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Politthriller aus der Wirklichkeit

"Aschemenschen" ist ein Politthriller, ein exotisches Panorama, ein psychologisches Portrait von der Banalität des Bösen. An allen Ecken und Enden des Buches bleckt uns die Bestie Mensch mit aufgesetzter Unschuldmiene entgegen. Dabei beruht Ulrich Schmids Roman um einen Stasi-Folterer teilweise auf der Wirklichkeit. Der Auslandskorrespondent der Neuen Zürcher Zeitung wagt einen Blick auf die DDR, den sich ein deutscher Autor wohl nicht erlauben würde.

Von Florian Felix Weyh | 11.06.2006
    Der Mensch ist ein vitales Wesen. Die Nöte seines Leibes lassen ihn nicht unberührt, und neben Schmerzvermeidung lautet das wichtigste Gesetz: Iss! Speis und Trank halten Leib und Seele zusammen, nur schlechte Menschen können darauf verzichten, Asketen und lebensfeindliche Gestalten. Nein, wer lustvoll speist, im voll gedeckten Tisch sein Himmelreich entdeckt, lässt sich schon mal der Völlerei bezichtigen, ohne böse zu werden. Gerd ist so einer. Ein Berliner, Anfang sechzig, Nachname Wohlfahrt, möglicherweise ein bisschen nahe angesiedelt am Klischee des "hässlichen Deutschen", der überall auf der Welt durch schmatzende Gier auffällt. Gemach! Gerd stopft keineswegs alles wahllos in sich hinein:

    Wenn er Fleischstücke aufgabelte, dann nur solche, die er von allem Weißen, Schleimigen, Wabbeligen und Geäderten befreit hatte. Er arbeitete hart, um sich den gesünderen Genuss zu verschaffen. Schwer atmend entriss er dem Knochen die widerspenstigen Sehnen. Schmallippig trennte er Wertvolles von Wertlosem. Kam ihm doch einmal etwas Zähes zwischen die Zähne, spuckte er es aus und legte es sorgsam auf den Berg an Minderwertigem, der auf seinem Tellerrand wuchs. Pflanzliches und Fasriges hingegen ließ er im Mund, und wenn er Trauben aß, wenn er die süße Kugel aus der ledrigen Haut saugte, kaute und Saft in die Kehle quetschte, den Adamsapfel steigen ließ, um das Rinnsal in die Speiseröhre zu leiten, und die schleimüberzogenen Kernchen schließlich auf den Eckzahn bugsierte, sorgsam tastend und schiebend und noch einmal schiebend, bis er sich zum Zubeißen entschloss: Dann verschmälerte sich sein rechtes Auge in Erwartung des unvermeidlichen, quietschenden Ausrutschers, der Zahnschmelz mitnimmt und jenen kleinen Schrei der Nervenqual produziert, den nur der Essende selber hören kann.
    Essen ist Gerds Zentralmotiv, und Gerd steht im Mittelpunkt von Ulrich Schmids neuem Roman. Ein Mensch, wie er selten in der Literatur zum Helden wird: Gerd ist mittelster Durchschnitt der Mittelschicht, könnte Lohnbuchhalter in einem städtischen Betrieb sein oder besser noch Handelsreisender für Industriemaschinen, gleich welcher Art. Ein Typ, den es Millionen Mal zwischen Flensburg und München, Görlitz und Aachen gibt, und der in millionenfacher Ausführung die Welt bereist, denn reiselustig sind wir Deutschen ja.
    Seltsam, Quentin, er ist der einzige Mensch, von dem ich niemals sagen könnte, was er beruflich tut. Er ist ein Zusammengesetzter: stark im Torso, schwach in den Extremitäten. Diese Fingerchen: fünf bewegliche Wurmfortsätzchen, die an ihm schwanken wie Wasserpflanzen. Bis er nach Essen greift. Dann werden sie hart, dann wachsen sie, und die Nägel, badezimmerrosa und gestutzt, werden länger und spitzer. (…) Eigenartig die Arme: drall, aber nicht muskulös, wurstgleich, schwächlich trotz beachtlicher Fülle. In Kashgar, beim Essen, hab ich ihn nach seinem Beruf gefragt, aber nach einem unwillig hingemurmelten "Geschäfte" und, drei Bissen später, einem seltsam erschöpften "mit China" musste er die Gasflamme regeln, die seinen Eintopf erhitzte, und glitt zu diesem Zweck unter den Tisch.
    Wir befinden uns im Reich der Mitte. Die da schreibt – einen Brief – heißt Erla, ist Schweizerin und naturgemäß im Bankgewerbe zu Hause. Kurze Zeit, nachdem sie in Hongkong ihre Stelle angetreten hat, lernt sie den Australier Quentin kennen und gründet aus Abenteuerlust mit ihm zusammen ein etwas seltsames Reiseunternehmen. Es garantiert übersättigten Westlern den ultimativen Thrill: eine Entführung. Professionell gemacht, Demütigungen und kleine Misshandlungen inklusive, das Erpresservideo mit echten Kalaschnikows am Schädel fehlt ebenso wenig wie die schmerzenden Fußfesseln.

