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Politologe Korte
"Die Gesellschaft ist viel politisierter als vor einem Jahr"

Die Debatte über Flüchtlinge hat nach Einschätzung des Politologen Karl-Rudolf Korte die Gesellschaft verändert. Es gebe viele Ängste und die seien "ein Killervirus jeder Gemeinschaft", sagte er im Deutschlandfunk. Der Vorteil der teilweise irrationalen Diskussion sei, dass die Menschen viel politisierter seien.

Karl-Rudolf Korte im Gespräch mit Bettina Klein | 16.01.2016
    Der Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte.
    Der Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte. (dpa/picture alliance/Karlheinz Schindler)
    Korte betonte, die aktuellen Debatten in der Union und der Großen Koalition über die Flüchtlingspolitik seien notwendig, schließlich erlebe man durch die Regierungskonstellation kaum Opposition. Seiner Einschätzung nach wird Bundeskanzlerin Angela Merkel von vielen aus den eigenen Reihen als das Problem wahrgenommen. Das sei neu und "hat insofern schon etwas Gravierendes."
    Allerdings lerne sie wie die Partei, wieder innerparteilich zu kämpfen. "Ich würde sie nie unterschätzen", betonte der Politikwissenschaftler. In weiten Teilen der Bevölkerung gelte sie mit ihrem humanitären Imperativ "Wir schaffen das" weiter als Krisenlotsin. Außerdem habe sie keine persönliche Alternative. "Wenn Sie sagt, wir schaffen es nicht, heißt das, dass sie am gleichen Tag zurücktreten müsste."
    Angst als "Killervirus"
    Eine Schließung der Grenzen hält Korte für nicht machbar. Es sei nicht möglich, diese dicht zu machen und sich gleichzeitig noch als Demokratie zu bezeichnen. "Panik ist rein von den empirischen Daten nicht angebracht", betonte Korte weiter. Es gebe immer wieder Signalereignisse wie die Übergriffe auf Frauen in Köln, die die Lage ins Irrationale wendeten, ohne dass sich der Sachstand ändere. Die Konsequenz sei Angst und die sei ein "Killervirus jeder Gemeinschaft."
    Mit Blick auf die Flüchtlingsdebatte sieht Korte eine positive Entwicklung: "Die Gesellschaft ist viel politisierter als vor einem Jahr." Der Dissens gehöre zu einer Demokratie dazu. Es sei für die Legitimation nachher viel wichtiger, wenn man über einen Dissens abstimme, als ein Konsens, über den nie abgestimmt worden sei.

    Das Interview in voller Länge:
    Bettina Klein: Beginnen wir da noch mal mit einem Zitat: "Mit der Wucht eines Tsunami kehrte die Realität zurück und fegte die Sicht- und Sprachbarrieren weg, die eine parteiübergreifende Gemeinde von Politikern und selbst ernannten Meinungspolizisten rund um das Problemfeld Flüchtlinge errichtet hatte." Wer hat das wohl gesagt? Horst Seehofer, die AfD, Pegida? Alles falsch. Der bekannte Schriftsteller und exponierte Vertreter der 68er-Generation, Peter Schneider, analysiert heute in der Tageszeitung "Die Welt", was er die vergangenen zwei Wochen wahrgenommen hat. Mit herkömmlichen parteipolitischen Zuordnungen ist es schwer dieser Tage. Viele Gewissheiten geraten offenbar ins Wanken, und das muss vielleicht nicht unbedingt nur schlecht sein.
    Treten wir mal einen Schritt zurück und schauen uns noch mal an, was diese vergangene Woche gebracht hat, gemeinsam mit dem Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte von der Universität Duisburg-Essen. Ich grüße Sie, Herr Korte!
    Karl-Rudolf Korte: Hallo, Frau Klein!
    Klein: Beginnen wir mit dem, was sich in den Parteien der Großen Koalition zurzeit abspielt. Die Unterstützung für die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin bröckelt offenbar zusehends – wir haben gerade Wolfgang Bosbach gehört zur Stimmung in der Unionsfraktion: Ein Drittel uneingeschränkt für ihren Kurs, ein Drittel hat Zweifel, und ein weiteres Drittel, so konnte man ihn verstehen, unterstützt das Ganze nur noch aus Staatsräson, weil alles andere sonst gleich als Affront gegen sie verstanden würde. Was für ein Bild ergibt das für Sie?
    Korte: Ein sehr realistisches Abbild unserer Gesellschaft. Wenn Parteien vital und robust daherkommen sollen, müssen sie das auch sein, ein Abbild der Gesellschaft, zumal in einer Zeit, in der wir nicht wirklich Opposition erleben durch die Große-Koalitions-Konstellation. Wir brauchen also den Streit, den Austausch von Argumenten, die Streitkultur innerhalb der Parteien, und zumal sehr heftig auch innerhalb der Großen Koalition.
    "Sie hat keine persönliche Alternative"
    Klein: Wir fragen das häufig, ich will es der Vollständigkeit halber Sie auch noch mal fragen: Wie sicher sitzt die Kanzlerin angesichts dieser Stimmungslage in der eigenen Fraktion offenbar im Sattel?
