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Politlabor Nordrhein-Westfalen

Am 13. Mai wählt Nordrhein-Westfalen einen neuen Landtag. Selten waren Umfragen so knapp und Koalitionen so offen wie dieses Mal. CDU-Spitzenkandidat Norbert Röttgen stellt die Haushaltspolitik ins Zentrum seiner Kampagne, SPD-Landesmutter Hannelore Kraft setzt auf Bildung, Arbeit und Soziales. Was beide eint: die Angst vor den Piraten.

Von Barbara Schmidt-Mattern | 07.05.2012
    "Lieber Norbert Röttgen, dieses schwarz-gelbe Trikot möge ein Signal für die Zukunft sein, in diesem Sinne....ich meinte das jetzt nur bezogen ..."

    Ein Trikot vom neuen Deutschen Meister, dem BVB Dortmund, haben sie sich als Präsent für Norbert Röttgen ausgedacht. Die Schalke-Fans im hinteren Teil des Saals murren zwar, aber der prominente Gast freut sich:

    "Es ist das Meisterschaftstrikot, vielen Dank!"

    Norbert Röttgen, Spitzenkandidat der Christdemokraten im nordrhein-westfälischen Landtagswahlkampf, ist zu Gast bei der Kommunalpolitischen Vereinigung der NRW-CDU. Herren im Anzug treffen sich in einem Saal, der in steriles Kunstlicht getaucht ist, irgendwo im Labyrinth der weitläufigen Westfalenhallen in Dortmund. Weiter weg vom Wähler geht es kaum. Gerade hat der CDU-Landesvorsitzende eine Rede gehalten, über kommunale Finanzen und andere Zahlen. Solche Auftritte liegen Röttgen: Da überzeugt er mit seinem Faktenwissen, wirkt engagiert und staatsmännisch. Und dann diese Frage. Ob er denn Fußballfan sei, wird der 46-Jährige nach der Veranstaltung gefragt, als er das neue Trikot in der Hand hält:

    "Ich ... bin durchaus, wie soll ich mal sagen, Fußball-, aber nicht Fußballvereinsfan, allerdings durch meine Familie – meine Frau kommt ja aus Gladbach, und darum bin ich jetzt familiär sozusagen bei Borussia Mönchengladbach untergebracht."

    Dass Gladbach ausgerechnet der Lieblingsverein von Hannelore Kraft ist, seiner Kontrahentin von der SPD, das scheint Röttgen nicht zu wissen, wie ihm überhaupt diese Art von Smalltalk nicht liegt. Der Bundesumweltminister wirkt glücklos und wie hineingestolpert in diesen Wahlkampf. Er fremdelt mit den Bürgern und dringt mit seinen Themen kaum durch. Kann er nicht, oder will er nicht, fragt sich die enttäuschte CDU-Basis. Sie fühlt sich vor den Kopf gestoßen, weil Röttgen offen lässt, ob er auch als Oppositionsführer in Düsseldorf bleiben würde.

    "Schweinerei! Vor zwei Jahren hat er noch gesagt, dass man dat machen muss, wenn man verliert, auch in die Opposition gehen, aber er hält sich wieder ein Hintertürchen offen. Das wird das Wahlergebnis negativ beeinflussen, wir brauchen einen Kandidaten, der sich ganz klar zu Nordrhein-Westfalen bekennt."

    Die Frustration sitzt bei vielen in der CDU tief. Aber einer legt den Finger in die Wunde. Ex-Fraktionsvize Armin Laschet kann eine gewisse Genugtuung nicht unterdrücken. Vor knapp zwei Jahren unterlag er Norbert Röttgen im Rennen um den Vorsitz der NRW-CDU. Jetzt, sagt Laschet, bekommt die Partei genau das, was sie selbst gewählt hat:

    "Also bei uns haben 80.000 Mitglieder mit abgestimmt in dem Wettbewerb damals, also eine große Basisbeteiligung. Und die hat wissend, dass es das Modell Landeslösung oder Bundesminister aus Berlin gab, sich für Norbert Röttgen entschieden."