    Alles Illusion indes, alles getürkt, zum Schluss geht man friedlich auseinander, das "Opfer" um etliche Tausender ärmer, doch um eine Erfahrung reicher. Im neukapitalistischen China stößt diese Geschäftsidee – wie viele andere – auf keinerlei Bedenken bei den gedungenen Hilfskräften. Bis etwas schief läuft. Ausgerechnet bei Gerd mischt sich jemand ins dekadente Spiel ein, der reiche chinesische Fabrikbesitzer Xin Yi Cheng. Sein privater Werk- und Wachschutz befreit die vermeintliche Geisel, weil es in Xins Imperium keine Übergriffe auf Ausländer geben soll. Natürlich ist Xin alles andere als begeistert über den Mummenschanz, doch zur Rede gestellt, lässt Gerd keinerlei Schamgefühl erkennen:

    Ja, wo leben wir denn? Auf dieser Welt, ne? Und auf der hab ich nur ein Leben. Da will ich offen sein. Open, Mister! Offen wie Kinder. Die haben noch keine Gefängnisse im Kopf! Ich will experimentieren, Fehler machen, Neues erfahren. Meine Meinung ändern. Schmetterlinge im Bauch, ja Himmel, wa! Will mich verwundbar machen. Will festgefahrene Seh... ääh, festgefahrene Sehstrukturen aufbrechen. Will in Nebel eintauchen, will fühlen, fühlen, fühlen! Will fühlen, wie meine Nasenspitze kälter wird. Also metaphorisch jetzt, ne? Will eintauchen in Welten, in denen nichts so ist, wie es scheint. Will tanzen am Rande des Abgrunds. Ist doch irre, sich mal als Opfer zu fühlen.
    "Als Opfer fühlen" … ein Satz, der nicht so schnell verklingen mag. Wir hören genau hin, wenn Gerd spricht. Das bereitet kaum Freude, er ist ein primitiver, zumindest wenig differenzierter Mensch, doch es muss sein. Denn Gerd ist nicht ungefährlich, was wir, die Leser, von der ersten Zeile an ahnen. Die Figuren in Ulrich Schmids Roman "Aschemenschen" tun das freilich nicht. Auf Erla, die Protagonistin, strahlt der Deutsche die Faszination des Exotisch-Unbegreiflichen aus, weitaus exotischer als alle Chinesen um sie herum. Wie sich in Gerd unverhohlene Mittelmäßigkeit mit einem schrankenlosen Selbst-, ja beinahe Sendungsbewusstsein verbindet, lässt sie nur offenen Mundes staunen. In seiner verfressenen Diesseitigkeit, seiner Erlebnisgier ist er unerschütterlich. Und Xin, der Fabrikbesitzer, gewinnt dem Deutschen trotz aller Verachtung eine ökonomische Wertschätzung ab: Als "Buße" für die fingierte Geiselnahme muss Gerd Werbung für Xins Wurstwaren machen und in einem Werbefilm als deutscher Spezialist auftreten. Das allerdings kommt Gerd sehr entgegen, hat er doch in der fiktiven Provinzstadt Er Quan Gou seine wahre Berufung entdeckt: Schau-Esser. Von einheimischen Restaurantbesitzern wird er hofiert, damit er seine demonstrativ lustvollen Mahlzeiten bei ihnen und nicht bei der Konkurrenz einnimmt. Gerds Gefräßigkeit wirkt auf die Chinesen inspirierend, man bringt ihm Gaben dar. Ausgerechnet die Ärmsten der Armen stiften Speisen und fühlen sich geschmeichelt, wenn er diese durch Verzehr huldigt. Das allerdings bringt die jüngste Beteiligte auf die richtige Spur. Xins 15-jährige Tochter Xiao Fei ist dem Deutschen alles andere als zugetan:

    SPRECHER
    Er quält die Armen!

    Er quält sie?

    Natürlich! Merkst du das nicht? Sie leiden.