    Korte: Erst mal scheint es so zu sein, dass sie Teil des Problems ist oder von vielen als das Problem wahrgenommen wird. Das ist neu in ihrer Kanzlerschaft und ihrer Vorsitzendenzeit als CDU-Vorsitzende. Insofern hat das schon etwas Gravierenderes als andere Krisen. Aber sie, genau wie die Partei, lernt sie auch dazu wieder, innerparteilich zu kämpfen. Das haben wir vor einigen Monaten kennengelernt. Und ich würde sie nie unterschätzen, dass sie clever und klug versucht auch, sich an der Spitze der Partei nicht nur zu halten, sondern auch klar zu sagen, dass sie nach wie vor als Krisenlotsin in der Bevölkerung, in vielen Teilen zumindest gilt, vor allem vor dem Hintergrund, ihren humanitären Imperativ durchzusetzen. Sie hat keine persönliche Alternative. Wenn sie sagt, wir schaffen es nicht, heißt das, dass sie am gleichen Tag zurücktreten müsste.
    Klein: Gut, eine andere Prognose lautet ja, sie wird irgendwann sagen, das war halt wirklich eine totale Ausnahmeentscheidung, die sie getroffen hat Anfang September, und nun müsse man davon eben langsam wegkommen. Das halten Sie nicht für eine zutreffende Diagnose?
    Korte: Nein, weil das nicht grundsätzlich das Problem löst, weil es ein Wohlstandsparadies ist, in dem wir uns bewegen, es ist eine globalisierte Nation, die nun auch die Kehrseiten von Globalisierung kennenlernt. Super-Entsolidarisierung, keiner hilft uns, wir haben den anderen vorher auch nicht geholfen. Und auf diesem riesigen, wunderbaren Niveau kommen praktisch die Fans, die auch diesen Wohlstand gerne haben wollen, und nicht die Feinde. Daran wird sich grundsätzlich nichts ändern. Ob man jetzt Selfies macht oder Grenzen irgendwie versucht zu schließen - eine Demokratie, die die Qualität hat, wie wir sie definieren, braucht offene Grenzen. Mit geschlossenen Grenzen kennt man nur Gefängnisse.
    "Zentrale Frage der deutschen Identität ganz offenbar, wie viel Verschiedenheit wir zulassen wollen"
    Klein: Aber genau das möchte die CSU ja unter anderem, und wir hören inzwischen auch wieder, dass die Keule einer Klage wieder aus dem Schrank geholt wird. Zwei namhafte frühere Verfassungsrichter haben vergangene Woche auch sich sicher gezeigt, dass das, was im Augenblick geschieht, auch was die Grenzsicherungen angeht, nicht vom Grundgesetz gedeckt sei. Ist damit zu rechnen, dass das noch mal in Karlsruhe landet?
    Korte: Ja, das ist es. So, wie deutsche politische Kultur ausgerichtet ist, die extrem immer die Exekutive gut findet und natürlich auch das Bundesverfassungsgericht, alles besser findet als die parlamentarische Verhandlung, werden wir dann auch bei dieser Frage auf Karlsruhe warten. Das ist eine sehr zentrale Frage der deutschen Identität ganz offenbar, wie viel Verschiedenheit wir zulassen wollen und wie viel Verschiedenheit auch eine Demokratie braucht. Und es wundert mich nicht, dass am Ende das in Karlsruhe landet. Aber noch mal:
    Die Konsequenz, eine Grenze zu schließen, ist bisher nicht wirklich beantwortet, wie man das macht. Eine grüne Grenze, eine offene Grenze, eine Grenze, die über Tausende von Kilometern sich zieht - ich habe da Schwierigkeiten, mir das operativ vorzustellen, wie man das machen könnte und noch als Demokratie sich zu bezeichnen - wenngleich es Grenzen des Guten gibt, und der Katastrophenschutz, der auf hohem Niveau hier läuft, irgendwo mit seinen Belastungsgrenzen sichtbar ist.
    Klein: Kritiker sagen, wir haben jetzt im Moment gar keine Grenzsicherung, und so könne das eben auch nicht bleiben.
    Korte: Aber wenn ich die Daten sehe, zwei- bis dreihundert werden zumindest pro Tag zurückgeschickt zum Beispiel nach Österreich, weil klar ist, dass sie nicht hier Asyl beantragen, sondern in ein anderes europäisches Land über Deutschland fahren wollen. Und dann schicken die Grenzbeamten die schon zurück nach Österreich. Also da wird ja schon kontrolliert, aber nicht so systematisch, dass an jedem Grünstreifen, an jedem Berg, an jedem Hügel offenbar gegenüber Österreich hier ausreichend Personal steht, um das kontrollieren zu können.
    "Was irrational mitschwingt, ist Angst, ist Unbehagen"
    Klein: Es ist einer von vielen Aspekten, die wir im Augenblick diskutieren, Herr Korte, und ich würde gerne noch auf einen weiteren kommen. Täuscht der Eindruck, dass die Debatte inzwischen zunehmend auch von Irrationalität geprägt ist, und zwar in verschiedenen Teilen des politischen Spektrums?
