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Politologe: Al Kaida-Kämpfer übernehmen syrischen Widerstand in Aleppo

In der umkämpften syrischen Stadt Aleppo wird die Lage zunehmend unübersichtlicher. Nach Informationen des syrisch-kurdischen Politologen Siamend Hajo hätten vom Ausland unterstützte Al Kaida-Kämpfer in der Opposition die Oberhand gewonnen.

Siamend Hajo im Gespräch mit Friedbert Meurer | 03.08.2012
    Friedbert Meurer: In ihrer Not fliehen immer mehr Syrer aus ihrer Heimat, zurzeit besonders aus der zweitgrößten Stadt des Landes, aus Aleppo. 200.000 Einwohner der Millionenmetropole im Norden Syriens sollen aus Aleppo bereits vor den Gefechten geflüchtet sein. In Berlin hält der Politikwissenschaftler Siamend Hajo Kontakt mit Aleppo. Er ist Europasprecher der Partei Kurdische Zukunftsbewegung in Syrien, und die wiederum gehört zur Widerstandsbewegung des Syrischen Nationalrats. Guten Morgen, Herr Hajo!

    Siamend Hajo: Guten Morgen!

    Meurer: Sie haben bis vor Kurzem noch Kontakte mit Aleppo gehabt, mit Freunden oder Bekannten dort. Wie sind Sie da in Verbindung?

    Hajo: Über Internet und Telefon. Ich habe erst gestern Abend mit einem Freund aus Aleppo gesprochen.

    Meurer: Was haben Sie erfahren?

    Hajo: Ja, das Übliche, was man in den letzten Tagen erfährt: viele Flüchtlinge, viele Tote. Es werden mittlerweile auch Kampfjets wohl eingesetzt. Aber das Erschreckende ist, was ich erfahren habe, dass anscheinend Salafiten, also Al Kaida, tatsächlich die Oberhand haben bei der Opposition, bei der Freien Syrischen Armee in Salaheddin, das ist dieser Stadtbezirk, das Zentrum des Widerstandes in Aleppo. 50, wenn nicht sogar bis 60 Prozent der Leute, die dort kämpfen auf Seiten der Freien Syrischen Armee, sollen Salafiten, Al Kaida sein.

    Meurer: Warum ist denn diese Unterstützung alles andere als willkommen, Herr Hajo?

    Hajo: Die Menschen sind nicht sehr erfreut darüber, dass gerade Al Kaida die Oberhand gewinnt, aber anscheinend ist es eine konzentrierte Aktion gewesen, man hat das lange vorbereitet, so zumindest mein Informant, dass Al Kaida sich dort angesammelt hat. Und es ist ungewöhnlich, dass die Opposition wirklich in einer großen Stadt wie Aleppo kämpft, weil von der Freien Syrischen Armee, von ihrer Führung war eine Order ausgegangen, dass man in so großen Städten nicht bleiben sollte. Also anscheinend sind es tatsächlich Gruppen wie Al Kaida, Salafiten, nicht nur auch Syrer sollen es sein, sondern auch Leute aus verschiedenen arabischen Ländern sollen dort sein, die kämpfen.

    Meurer: Wer steuert eigentlich jetzt noch oder wer steckt jetzt noch hinter dem Widerstand in Aleppo? Ist das der Syrische Nationalrat oder ist das jetzt Al Kaida?

    Hajo: Es ist nicht der Syrische Nationalrat. Die Freie Syrische Armee ... Viele Gruppen, die Waffen nehmen, werden als Freie Syrische Armee bezeichnet, aber man muss unterscheiden: Es gibt einerseits die Desertierten, also Soldaten, die nicht mehr bereit waren, für das Regime zu töten, haben die Seiten gewechselt, unterstehen einer Führung, die zentral einiges steuert. Dann haben wir viele unabhängige Gruppen, und dann eben auch die Salafisten, also die Al Kaida-Gruppen, die werden zum Teil vom Ausland gesteuert, aber die Mehrheit nichtsdestotrotz im restlichen Teil des Landes ist wirklich die Freie Syrische Armee, Leute, die also desertiert sind und einer Führung unterstehen, und das wiederum steht dem Syrischen Nationalrat unter. Aber in Aleppo scheint die Situation eine andere zu sein.

    Meurer: Was hat denn Ihr Freund dazu gesagt, dass Al Kaida jetzt in Aleppo ist?