    Sie leiden? Aber sie kommen doch von alleine. Niemand hat sie gezwungen, Gerd ihr Essen mitzubringen.

    Ach Ee-La, wie dumm du bist! Die Armen können doch nicht denken. Die wissen nicht, wenn sie leiden. Sie meinen, sie seien glücklich, aber in Wirklichkeit leiden sie. Sie werden gefoltert, jawohl, gefoltert!

    Das Kind zitterte am ganzen Leib, buchstäblich. (…)

    Gefoltert?

    Aber natürlich! Auch wer lacht und ein glückliches Gesicht zeigt, kann gefoltert werden. Warum weißt du so etwas nicht? Bist du dumm?

    Ich ... ich hoffe nicht.

    Na, dann überleg ein bisschen mehr. Dummheit ist Sünde. Sie haben Hunger, die Armen. Sie kommen, um einen Satten zu sehen, weil sie hoffen, das bringe Glück. Aber während sie schauen und auf ihr Glück hoffen, werden sie gequält und verspottet. Begreifst du?

    Ich denke ... ja.

    Und dieser Gerd, der betrügt. Er hat gar keinen Hunger.

    Keinen Hunger? Gerd? Du bist verrückt.

    Ach, Ee-La, wie ahnungslos du bist. Natürlich hat er keinen Hunger.

    Xiao vermutet richtig: Gerd ist ein Scheusal – das Scheusal in der Maske des Biedermannes. Anzeichen dafür häufen sich, nicht nur die vom Autor geschickt anathematisch gesetzte Gefräßigkeit deutet darauf hin, dass die vitale Lebensverliebtheit Gerds eine monströse Nachtseite hat. Dort nämlich, wo es nicht mehr um seinen Hunger, seinen Körper geht, wandelt sich die Lebensliebe in schiere Destruktivität. Bei anderen kann Gerd ungerührt Leid ertragen, ja es scheint nicht ausgeschlossen, dass er dieses sogar genießt.

    Denn Gerd ist Folterspezialist außer Diensten. Ein sehr deutscher Beruf, doch irrt sich, wer das in allzu ferner Vergangenheit ansiedelt, etwa jenseits der Zeitenwende von 1945. Nein, auch später gab es deutsche Folterspezialisten.

    Du warst eben schon immer irgendwie ein debiles Bürschchen. Genau richtig für die Stasi. Hirnlos, ohne Perspektive, ohne Moral, vermutlich – lass mich unfair sein wie in alten Tagen – auch ohne brauchbaren Schwanz: Gott, was bist du für ein Versager. Hast Du Dich deshalb nach Afrika verdrückt? (…) Gerd, wir müssen reden. Komm zu mir. Ich bin ab September wieder in Xinjiang, wieder bei den alten Grabungen. Östlich von Kashgar, in der Nähe von Er Qan Gou. (…) Ist ein Katzensprung von Hongkong aus. Meine Handynummer hast Du – ruf mich an. Jakob.
    Jakob Wohlfahrt ist Gerds Zwillingsbruder, und die Reise in die chinesische Randprovinz hat tiefere Gründe als bloße Selbstbelustigung durch eine inszenierte Entführung. Gerd muss dem Archäologenbruder Folterfotos entreißen, die bei seiner "Arbeit" im Äthiopien der 70er-Jahre entstanden, als der stalinistische Diktator Mengistu Haile Mariam die Kulturnation im Norden Afrikas auf Steinzeitniveau herabwirtschaftete.