    Korte: Ja, das ist hochgradig irrational, denn Panik ist erst mal rein von den empirischen Daten nicht angebracht. Der Katastrophenschutz funktioniert, die Menschen in Not sind aufgenommen worden. Das funktioniert. Und es gibt immer Signalereignisse wie in Köln, die die Lage dann ins Irrationale komplett verändern, ohne dass sich der Sachstand verändert. Was irrational mitschwingt, ist Angst, ist Unbehagen, und zwar nicht jetzt, sondern auf die Zukunft gemünzt. Wer kommt in welcher Anzahl noch zu uns? Können wir damit das, was wir in Deutschland als Demokratie bezeichnen, halten oder nicht halten.
    Es gibt die Angst der Eliten gegenüber vielen Teilen der Bevölkerung, dass man nicht alles aussprechen darf, dass man einen gesellschaftlichen Konsens nicht halten kann, wenn man ehrlich und offen auch Verfehlungen, Kriminalität von Ausländern anspricht. Es gibt die populistischen Volksbelauscher, die auf der Welle von Angst surfen geradezu, und Angst ist ein Killervirus für jede Gemeinschaft. Angst ist immer voller Ressentiments letztlich auch. Da lässt sich gar nicht rational mit argumentieren. Also es ist ein Amalgam unterschiedlicher Stimmungen und verschwörungstheoretisch angeheizt geradezu durch Konjunkturen des Verdachts im Internet, durch die sozialen Medien.
    Das hat mit einem rationalen Diskurs nichts zu tun. Der Vorteil ist, die Gesellschaft ist viel politisierter als vor einem Jahr, und der Dissens gehört auch zu einer Demokratie dazu. Er ist nachher für die Legitimation wichtiger, wenn man über einen Dissens abstimmt, als ein Konsens, über den wir nie abgestimmt haben.
    "Es gibt eine Populismusresistenz in diesem Land"
    Klein: Ich habe gerade das Zitat gebracht des Autors Peter Schneider, der sich heute in der Zeitung "Die Welt" äußert unter der Überschrift "Realitätsverweigerer" fragt er, was ist nur los in Deutschland. Noch ein Zitat: "Der so hochmoralische wie unehrliche Umgang mit der Flüchtlingsfrage droht unsere formidable Demokratie in den Ruin zu treiben." Können Sie das auch unterschreiben?
    Korte: Für Teile mag das stimmen. Es gibt eine Populismusresistenz in diesem Land, und um die aufrechtzuerhalten - natürlich nicht mit Gefühlen, weil das sich für Intellektuelle nicht eignet - möchte man das eine oder andere ganz offenbar nicht aussprechen, das, was zur Wahrheit dazugehört. Dass wir eben auch Schwierigkeiten haben, mit Verschiedenheit in ausreichendem Maße in einer Demokratie angemessen umzugehen. Das steckt dahinter, und diese Unehrlichkeit bricht offenbar ganz offensichtlich auf. Das ist der Hintergrund.
    Klein: Und hat das eben auch was damit zu tun, dass, bevor noch eine Debatte zu Ende geführt wird, man sofort die möglichen Reaktionen, die es eben so verstärkt im Internet gibt, immer gleich mit dazu denkt?
    Korte: Ja. Das ist moderne Antizipation von Kommunikation. Das ist nicht ungewöhnlich, aber es ist eben nicht nur alles schneller geworden, es ist eben auch unkalkulierbarer geworden. Und von daher hilft es im Moment nicht, sich dieser Situation anzunähern durch Panik, sondern eher durch heroische Gelassenheit und durch einen Orientierungsmaßstab. Das ist das, was die Kanzlerin hat, im Blick auf ihren humanitären Imperativ. Da kann man sagen, das ist jetzt ausgereizt, aber zumindest ist die Position messbar da.
    Alles andere im Moment hilft natürlich nicht weiter, weil durch die Ereignisse man – also, es hilft nicht, die Schnelligkeit in irgendeiner Weise stoppen zu können, das wird nicht funktionieren, aber man braucht eine zuversichtliche Perspektive. Es müsste auch eine Zusammenarbeit wie eine konzertierte Aktion geben aller gesellschaftlicher Kräfte, die jetzt daran arbeitet, an diesen neuen Herausforderungen, um dafür Antworten zu entwickeln. Es wäre auch eine Hilfe, ein wichtiges Instrument, beispielsweise über ein Einwanderungsgesetz in Parlamenten – den Empörungsorten, die dafür vorgesehen sind – auch zu diskutieren. Weil wenn man ausbuchstabiert, was wir dann mit Integration meinen, dann fühlen sich auch gesellschaftliche Teile wieder berücksichtigt in einer Debatte, die offenbar jetzt keinen Nachhall finden in den politischen Diskursen.
    Klein: Sagt der Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte heute Mittag bei uns im Deutschlandfunk. Herr Korte, ich danke Ihnen für das Gespräch!
    Korte: Bitte schön!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.