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Polizeiliche Kriminalstatistik 2017
Mihalic: Wir brauchen faktenbasierte Kriminalpolitik

Die Grünen-Politikerin Irene Mihalic hat Zweifel an der Aussagekraft der Polizeilichen Kriminalstatistik 2017 geäußert. Da darin nur die von der Polizei registrierte Kriminalität erfasst werde, ließen sich anhand der vorliegenden Zahlen nur Trends ablesen, sagte Mihalic im Dlf.

Irene Mihalic im Gespräch mit Christoph Heinemann | 08.05.2018
    Die Grünen-Bundestagsabgeordnete Irene Mihalic.
    Viele Delikte würden in der Kriminalstatistik gar nicht erfasst, wie beispielsweise Steuerdelikte, so Irene Mihalic, die eine Neuauflage des periodischen Sicherheitsberichts fordert (picture alliance / dpa / Gregor Fischer)
    Christoph Heinemann: 9,6 Prozent weniger Straftaten wurden im vergangenen Jahr registriert - der niedrigste Wert seit der Wiedervereinigung. Das ist die wichtigste Aussage der polizeilichen Kriminalstatistik, die heute in Berlin vorgestellt wurde. 9,6 Prozent weniger heißt aber immer noch 5,76 Millionen Delikte.
    Am Telefon ist Irene Mihalic, die innenpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen. Guten Tag!
    Irene Mihalic: Guten Tag.
    Heinemann: Frau Mihalic, ist Deutschland sicherer geworden?
    Mihalic: Ich glaube, diese Aussage lässt sich zumindest anhand der statistischen Zahlen aus der polizeilichen Kriminalstatistik so nicht treffen. Sie haben es ja in der Anmoderation trefflicher Weise gesagt, dass es sich hierbei nur um die registrierte Kriminalität handelt. Aber wie groß das Ausmaß der Kriminalität tatsächlich in unserem Land ist, das lässt sich sicherlich anhand der PKS nicht verlässlich darstellen.
    Brauchen "Neuauflage des periodischen Sicherheitsberichts"
    Heinemann: Wofür brauchen wir dann diese Statistik?
    Mihalic: Die Statistik ist ja in erster Linie, wenn man so will, ein Arbeitsnachweis der Polizei. Alles was an polizeilich registrierter Kriminalität bekannt wird, taucht in dieser Statistik auf. Viele Straftaten werden in der polizeilichen Kriminalstatistik auch gar nicht erfasst, und wie in dem Beitrag auch deutlich wurde geht das Sicherheitsgefühl mit den statistischen Werten ein Stück weit auseinander. Es lassen sich sicherlich Trends ablesen anhand der polizeilichen Kriminalstatistik, aber um tatsächlich ein realistisches Bild unserer Kriminalitätslage zu bekommen, braucht es doch wirklich eine wissenschaftliche Einordnung dieser Zahlen und vor allen Dingen auch noch weitere Forschungen und Studien im Bereich der Kriminalität. Deswegen fordern wir Grüne auch eine Neuauflage des periodischen Sicherheitsberichts und haben dazu auch einen Gesetzentwurf in den Bundestag eingebracht.
    "Sicherheitspolitik aus dem Bauch heraus"
    Heinemann: Den es schon mal gab, den es aber nicht mehr gibt. Warum nicht und kommt das jetzt?
    Mihalic: Ja, das ist die Frage, warum es den nicht mehr gibt. Es ist wirklich sehr bedauerlich. Es gab ihn zweimal, im Jahre 2001 und 2006. Damals noch unter Rot-Grün ist dieser periodische Sicherheitsbericht aufgelegt worden und der bietet uns tatsächlich oder würde uns tatsächlich eine wissenschaftliche Einordnung unserer Kriminalitätssituation bieten und würde uns in der Politik auch die Möglichkeit bieten, tatsächlich evidenzbasiert Sicherheitspolitik zu machen. Denn das, was wir in der Vergangenheit erlebt haben, war leider, dass die Große Koalition öffentlich gewordene Kriminalitätsereignisse oft dazu benutzt hat, um symbolpolitische Vorschläge ohne erkennbaren Nutzen auf den Weg zu bringen und diese dann auch breit medial zu präsentieren. Aber das ist einfach nur Sicherheitspolitik aus dem Bauch heraus, aber nicht faktenbasiert, und wir Grüne stellen uns vor, dass wir das in Zukunft wieder faktenbasiert und versachlicht machen. Deswegen haben wir diesen Gesetzentwurf auf den Weg gebracht und ich hoffe doch sehr auf die Zustimmung der Mehrheit im Haus.
    Viele Delikte "werden nicht erfasst"
    Heinemann: Frau Mihalic, können Sie bitte noch mal ein konkretes Beispiel nennen? Welche Fakten fehlen Ihnen genau?
