Freitag, 19. April 2024

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Politologin Esra Kücük
"Für die Errungenschaften der offenen Gesellschaft kämpfen"

Gleichsam als Antwort auf Thilo Sarrazins Thesen gründete die Politologin Esra Küçük die "Junge Islam Konferenz", um mit Bildung und Dialog dem Populismus entgegenzuwirken. Die Migrationsdebatte werde als Thema überproportional groß geredet, meint sie.

Esra Kücük im Gespräch mit Karin Fischer | 02.09.2018
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    Die Debatten müssen entschärft werden, meint die Politologin Esra Kücük. (Deutschlandradio)
    Rechte Ausschreitungen in Chemnitz, die Integrationsdebatte um Mesut Özil, ein neues islamfeindliches Buch von Thilo Sarrazin – das Muster der öffentlichen Reaktionen sei fast vorhersehbar:
    "Und darum bin ich so überrascht, dass wir im Grunde aus der Vergangenheit nicht gelernt haben, in der derzeitigen Situation, weil Deutschland so stark sein könnte gerade auf Grund seiner Vielfalt", sagte die Politologin Esra Küçük im Dlf.
    "In meiner Jugend debattierte man über Ausländer, dann über Migranten. Und plötzlich war das neue Label Islam, beziehungsweise muslimisch sein so im Vordergrund."
    "Viel über die vermeintlichen Ängste gesprochen"
    In den letzten zehn Jahren habe sich Deutschland zu einem modernen Einwanderungsland entwickelt, durch Debatten und Dialoge, aber vor allem auch Gesetze, zum Beispiel die Regelungen der doppelten Staatsbürgerschaft.
    "Die andere Seite ist aber …, also wir haben in den sag' ich jetzt mal letzten drei Jahren viel über die vermeintlichen Ängste derjenigen gesprochen, die sich plötzlich nicht mehr identifizieren können mit Deutschland, weil Deutschland zu bunt geworden ist."
    Hinzu kämen die populistischen Verschiebungen innerhalb der Sprache in Richtung Hass und Hetze. Dass Sprache auch physische Folgen hat und zu Misstrauen und Gewalt führe, wisse man auch aus der Vergangenheit. Die rechten Demonstrationen in Chemnitz erinnerten sie an die fremdenfeindlichen Ausschreitungen der 90er Jahre. Deshalb müssten auch die Debatten entschärft werden, was aber nicht heiße, dass über Schwierigkeiten der Integration geschwiegen werden müsse.
    Der Satz "Wir schaffen das!" führe nicht dazu, "dass eine Million neue Menschen im Land gut integriert und angenommen werden. Allerdings, wenn Sie mal schauen im Vergleich zu dem, was das an Veränderung in unserem Land bedeutet, wenn auf 81 Millionen Menschen eine Million neue Menschen kommen, ist das natürlich sehr überproportional, wie groß wir das Thema reden."
    "Eigentlich ganz optimistisch"
    Um dieser Verschiebung entgegenzuwirken, müssten wieder andere Perspektiven in den Vordergrund gestellt werden. Mesut Özil und #metwo, also die neue Debatte um Alltagsrassismus in Deutschland, zeigten "nämlich mal auch die Ängste und Probleme derjenigen, die bisher nicht so laut gehört worden. Die sagen, ja – Rassismus ist ein Teil der Realität in Deutschland."
    Auch die vielen Menschen, die sich für eine offene Gesellschaft einsetzten, müssten wieder sichtbarer werden. Acht Millionen Menschen engagieren sich in der Flüchtlingshilfe, nur sechs Millionen in Deutschland hätten die AfD gewählt. Das sei auch Aufgabe der Kultur- und Bildungsarbeit. Dafür setzte sich Ezra Küçük in der Vergangenheit als Mitglied im Direktorium des Maxim Gorki Theaters in Berlin ein. In der Gegenwart ist sie Geschäftsführerin der Allianz Kulturstiftung.
    Vielen Menschen werde gerade klar, dass die offene Gesellschaft nicht selbstverständlich sei, sagt sie.
    "Wir merken jetzt, dass das aber Errungenschaften sind für die man wieder neu einstehen muss, für die man neu kämpfen muss und das wollen wir auch tun. Und wir wollen Hoheit zurückerlangen über die Frage, was Menschen in diesem Land bewegt. Und wir sind eigentlich ganz optimistisch."