    Eine Umfrage in der vergangenen Woche sah die CDU in NRW bei nur noch 30 Prozent – das wäre nach der schweren Niederlage von Jürgen Rüttgers mit 34,6 Prozent vor zwei Jahren ein neuer Negativrekord. Doch auch die übrigen vier im Landtag vertretenen Parteien - SPD, Grüne, FDP und Linke - blicken mit einem mulmigen Gefühl auf den 13. Mai. Rot-Grün kann sich auf die anfangs sicher geglaubte Mehrheit nicht mehr verlassen. Denn anders als zu Beginn des Wahlkampfes sind die Umfragen jetzt knapper und widersprüchlicher und viele Befragte noch unentschieden. Themen, die die Wähler wirklich mobilisieren, fehlen. Deshalb könnte die Wahlbeteiligung am kommenden Sonntag noch geringer ausfallen als vor zwei Jahren, damals lag sie bei 59 Prozent. Und noch eines prägt diesen Landtagswahlkampf: die Angst der anderen vor den Piraten. Sie fischen im Gewässer der sogenannten etablierten Parteien und bringen sicher geglaubte Mehrheiten ins Wanken. So ist diese Landtagswahl im bevölkerungsreichsten Bundesland vor allem eines: ein Stimmungsbarometer für Strategen und Strippenzieher. Die sehen NRW, gut ein Jahr vor der Bundestagswahl, wieder einmal als Politlabor für künftige Machtbündnisse im Bund. Die SPD lässt daran keinen Zweifel:

    "Nordrhein-Westfalen ist ein großes und ein starkes Land."

    Hannelore Kraft auf Wahlkampftour in Gütersloh. Eigentlich interessieren sich die Menschen in der ostwestfälischen Provinz für die Schulversorgung und den Fortbestand des örtlichen Krankenhauses, aber die Spitzenkandidatin der SPD hat eine ganz andere Botschaft im Gepäck. Bei dieser Landtagswahl gehe es auch um die künftige Machtkonstellation im Bund – um Schwarz-Gelb oder Rot-Grün.

    "Wir müssen mit einem großen Gewicht auch in Berlin auftreten können, und dafür brauchen wir klare Verhältnisse am 13. Mai."

    Der Straßenwahlkampf ist Krafts Stärke – die Rolle der Landesmutter beherrscht sie aus dem Effeff. Im persönlichen Vergleich mit Norbert Röttgen liegt Kraft deshalb weit vorn in den Umfragen. Sie inszeniert ihre eigene Bodenständigkeit. Hier ein Schwätzchen, dort eine Rose – Wahlkampf zum Wohlfühlen.

    "Das ist immer das, wo ich sage, Straßenwahlkampf ist auch schön, weil die Leute auch mal wat Nettes sagen, und darüber freue ich mich."

    Es ist ein sicheres Terrain für Hannelore Kraft – niemand drängt sie hier in die Enge oder stellt ihr unangenehme Fragen. Auf Risiko spielen, das liegt der 50-Jährigen nicht. Es waren die Grünen, die sie vor zwei Jahren in die Minderheitsregierung schoben, und auch die Neuwahlen jetzt haben andere ins Rollen gebracht. Anfangs zögerlich und überrascht von der rasanten Landtagsauflösung Mitte März, hat sich Hannelore Kraft schnell freigeschwommen:

    Die Doppelreihen im Wahlkampfbus sind dicht besetzt mit Journalisten, auch die Hauptstadtpresse ist angereist – lauter fremde Gesichter. Hannelore Kraft steuert die letzte Reihe an. Dort sitzt die Regionalpresse. Man kennt sich, und wie so oft geht es erst einmal um Fußball.

    Kraft:

    "Haben Sie was mitgekriegt, war das auch für Sie ein bisschen interessant?"

    Reporter:

    "Raoul verlässt Schalke."

    Solch unverfänglichen Small-Talk hat die Regierungschefin gern, vor allem weil sie in diesen Momenten die Dinge unter Kontrolle hat. In den zwei Jahren während ihrer rot-grünen Minderheitsregierung war manchmal das Gegenteil der Fall. Gleich mehrfach kam Kraft in Bedrängnis: Vom Landesverfassungsgericht kassierte sie eine schallende Ohrfeige wegen der Milliarden Euro teuren Neuverschuldung, und bei Haushaltsdebatten im Landtag geriet sie oft in die Defensive. In solchen Momenten bekommt das Bild von der netten Landesmutter Kratzer:

    "Hören Sie doch einfach mal zu! Schreien Sie doch nicht immer dazwischen! Also das ist eine Unverschämtheit, wenn ich die Daten hier vorlege."

    Im Wahlkampf präsentiert sich Kraft jetzt weicher, ihre Gegner sagen: seichter. Während der Busfahrt beschreibt sie ihren Politikstil: Bildung, Arbeit, Soziales sind ihre Themen. Gelegentlich wird Kraft mit Johannes Rau verglichen, dem langjährigen Landesvater, der in NRW über Jahrzehnte eine rote Trutzburg errichtete und als unbesiegbar galt. Hannelore Kraft gefällt der Vergleich, auch wenn sie das so direkt nicht sagt:

    "Ich mache Politik als Hannelore Kraft, und ich habe auch nie gewollt, in jemandes Fußstapfen zu treten. Nichtsdestotrotz ist Johannes Rau natürlich eine Ikone in der nordrhein-westfälischen SPD, keine Frage. Aber ich muss Politik machen, die zu mir passt."