    Mihalic: Zum einen werden zum Beispiel Delikte nicht erfasst, zum Beispiel Steuer- oder Finanzdelikte, die aber natürlich einen großen gesellschaftlichen Schaden herbeiführen. Ordnungswidrigkeiten werden nicht erfasst, Verkehrsdelikte werden nicht erfasst, verschiedene Verstöße gegen Landesgesetze werden in der polizeilichen Kriminalstatistik nicht erfasst und auch bei den Delikten, die erfasst werden, werden ja nur die Zahlen auch tatsächlich erhoben, die der Polizei bekannt werden. Nehmen Sie nur mal die Sexualdelikte; wir haben hier zwar jetzt einen Anstieg zu verzeichnen, der aber, wie auch schon in dem Beitrag durchgekommen ist, aufgrund einer gesetzlichen Änderung zustande gekommen ist. Aber die Dunkelziffer im Bereich der Sexualdelikte zum Beispiel ist doch sehr, sehr hoch, oder wird zumindest von Experten als sehr, sehr hoch eingeschätzt. Das heißt, wir haben auch hier kein wirklich realistisches Bild über unsere Kriminalitätssituation.
    Auch Staatsschutzdelikte, Delikte der politisch motivierten Kriminalität, werden in einer gesonderten Statistik erfasst und nicht in der polizeilichen Kriminalstatistik. Das heißt, im Grunde genommen müsste man all diese verschiedenen Zahlen auch tatsächlich einmal zusammenbringen, wissenschaftlich einordnen, durch Dunkelfeldstudien ergänzen, um sich tatsächlich ansatzweise ein realistisches Bild unserer Kriminalität geben zu können und das auch bewerten zu können. Allein diese Zahlen zu präsentieren, macht aus meiner Sicht wirklich wenig Sinn, denn man sieht auch hier wieder, wie diese polizeiliche Kriminalstatistik einfach politisch benutzt wird. Horst Seehofer sagt jetzt vollmundig, das Land ist sicherer geworden, und ich frage mich allen Ernstes, auf welcher Basis er eine solche Aussage treffen kann.
    Analyse gute Grundlage für Kriminalpolitik
    Heinemann: Ein realistischeres Bild ergeben vielleicht auch Untersuchungen des Landeskriminalamtes Niedersachsen. Die haben untersucht, dass 2016 mehr Menschen angegeben haben, sie seien von Kriminalität betroffen. Eine Steigerung von 29 auf 32 Prozent - wie gesagt 2016. Erreichen solche Zahlen die Politik?
    Mihalic: Solche Zahlen sind natürlich jetzt im landespolitischen Kontext in Niedersachsen sehr, sehr interessant. Ich würde mir wünschen, dass es solche Dinge auch auf Bundesebene gibt, und das sieht unser Gesetzentwurf zum Beispiel auch vor, dass solche Studien dann durchgeführt werden. Und man kann nur hoffen, dass sie dann die Politik erreichen. Im Moment erreichen uns Warnungen aus der Wissenschaft oder auch Aufforderungen, dieses oder jenes zur Kenntnis zu nehmen aus der Wissenschaft, aber das wird natürlich unterschiedlich gehört. Wenn wir die Bundesregierung verpflichten könnten, tatsächlich selber mit einem periodischen Sicherheitsbericht solche Analysen und Studien und wissenschaftliche Auswertungen zur Kenntnis zu nehmen, dann hätten wir auch tatsächlich eine gute Grundlage für eine angemessene Kriminalpolitik, die dann auch tatsächlich sachgerecht ist und auch dem Unsicherheitsgefühl in der Bevölkerung Rechnung trägt und auf Fakten basiert. So können wir im Grunde genommen immer nur wieder appellieren, dass das eine oder andere doch bitte zur Kenntnis genommen wird und wir weniger Politik aus dem Bauch oder weniger populistische Politik machen, aber das liegt dann wieder mehr oder weniger im Geschmack oder im Gusto des Einzelnen, der dann gerade Verantwortung trägt, und das sollte nicht Sinn der Sache sein.
    PKS lässt sich in jede Richtung auslegen
    Heinemann: Apropos! Leisten ungenaue Statistiken der Behauptung Vorschub, in Deutschland würden Straftaten von Migranten vertuscht, um die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung nicht in Misskredit zu bringen?
    Mihalic: Man kann natürlich die Zahlen in die eine wie auch in die andere Richtung auslegen. Das ist ja das, was ich auch anfangs sagen wollte. Je nachdem, wie man diese Zahlen einordnet, wie man sie öffentlich präsentiert, kann man, so wie jetzt Horst Seehofer das getan hat, zu der Aussage kommen, Deutschland ist sicherer geworden. Auf der anderen Seite kann man natürlich auch sagen, es gibt immer noch einen hohen Anteil an Straftaten, die von Zuwanderern begangen werden. Auch da lässt sich eine Aussage in eine entsprechende Richtung interpretieren, wie man das gerne möchte oder so, wie es einem politisch beliebt, und das ist auch unsere große Kritik daran, dass es besser wäre, tatsächlich mit wissenschaftlichen Analysen ergänzt und faktenbasiert eine Einordnung dieser Zahlen zu bekommen, auf deren Grundlage sich dann auch eine verlässlichere Politik machen lässt und sich auch tatsächlich validere Aussagen treffen lassen. Die Situation haben wir heute leider derzeit nicht, wo jeder Innenminister sich die PKS so zurechtlegt, wie er sie gerne hätte.