    Hajo: Er hat mit vielen Menschen gesprochen, die geflohen sind zum Beispiel aus Salaheddin, er meinte, man hätte ihm sogar erzählt, dass diese Al Kaida-Gruppe menschliche Schutzschilder benutzt hat, als es Angriffe seitens des syrischen Militärs gegeben hat, und dass ... Die Leute sagten, dass diese Leute zum Teil schlimmer als Regime-Leute, also als Soldaten des Regimes vorgegangen seien. Er war selber schockiert und die Leute ebenfalls. Wir hoffen, dass es bei diesem Einzelfall bleiben wird, aber je länger dieser Konflikt dauert, umso mehr werden solche Gruppen wahrscheinlich die Oberhand gewinnen.

    Meurer: Aleppo ist eine, man könnte pathetisch sagen, vielleicht eine der schönsten Städte der Welt, mit einer großartigen Altstadt, die von der UNESCO unter Weltkulturerbe gestellt worden ist. Wie sehen Sie die nächsten Tage und Wochen für Aleppo?

    Hajo: Ich glaube, das Wenigste, woran die Leute jetzt denken, sind diese schöne Stadt und UNESCO-Kulturerbe. Es geht um Menschenleben. Wir haben um die 200.000 Flüchtlinge, täglich hunderte von Toten. Es ist überhaupt nicht vorhersehbar, wie es weitergehen wird. Also es scheint, dass der Widerstand sich konzentrieren will, dass auch die Freie Syrische Armee oder diese Al Kaida-Gruppe nicht bereit sind, die Stadt zu verlassen, und es scheint, das Regime will ernsthaft brutal weiterhin aus der Luft bombardieren. Mein Informant meinte zum Beispiel, dass insgesamt in Aleppo um die 400 Panzer im Einsatz sind und dass noch weitere Panzer noch nicht zum Einsatz gekommen sind. Er meinte, es sind wohl noch weitere 500 Panzer in der Stadt stationiert.

    Meurer: Wie viel ist denn von der Stadt schon zerstört?

    Hajo: Einige Stadtbezirke sind zu 40, 50 Prozent zerstört, in fünf, sechs Stadtteilen wird gekämpft, und er meinte, mein Informant zumindest, dass das sich immer mehr auf die anderen Stadtteile ausbreitet.

    Meurer: Sie sprechen ja für eine kurdische, syrische Partei, Herr Hajo. Inwieweit spielen bei Ihnen eigene Interessen eine Rolle oder ist man im Moment eben doch eine einheitliche Opposition gegen das Assad-Regime?

    Hajo: Unsere Partei gehört zu den wenigen Parteien, die im Syrischen Nationalrat vertreten sind. Für uns war immer wichtig, gemeinsam zu handeln und die Interessen ganz Syriens waren für uns wesentlich. Deswegen sind wir auch im Syrischen Nationalrat. Und angesichts der Tatsache, was in dem arabischen Teil des Landes vor sich geht, konzentrieren wir uns natürlich auf diesen Teil. In den kurdischen Gebieten ist es recht ruhig, da gibt es keine Kämpfe, keine militärische Auseinandersetzung. Wir haben eben in den arabischen Teilen eine humanitäre Katastrophe, und wir konzentrieren uns darauf. Natürlich gibt es kurdische Gruppen, die vorrangig sich um ihr Klientel, für ihre politische Gruppierung interessieren, sich für die Interessen der Kurden vorrangig einsetzen. Aber wenn es um diese Katastrophe geht, versucht man, gemeinsam zu agieren, gemeinsam zu unterstützen.

    Meurer: Wie groß ist Ihre Sorge, dass kurdische Interessen in einem islamistischen Syrien keine Rolle mehr spielen werden?

    Hajo: In einem islamistischen Syrien werden nicht nur die kurdischen Interessen keine Rolle spielen, auch die Interessen der meisten Syrer werden keine Rolle spielen. Von daher hoffen wir, dass es nicht dazu kommen wird, dass der Syrische Nationalrat sich doch durchsetzen wird und dass ein demokratisches, ziviles Syrien aufgebaut werden kann mit dem Syrischen Nationalrat.

    Meurer: Siamend Hajo von der Partei Kurdische Zukunftsbewegung in Syrien zur Situation in Aleppo und zur Zukunft Syriens. Herr Hajo, danke schön und auf Wiederhören!

    Hajo: Wiederhören!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.


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