    Kümmern will sie sich, ein Satz, den Kraft in jedes Interview einstreut. Eine Image-Formel, die die SPD endlich vom Ruf der kalten Agenda-Partei befreien soll. Es klappt nur bedingt, denn zwischen Krafts persönlichen Umfragewerten und denen der Landes-SPD klafft eine große Lücke. Dennoch ist die Tochter eines Straßenbahnmeisters aus Mülheim an der Ruhr eine treue Genossin:

    "Ich bin mal in die Politik gegangen, um die Welt zu verbessern. Ich möchte zeigen, dass eine vorsorgende Politik eine gute Wirkung entfaltet, sowohl sozialpolitisch als auch haushaltspolitisch als auch wirtschaftspolitisch."

    Christdemokraten rollen mit den Augen, wenn sie solche Sätze hören. Sie werfen der SPD vor, einen inhaltsleeren Kuschelwahlkampf zu führen. Und dass die Genossen Plakate drucken mit dem Satz "Currywurst ist SPD", ist für Norbert Röttgen kaum zu ertragen:

    "Lausiger Höhepunkt Banalisierung. Partei von Willy Brandt ist jetzt die Partei der Currywurst."

    Die Bilanz der Minderheitsregierung ist durchwachsen. Auf der Haben-Seite stehen mehrere Wahlversprechen, die SPD und Grüne in nicht einmal zwei Jahren und trotz fehlender Mehrheit eingelöst haben: die Abschaffung der Studiengebühren, ein kostenloses drittes Kindergartenjahr, frisches Geld für die Kommunen – und der vielleicht bedeutendste Erfolg: der Schulfrieden, also die Einigung auf ein längeres gemeinsames Lernen in sogenannten Sekundarschulen. An dieser Einigung war die CDU maßgeblich beteiligt – ein Erfolg, der Norbert Röttgen jetzt vor die Füße fällt. Denn nach dem Friedenschluss fehlt der CDU jetzt ein zündendes Wahlkampfthema. Spitzenkandidat Röttgen stellt deshalb die Haushaltspolitik ins Zentrum seiner Kampagne. Nach zwei Jahren Rot-Grün ist die Neuverschuldung in Nordrhein-Westfalen auf rund 130 Milliarden Euro angewachsen.

    "Es ist dringendster Handlungsbedarf, es ist oftmals nicht mehr zwei vor zwölf, sondern zehn nach zwölf. Die Lage ist zum Teil nicht mehr erträglich, nicht mehr zumutbar."

    Es klingt nach Weltuntergangsstimmung, doch Röttgen empfindet das anders. Er will in diesem Wahlkampf um etwas Höheres und Bedeutenderes werben als die Niederungen der Landespolitik allgemein hergeben. Röttgen weiß: Scheitert er in NRW, schadet das auch seiner eigenen Karriere in Berlin. "Muttis Klügster" wird er dort genannt, Ambitionen in die Fußstapfen von Angela Merkel zu treten, werden ihm nachgesagt. Der Bundesumweltminister denkt nachhaltig. Ein neuer Generationenvertrag schwebt ihm vor – "Politik aus den Augen unserer Kinder" – so sein Slogan. Das Problem ist nur: Röttgen klingt bisweilen so abstrakt und überhöht, dass seine Botschaften beim Wähler nicht ankommen:

    "Ich bin davon überzeugt und glaube fest daran, dass die Art, wie wir den Wahlkampf anlegen und machen, als Politik heute, als Orientierung an den Zukunfts- und Lebensinteressen der nächsten Generation, der jüngeren Menschen – Politik in ihren Chancen, ihrer Machbarkeit darstellen. Und ich hoffe, dass davon auch Interesse, Attraktivität auf jüngere Leute ausgeht. Ich will jedenfalls dafür viel, viel tun."

    Niemand applaudiert. Auch sonst tut sich der CDU-Politiker schwer. Obwohl Bundesumweltminister, ist es ihm nicht gelungen, die Energiepolitik im Industrieland NRW zum Wahlkampfthema zu machen. Ähnlich beim Thema Kinderbetreuung. Obwohl das bevölkerungsreichste Bundesland beim Ausbau der U3-Plätze weit zurückliegt, schafft Röttgen es nicht, daraus Honig zu saugen. Stattdessen muss er als Mitglied der schwarz-gelben Bundesregierung das Betreuungsgeld verteidigen. Immer wieder schwappt die Bundespolitik in diesen Landtagswahlkampf. Das gilt für Themen wie für die Parteien selbst.