    Heinemann: Eine konkrete Zahl zum Schluss. Mit 9,2 Prozent stark angestiegen sind Rauschgiftdelikte, über 330.000 Fälle wurden registriert. Das sind wie gesagt nur diejenigen, die in irgendeiner Weise auch polizeilich aufgenommen wurden. Wie bekommt man diese Entwicklung in den Griff?
    Mihalic: Mit den Rauschgiftdelikten ist es ein ganz spezieller Fall. Rauschgiftdelikte sind eine klassische Kontrollkriminalität. Immer dann, wenn die Polizei viel kontrolliert, haben Sie auch einen hohen Anstieg im Bereich dieses Deliktsbereichs. Also kann ich diese Zahlen nur so erklären, dass die Polizei im Bereich der Rauschgiftkriminalität besonders aktiv war, besonders viele Maßnahmen getroffen hat und demzufolge auch viel Kriminalität in diesem Bereich registriert hat. Aber es lässt sich sicherlich nicht die Aussage treffen, dass wir jetzt ein überproportionales Rauschgiftproblem haben, was vielleicht in der Vergangenheit nicht der Fall war, weil das wirklich ein klassisches Phänomen der Kontrollkriminalität ist.
    Man kann aber vielleicht noch die Aufmerksamkeit auf eine weitere Zahl lenken, zu der Horst Seehofer ja auch noch etwas gesagt hat, und zwar zum Bereich der Waffenkriminalität. Hier hat es ja wirklich einen drastischen Anstieg gegeben, der vielleicht auch etwas mit dem Unsicherheitsgefühl in der Bevölkerung zu tun haben kann, und ich finde, beim Anstieg der Waffenkriminalität sieht man sehr, sehr schön, wie eine Politik der Verunsicherung in der Bevölkerung auch dazu beitragen kann, dass von einem bestimmten Gebiet Delikte ansteigen, die dann wiederum noch zu mehr Unsicherheit führen. Und ich finde, dem sollte durch eine sachbezogene Politik dringend entgegengewirkt werden.
    "Erfassung ist wichtig, Einordnung noch viel wichtiger"
    Heinemann: Frau Mihalic, Sie haben jetzt in den vergangenen etwa acht Minuten die polizeiliche Kriminalstatistik, ich sage es mal salopp, in die Tonne getreten. Sollte die überhaupt noch veröffentlicht werden?
    Mihalic: Natürlich, weil die polizeiliche Kriminalstatistik ist im Moment, so muss man es leider sagen, das Beste, was wir haben. Ich bin auch nicht damit einverstanden, dass ich sie jetzt hier komplett in die Tonne getreten habe. Natürlich ist eine statistische Erfassung solcher Zahlen wichtig, aber die Einordnung ist noch viel wichtiger und an der Einordnung mangelt es. Die Einordnung ist oft politisch motiviert. Dagegen können wir etwas tun und deswegen hoffe ich sehr, dass wir da mit unserem Gesetzentwurf eine Diskussion in Gang bringen können.
    Heinemann: Ist die Strafverfolgungsstatistik des Statistischen Bundesamtes die aussagekräftigere von beiden? Die wird ja auch veröffentlicht. Die ist wesentlich unbekannter und sie berücksichtigt den Verlauf von Strafverfahren im Gegensatz zu der, über die wir gerade gesprochen haben.
    Mihalic: Die Strafverfolgungsstatistik hat noch mal eine andere Aussagekraft. Was uns insgesamt aber tatsächlich fehlt, ist eine richtige Verlaufsstatistik, sozusagen vom Bekanntwerden bei der Polizei bis hin zur Aburteilung einer bestimmten Straftat oder vielleicht bis zur Einstellung eines Verfahrens, was wird aus einer Anzeige, wenn sie bei der Polizei ankommt, letzten Endes, was kommt am Ende dabei heraus. Eine solche Verlaufsstatistik über alle Instanzen und durch alle Institutionen hinweg gibt es in Deutschland so nicht und die Zahlen sind auch schwerlich miteinander vergleichbar. Ich kann die Strafverfolgungsstatistik jetzt nicht nehmen und die Zahlen aus der PKS gegenüberstellen. Das wird so in der Form nicht gelingen. Deswegen wäre es eigentlich wichtig, wenn man eine solche Verlaufsstatistik einführt, um tatsächlich zu erfahren, was wird aus der Straftat, wenn sie angezeigt wird. Wie gesagt, die Aussagekraft ist dabei eine andere.
    Heinemann: Irene Mihalic, innenpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören!
    Mihalic: Sehr gerne!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.