    Dann gab es auch noch die Berater aus der DDR, hellhäutige, oft blonde Männer mit kurzem Haar, und die standen für uns fast noch höher als Mengistu. Etwas außerhalb der äthiopischen Rangordnung, aber auch etwas höher, weil wir alle wussten, dass Mengistu ihnen nichts antun konnte. Er nahm ihren Rat entgegen. Wir nannten sie "die Deutschen". Zu Gesicht bekamen wir sie praktisch nie. Manchmal rasten sie in Autos mit verdunkelten Scheiben vorbei, und einmal war ich einem von ihnen in einem Eukalyptuswäldchen begegnet, nur ein paar hundert Meter von unserem Haus entfernt. Er trabte in einem hellblauen Trainingsanzug daher, etwas schwerfällig, längst nicht so elegant wie unsere Langstreckenläufer. Aber dafür war er freundlicher. Er hob die Hand und lächelte strahlend. Ich grüßte zurück, ohne es recht zu wollen, und hielt die Nase in den feinen Luftzug, den er auf dem Weg zurückgelassen hatte. Es duftete nach Schweiß, Rasierwasser und Kühle. Ein nordischer Duft.
    "Aschemenschen" von Ulrich Schmid ist ein vielstimmiger Roman. Diese Stimme aus Äthiopien gehört einem Opfer des damaligen Terrorregimes, das von Gerd tatkräftig unterstützt wurde. In Er Quan Gou, jener fiktiven Stadt am Rande Chinas, laufen nun dreißig Jahre später alle Fäden zusammen. Nicht zufällig, denn im neukapitalistischen Reich der Mitte wiederholen sich die ideologischen Verheerungen des 20. Jahrhunderts im Zeitraffertempo. Der Fabrikbesitzer Xin verkörpert den modernen Kapitalisten europäischer Spielart; als aufgeklärte Lichtgestalt muss er am Ende sterben. Seinen Handlungsspielraum allerdings verdankt er dem örtlichen Parteichef, Vertreter der alten kommunistischen Macht, der wiederum seinen Reichtum dem Drogenhandel verdankt, den islamische Freischärler zur Finanzierung ihres Kampfes gegen die chinesische Zentralregierung so lange betrieben, bis eine islamistische Fraktion unter ihnen dem schmutzigen Treiben Einhalt gebot.

    Diese Freischärler sind "Aschemenschen"; Terroristen, die ebenso morden, wie die Chinesen töten und foltern. In der Wüste Takla Makan, im Ausgrabungscamp Jakob Wohlfahrts, entspinnt sich ein mörderischer Totentanz, bei dem es keine Rolle spielt, auf welcher Seite man steht, weil das Unglück damit beginnt, dass überhaupt zwei Seiten existieren, die sich gegeneinander bekämpfen. Ein echter humaner Fortschritt scheint nirgendwo ersichtlich, und nur die Gerds dieser Welt überleben in allen Systemen. Sie zu dämonisieren wäre freilich verkehrt, denn sie gedeihen bei guter wie bei schlechter Pflege:

    Warum, Gerd? Warum das Foltern? Warum die Morde?

    Die blonde Frau war kaum noch zu hören. Um so lauter antwortete Gerd. Er drehte sich mit der Grazie eines Balletttänzers, die Schwäche Erlas schien ihm Kraft zu geben.

    Warum? Ach, nun gib dich doch nicht so verdammt pietätvoll, Erla! Merkst du nicht, wie peinlich du dich hier zelebrierst? "Warum, Gerd, warum?" Gott, mir kommen die Tränen. Wie selbstgerecht, wie widerlich! Zum Kotzen, so was. Ja, was willst du denn hören, he? Die Geschichte von der fehlenden Liebe? Fehlanzeige, Schätzchen. Ich wurde geliebt, mehr als Jakob jedenfalls, das Arschloch. Ich war drollig und süß, ich hatte einen Haarwirbel, ich nuckelte niedlich an einem Tuch, die Eltern haben mich geliebt, ich hab sie vergöttert, ich hab die Tanten freiwillig geküsst. Ich hatte 'ne goldige Art zu sprechen, ich war unwiderstehlich, und die Liebe pladderte nur so herab auf mich. Und ich war gut in der Schule, falls du das meinst. Saß aufrecht, mit hellen Augen, war immer dabei, hab immer die richtigen Antworten gegeben und alles auswendig gewusst. Nein, Schätzchen, da gab es nichts: keine pädophilen Lehrer, keine Prügler mit Schaum vor dem Mund, keine geilen Sadisten, keine bösen Nachbarjungs.
    "Aschemenschen" ist ein Politthriller, ein exotisches Panorama, ein psychologisches Portrait von der Banalität des Bösen. Außer dem mediokren Ex-Stasi-Mann Gerd ergötzt sich noch eine andere Figur des Buches an kreatürlichem Leid. Erlas erfolgreicher und angesehener Schweizer Vorgesetzter, der Bankdirektor Fischer-Schwalbach, sammelt Fotos gemetzelter, verstümmelter, hingerichteter Pferde – sozusagen die zivilisatorisch abgemilderte Form der Folterlust; es trifft ja nur Tiere.

    An allen Ecken und Enden des Buches bleckt uns die Bestie Mensch mit aufgesetzter Unschuldmiene entgegen, und so scheint es folgerichtig, dass Ulrich Schmid die Flucht in einen Raum antritt, in dem mehr Humanität möglich scheint als in der Wirklichkeit. Aschemenschen nämlich sind nicht nur uigurische Freischärler, sondern in der Phantasie der 15-jährigen Xiao Fei auch ein Volk mystischer, gutmütiger Riesen. Und Erla erkiest sich diese Gestalten als Schutzengel, von denen sie regelmäßig träumt und Botschaften empfängt, als Xiao Fei unvermittelt von einem Tag auf den anderen verschwunden ist.