    "Zwei Jahre habe ich Berliner Luft geschnuppert, jetzt bin ich wieder hier, zu Hause in Nordrhein-Westfalen."

    Christian Lindner ist zurück. Am 1. April haben ihn die Liberalen an Rhein und Ruhr zu ihrem Spitzenkandidaten gekürt. Aufgewachsen in der Nähe von Köln, politisches Ziehkind von Jürgen Möllemann. Jetzt soll Bambi, wie Möllemann ihn einst nannte, nicht nur die Landes-, sondern gleich die ganze Bundespartei vor dem Untergang retten. Am Wochenende hat Wolfgang Kubicki in Schleswig-Holstein den ersten Schritt gemacht. Ihm gelang es, die Serie von herben Wahlniederlagen der FDP zu durchbrechen. Kubickis Taktik hieß Distanz zur Bundespartei. Christian Lindners Taktik klingt ähnlich.

    "Es hat Enttäuschungen gegeben, weil wir auch unseren eigenen Ansprüchen an Stil und Substanz unseres Regierungshandelns in Berlin nicht immer gerecht geworden sind. Die Leute haben gute Staatskunst von uns erwartet, sie aber nicht immer gesehen."

    Lindner sagt "wir", doch es ist ihm in diesem kurzen Wahlkampf überraschend schnell gelungen, den Eindruck zu erwecken, als habe er mit den Fehlern und Verwerfungen der Bundespartei nichts zu tun. Umso genüsslicher sticheln die Grünen, denn ihr Verhältnis zur FDP ist in Nordrhein-Westfalen traditionell schlecht: Man kann sich, gelinde gesagt, nicht ausstehen, erkennbar schon am Tonfall der grünen Spitzenkandidatin Sylvia Löhrmann

    "Da ist immer von einer Runderneuerung die Rede, wo ist die eigentlich?! Privat vor Staat war ein Fehler, eine solche Aussage möchte ich von Herrn Lindner mal hören, ja!"

    Der so Gescholtene streut indes immer wieder mal Ampel-Spekulationen, sollte es für Rot-Grün am nächsten Sonntag nicht reichen. Offiziell will Lindner zur Koalitionsfrage allerdings nichts sagen. Jetzt soll erst einmal das sorgsam inszenierte Bild des Hoffnungsträgers wirken.

    "Mancher hat noch eine gewisse Skepsis, aber das Gefühl wächst, es braucht eine Stimme wie die FDP, einfach um eine Vielfalt in der Meinungslandschaft zu haben, wird die FDP jetzt auch von vielen wieder ernst genommen."

    Christian Lindner setzt im Wahlkampf auf die Themen Schulden, Schule und Energie. Mit neuer Glaubwürdigkeit möchte er Stimmen gewinnen, und tatsächlich legt die FDP in den Umfragen zu, doch auf den Veranstaltungen der Liberalen wirkt alles wie immer: Auf langen Stuhlreihen sitzen Industrielle und junge Männer, die auf ihren Taschen Aufkleber haben: Marx, Engels, Lenin – durchgestrichen mit einem dicken roten Balken. Daneben steht in Herzform: "Mach Dich frei". Über solche Wortspiele kann die Linkspartei nicht lachen.

    Mit Broschüren und einem breiten Transparent steht ein kleines Häuflein von Linkspartei-Mitgliedern auf dem schmalen Rasenstück vor einer Tankstelle in Düsseldorf. Ein Autofahrer zeigt der Gruppe einen Vogel, und dann ruft ein Parteimitglied auch noch die falsche Parole:

    "Tankstellen enteignen, Tankstellen enteignen!"

    " Nicht die Tankstellen, Nils! Die Mineralölkonzerne!"

