieler Jugendlicher, dass dort dieses Gewaltpotenzial entstehen konnte.

    Breker: Also das Geschehen in London mit kriminellen Banden allein zu erklären, das ist nicht hinreichend!

    Butterwegge: Nein, da macht man es sich wirklich zu leicht, aber wir stellen natürlich fest, dass immer weniger gefragt wird: Wo sind eigentlich die gesellschaftlichen Ursachen für irgendwelche Probleme? Da kann man jetzt den norwegischen Attentäter nehmen, da wird der als Psychopath hingestellt – aber auch da müsste man natürlich fragen: Welche Verantwortung trägt eigentlich die Gesellschaft bzw. die für sie maßgeblichen – das sind nicht nur die Politiker, sonder das betrifft natürlich auch die Wirtschaft, die Verwaltung – und ich finde, wenn man so nach neoliberalen Leitsätzen wie das vor allen Dingen in Großbritannien auch geschehen ist, die Gesellschaft immer mehr auf den Markt ausrichtet und immer stärker den Bürgern, besonders den Jungen übrigens das Gefühl gibt, für euch wird nichts getan, ihr müsst eigenverantwortlich handeln, ihr müsst für euch selber vorsorgen und auch sehen, wo ihr bleibt, dann fühlen sich diejenigen, denen es besonders schlecht ergeht, und da sind eben häufig die Jugendlichen in prekären Beschäftigungsverhältnissen, oder vielleicht sogar ohne eine berufliche Perspektive, die fühlen sich an die Wand gedrückt und reagieren hier, ohne dass man das deswegen rechtfertigen könnte. Aber ein Verständnis dafür muss die Gesellschaft aufbringen, denn da sind ja die Jugendlichen, das ist die Jugend dieser Gesellschaft, und die eigentlich dann abzuschieben und so zu tun, als hätte man mit denen nichts zu tun, als wären das alles Kriminelle, Krawallmacher, die sich sicherlich auch anschließen, wenn es nachts brennt auf den Straßen, aber ich glaube, es sind auch viele, viele Zehntausende von Jugendlichen, die da betroffen sind von sozialen Problemen. Und diese Probleme ernster zu nehmen, das wäre Aufgabe einer verantwortlichen Regierung. Der britische Ministerpräsident ist nun jemand, der so eindeutig der Upperclass angehört und der überhaupt kein Verständnis aufbringt für Arbeitslose und perspektivlose Jugendliche, dass natürlich deren Gewalt und Wut noch weiter wächst, wenn nicht gegengesteuert wird.

    Breker: Da drängt sich natürlich, Herr Butterwegge, die Frage auf, inwieweit Strukturen, die in Großbritannien vorhanden sind, nicht auch bei uns zumindest in Ansätzen gegeben sind, sodass auch wir uns Sorgen machen, müssten beziehungsweise wir hingehen müssen, und müssen schauen, ob wir nicht prophylaktisch hier Veränderungen, Verbesserungen betreiben.

    Butterwegge: Ja, mir scheint, dass bei uns dieses Problem auch nicht ernst genommen wird. Ein wesentlicher Faktor, warum es zum Beispiel in Frankreich in den Banlieues [Anmerkung der Redaktion: Vororte] solche Unruhen gegeben hat, jetzt in Großbritannien, ist die Tatsache jetzt in diesen Ländern sehr viel stärker als bei uns sich die Städte spalten, also es eine sozialräumliche Segregation, man könnte auch sagen, eine Ghettoisierung von Armen und Arbeitslosen gibt.

    Breker: Haben wir sowas in ?

    Butterwegge: Ja, wir haben das bei uns erst ansatzweise. Aber wenn ich dann sehe, dass die Bundesregierung jetzt mit der Hartz-VI-Neuregelung die Möglichkeit geschaffen hat, dass man die Unterkunftskosten bei Hartz VI pauschaliert und Hessen zum Beispiel als Bundesland im Juni sofort hergegangen ist und hat den eigenen Kommunen die Möglichkeit geschaffen, dem eben nicht mehr die Wohnung der Hartz-VI-Bezieher zu bezahlen, sondern denen eine Obergrenze zu setzen oder sogar zu sagen: Wir zahlen euch nur noch eine Pauschale für die Wohnung. Dann führt dies perspektivisch dazu, dass diejenigen, die jetzt als Hartz-VI-Empfänger noch in gutbürgerlichen Quartieren wohnen, dass die ausziehen müssen an den Stadtrand in die billigsten Quartiere ziehen müssen, dann ballt sich dort die Armut möglicherweise, und das heißt, wir könnten auf lange Sicht ähnliche Probleme bekommen. Aber statt dass man dem begegnet und solche Möglichkeiten der Pauschalierung von Wohnkosten eben nicht schafft, geht die Politik diesen Weg, um dort wieder zu kürzen, wo hauptsächlich natürlich Arme und Arbeitslose betroffen sind.

    Breker: Unter den bei diesen Krawallen in London verhafteten Jugendlichen sind ja auch zahlreiche Kinder aus der Mittelschicht. Das muss doch zu denken geben! Offenbar gibt es auch in der britischen Mittelschicht so ein Gefühl, man könne in die Armut abrutschen. Ist das etwas, das bei uns die Mittelschicht auch empfindet?

    Butterwegge: Ja, das ist ein großes Problem, und ich glaube, diese Angst vor dem sozialen Absturz ist sogar noch eher ein Motiv, um sich den Gesetzen einer Gesellschaft zu widersetzen und die gültigen Gesetze nicht anzuerkennen, weil die Armen selbst, die sind häufig schon so verzweifelt und resigniert, die wehren sich zum Beispiel ja auch politisch weniger – sie gehen nicht zur Wahl, was ja schon schlimm genug ist –, aber diejenigen, die in der Mittelschicht die Angst vor dem Absturz haben, die könnten natürlich ähnlich reagieren, wobei ich eher die Angst habe bei uns – das hat sicherlich zu tun mit der Tradition des Landes, Heinrich Heine hat Deutschland das Land des Gehorsams genannt – das man bei uns nicht zu revolutionärem Überschwang neigt, ich habe eher die Angst, dass es nach rechts außen geht, dass rechte Demagogen und Rechtspopulisten diese Wut, die da wächst, und die auch bei uns wachsen kann, diesen Frust, auf ihre Mühlen lenkt und auf diese Art und Weise dann man reagiert, die natürlich ebenfalls für die Zukunft der Gesellschaft sehr, sehr fragwürdig wäre.

    Breker: Die Sorge von Professor Christoph Butterwegge war das. Er ist Politikwissenschaftler am Institut für Bildungsforschung und Sozialwissenschaften der Universität Köln. Herr Butterwegge, ich danke Ihnen sehr für Ihre Erklärung!

    Butterwegge: Bitte schön, Herr Breker!


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