    Eine echte Entführung diesmal? Nein – doch das soll hier nicht aufgelöst werden, obwohl die Spannungsdramaturgie des Buches weit weniger wichtig ist, als sie vordergründig zu sein behauptet. Im Gegensatz zu vielen Romanciers kennt der Auslandskorrespondent der Neuen Zürcher Zeitung, Ulrich Schmid, die exotischen Orte sehr genau, die er schildert, und das macht die eigentliche Qualität seines Schreibens aus, nicht sein manchmal willkürlich konstruiertes Spannungsgerüst. Wenn er auf etwas aufmerksam wird, erkennt er Details, die sich in ihrer Dezenz kaum in den Vordergrund spielen:

    Sie hörte vom Fenster nebenan ein Schmatzen und ein Spucken und dann, sie hatte sich auf die Ellbogen aufgestützt, ein kaum wahrnehmbares Geräusch: den Aufprall eines sehr leichten, weichen Gegenstands. Eine Wursthaut, dachte sie. Eine Wursthaut, zusammengehalten von einer dieser winzigen, aber unglaublich harten Metallklammern, auf die man besser nicht beißt und die niemand verbiegen kann, der stärkste Mann nicht.

    Diese Akribie bei der Wahrnehmung von Alltagsdetails spiegelt sich auch im politischen Horizont des Romans wider. Wahrgenommen wird nicht nur das, was in die Zeitungen gelangt, sondern eben auch das, was an den subtilen Sortierungsmechanismen der Mediengesellschaft scheitert. Gerd Wohlfahrts äthiopisches Folteropfer, das der Autor im Nachwort bei veränderter Identität als authentisch ausweist, setzt keine großen Hoffnungen auf Gerechtigkeit. Dazu sei die Geschichtsvergessenheit der Deutschen zu mächtig:

    Ich hatte einiges über die DDR gelesen in Schweden, und natürlich wusste ich, dass die Deutschen in Äthiopien Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit gewesen waren. Ich wusste, dass Berater der Hauptverwaltung Aufklärung nach Addis Abeba geschickt worden waren und dass es diese Leute waren, die den Schergen des Derg moderne Foltertechniken beibrachten. Ich wusste aber auch, dass bis zu diesem Tag kein einziger dieser Menschen im neuen, vereinigten Deutschland je vor Gericht gestellt worden war. Als ich 1995 las, dass alle hauptamtlichen Spione der Hauptverwaltung Aufklärung vom Bundesverfassungsgericht amnestiert worden waren, konnte ich das kaum glauben. Die Mörder, die Folterer liefen frei herum! Ich setzte mehrere Briefe auf, aber ich schickte keinen ab. Es hatte ja doch keinen Zweck. Man wollte die Sache vergessen, auch in Deutschland.
    Nein, es ist keine schöne Vorstellung, dass Gerd Wohlfahrt seine gefräßige Existenz bis zu seinem Sterbetag unbehelligt fortsetzen darf, und es tröstet auch nur mäßig, dass es sich bei ihm um eine literarisch zusammengesetzte Figur handelt. Das Skandalon liegt in jener weit verbreiteten Meinung, die DDR sei ein humanistisches Projekt mit kleineren Betriebsunfällen gewesen, man habe das Gute gewollt und leider nur um ein paar Zentimeter verfehlt. Ein Schweizer Autor kann sich erlauben, diesem verlogenen Common Sense etwas Differenziertes entgegenzusetzen. Wir sollten ihm Gehör schenken, denn er weiß, wovon er spricht. Im kurzen Nachwort betont er:

    Ich habe etliche Folterknechte kennen gelernt in meinem Leben, und mir graut vor der erniedrigenden Plattheit ihres Lächelns und vor ihren kleinen, freundlichen Gesten, mit denen sie ihre Vergangenheit zu töten versuchen, in jeder Sekunde von neuem. Ich fürchte mich davor, das Böse in ihren Zügen nicht finden zu können.
    Keine Bange, man kann es erkennen. Im Roman wird das Böse auch dort sichtbar, wo es lächelt. Genau deswegen lesen wir Romane.

    Ulrich Schmid: "Aschemenschen"
    Eichborn Berlin, 398 Seiten, 24,90 Euro