    Das ist Katharina Schwabedissen, Spitzenkandidatin der Linken. Klug, kämpferisch, aber auch spröde und in der breiten Öffentlichkeit kaum bekannt. Es läuft nicht gut für die Linke, obwohl sie ihren Themen Millionärssteuer und kostenloses Sozialticket treu geblieben ist. Doch Partei und Fraktion wirkten zuletzt blass, und so könnte der Traum, die Linke langfristig in den West-Parlamenten zu verankern, am 13. Mai schon wieder erledigt sein: In Schleswig-Holstein sind sie aus dem Parlament geflogen, und auch in NRW wird die Partei allen Umfragen zufolge nach nur zwei Jahren Landtagspräsenz an der Fünfprozenthürde scheitern. Katharina Schwabedissen sieht das nicht so:

    "Unser gefühltes Ergebnis ist auch im Moment ein anderes. Wir erleben sehr viel Zuspruch von den Menschen, an den Infoständen, auf den Straßen. Viele Menschen wissen, dass das, was es an sozialen Verbesserungen gegeben hat – also zum Beispiel die Abschaffung der Studiengebühren, ohne die Linke wahrscheinlich gar nicht gekommen wäre."

    Und dann versucht Schwabedissen noch zu erklären, dass die Linke die bessere Protestpartei sei – besser als die Piraten:

    "Woll'n wir vielleicht anfangen?"

    So zögerlich dieser Pirat auf dem Landesparteitag Mitte April in Dortmund noch klang – an Selbstbewusstsein fehlt es den Piraten nicht. Freimütig räumen sie gleich dutzendfach Wissenslücken bei zentralen Landesthemen ein, sie widersprechen sich gegenseitig und sind im Laufe des Wahlkampfs mächtig unter Beschuss geraten.

    "Wir selber sind Treiber und Getriebene gleichermaßen",

    erwidert Joachim Paul, promovierter Biophysiker, Medienpädagoge und Mitglied in einem Dackelclub, womit der 54-Jährige gerne seine Bürgerlichkeit unterstreicht. Für eine Regierungsverantwortung sei es noch zu früh, meint Paul. Zur Wahl antreten will er trotzdem:

    "Getriebene dadurch, dass uns sehr viel mehr Wählerinnen und Wähler in die Arme laufen als das, womit man damit gerechnet hat. Die Partei hat Wachstumsschmerzen. Von daher würde ich zunächst mal sagen: Regierungsverantwortung grundsätzlich ja, aber nach meinem Dafürhalten ist es im Moment noch etwas zu früh."

    Die Wachstumsschmerzen der einen sind auch die Sorgen der anderen. Vor allem die Grünen leiden, weil die Piraten ihnen Stimmen wegzunehmen drohen.

    "Können wir uns nicht in die Sonne stellen?!"

    Sylvia Löhrmann, Spitzenkandidatin der Grünen, ist unterwegs in der Leverkusener City, und sie ist gereizt. Niemand will ein Gebäckteilchen von ihr, niemand fragt sie nach grünen Erfolgen wie dem Atomausstieg oder dem Schulfrieden. Nein, es geht immer nur um die Piraten.

    "Dann nehmen wir mal das mit, ne? Schönen Dank! Und ein Tipp: Hüten Sie sich vor den Piraten! Die schlagen überall zu"

    "Die schlagen zu?!"

    Das gute Wahlergebnis in Schleswig-Holstein beruhigt die Gemüter etwas, doch irgendwie ist der Wurm drin. Fast zwei Jahre lang wurden sie während der labilen Minderheitsregierung als Profiteure einer Neuwahl gehandelt. Doch jetzt wirkt die Öko-Partei wie ein in die Jahre gekommener Verlierer. Die Erfolge der Minderheitsregierung verbinden die Wähler eher mit der Landesmutter von der SPD als mit dem kleinen Koalitionspartner. Mit ihren Themen dringen die Grünen auch nicht durch, ihre Sachkompetenz wird im Wahlkampf nicht gewürdigt, und zu allem Übel fordert der 33-jährige Landesvorsitzende nun auch noch eine personelle Erneuerung. Ausgerechnet Norbert Röttgen, eigentlich ein Freund von Schwarz-Grün, fällt ein vernichtendes Urteil.

    "Die Grünen sind eine 70er-Jahre-Partei, die es versäumt hat, sich inhaltlich und personell zu modernisieren, und darum zeigt das die entstandenen Defizite einer selbstgefälligen grünen Partei."

    Der Aufstieg der Piraten sei nicht Ursache, sondern Folge der grünen Misere – glaubt Röttgen. So fällt in diesen Wochen jeder über jeden her in Düsseldorf. Das ist nicht ungewöhnlich in einem Wahlkampf, doch selten waren Umfragen so knapp, Themen so irrelevant und Koalitionen so offen. Einzig SPD und Grüne bekennen sich zu einer weiteren Zusammenarbeit – doch das Experiment einer Minderheitsregierung wollen sie nicht noch einmal eingehen. So ist auch diese Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen wieder ein Laborversuch mit offenem Ausgang. Berlin wird interessiert hinsehen.

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