Dienstag, 19. März 2024

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Politologin Marianne Kneuer
"Feststehende Gewissheiten sind ins Wanken gekommen"

Nach 1989 schien die Welt vereint im Streben nach Demokratie. Der andauernde Vormarsch von Hass und Autokratien führe nun zu einigen Umwälzungen in den Köpfen von Politologen, sagte die Präsidentin des politikwissenschaftlichen Weltverbandes Marianne Kneuer im Dlf. Sie sieht auch die Wissenschaftsfreiheit bedroht.

Marianne Kneuer im Gespräch mit Karin Fischer | 19.08.2018
    Porträt: Prof. Dr. Marianne Kneuer forscht und lehrt als Professorin für Politikwissenschaft an der Universität Hildesheim
    Die Politologin Marianne Kneuer forscht als Professorin in Hildesheim unter anderem zum Schwerpunkt "Politik und Internet" (idw / Isa Lange)
    Mit vielen neuen Phänomenen hatte man nach 1989 nicht mehr gerechnet, als die Welt im Zeichen der Demokratisierung zusammen rückte. Die Zeit der demokratischen, auch wirtschaftlichen Euphorie sei heute definitiv zu Ende; zudem gebe es neue Phänomene, wie zum Beispiel den IS, die auch für Politikwissenschaftler schwer einzuordnen seien. Das Jahr 2014 betrachtet Marianne Kneuer deshalb als Zäsur. Denn auch die Annexion der Krim habe der Politik und den Politikwissenschaftlern gezeigt, dass das "Nach-Kalte-Kriegs-Gefüge" nach 1989 einen großen Riss bekommen habe, der auch das gesamte Weltgefüge verändert hätte.
    Auch der internationale Verband der Politikwissenschaften sei mit neuen Problemen beschäftigt, wie dem der Wissenschaftsfreiheit: "Die neuen Autokratien, die in den 2000er-Jahren entstanden sind, in der Türkei, in Russland, in Ungarn mit dem jüngsten Verbot der Genderforschung in Ungarn, all diese Entwicklungen deuten darauf hin, dass das hohe Gut der Wissenschaftsfreiheit, aber teilweise auch die Meinungsfreiheit der Wissenschaftler, deutlich beschnitten wird." Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler übten eine Art Selbstzensur und publizierten oder sprächen nicht mehr öffentlich, wie sie es normalerweise tun würden, aus Angst vor Verfolgung.
    Als besondere Mission ihrer Präsidentschaft betrachtet Marianne Kneuer es, die Verbindungen zu PolitikwissenschaftlerInnen aus dem globalen Süden, aus Afrika, Lateinamerika, Ozeanien und Südostasien besonders zu stärken: "Ich möchte vor allem diese Kontinente und deren Sichtbarkeit und Partizipation in unserem Verband fördern." In Afrika beispielsweise gelte es, einen Verband von Politikwissenschaftlern überhaupt erst zu organisieren, hier wolle sie vor Ort beratend tätig werden.
    Die "International Political Science Association" wurde 1949 von der UNESCO gegründet, um die "intellektuellen Grundlagen zu legen für die demokratische und friedliche Entwicklung der Gesellschaften und durch wissenschaftlichen Austausch dazu beizutragen, die Nationalismen und Gegensätze zwischen den Staaten zu überwinden". Prof. Marianne Kneuer ist die erste Frau aus Deutschland und Europa, die dem IPSA vorsteht; insgesamt gab es erst vier Präsidentinnen vor ihr.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.