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Polnischer Krimi
Mehr als ein Mord im Kloster

Einer der bekanntesten Krimi-Autoren Polens ist der 39-jährige Zygmunt Miloszewski. Seinen Erfolg verdankt er vor allem seiner Trilogie um den eigenwilligen Staatsanwalt Teodor Szacki Die Handlung, die in drei verschiedenen polnischen Städten spielt, wird ebenso unkonventionell wie faktenreich und spannend erzählt. Der erste Band liegt nun auch auf Deutsch vor.

Von Marta Kijowska | 17.02.2016
    Der polnische Schriftsteller Zygmunt Miloszewski bei einem Termin 2015 in Barcelona.
    Der polnische Schriftsteller Zygmunt Miloszewski. (picture alliance / dpa / EPA / Alberto Estebez)
    Den Anfang machte Marek Krajewski, der vor einigen Jahren mit seinen Breslau-Krimis einen internationalen Erfolg feierte. Seitdem scheinen alle seine polnischen Nachfolger der Meinung zu sein, die Handlung eines guten Kriminalromans müsse mit einem besonders grausamen Mord beginnen. Nicht anders ist es bei Zygmunt Miloszewski: Schauplatz des Verbrechens in seinem Buch ist ein ehemaliges Warschauer Kloster, in dem eine Gruppentherapie stattfindet. Das Opfer, der Unternehmer Henryk Telak, war einer der fünf Teilnehmer. Als er in seinem Zimmer tot aufgefunden wird, ragt aus seinem Auge ein metallener Bratspieß. Die Ermittlungen übernimmt Staatsanwalt Teodor Szacki: ein Mann von Mitte dreißig, der trotz seines jungen Alters schon eine gewisse Müdigkeit an den Tag legt. Er hat nicht viele spektakuläre Fälle auf seinem Konto, dafür eine Menge Erfahrung mit der normalen, alltäglichen Aggression seiner Landsleute.
    "Die meisten Fälle, mit denen Staatsanwalt Szacki sich befasste, waren eine Folge dieser sinnlosen Aggression. Einer Bösartigkeit, die sich in bestimmten Momenten in einem Überfall, einer Vergewaltigung, einem Mord oder einer Schlägerei entlud. Wo rührte das her? Aus der Enttäuschung, dass das Leben so schwer, so langweilig oder so unbefriedigend ist? Aus der Angst, dass es jederzeit noch schlimmer werden kann? Aus dem Neid, dass es anderen besser geht? Oft fragte er sich das, aber er fand keine überzeugende Antwort auf das Rätsel, woher diese Wut der Polen rührte."
    Mit der Gedankenwelt des jungen Staatsanwalts, der Arbeit seiner Behörde und den Einzelheiten seines Privatlebens wird sich der Leser über lange Strecken begnügen müssen. Denn viel mehr passiert anfangs nicht, ja man staunt, wie schnell die Handlung sich dem Muster des klassischen Krimis anzupassen scheint: ein geschlossener Raum, ein Mord, einige Verdächtige, ein fleißiger Ermittler. Allerdings erfährt man bei der Lektüre dieser Passagen so viel über Warschau, den Alltag seiner Bewohner und nicht zuletzt die jüngste Geschichte und die innenpolitischen Verhältnisse des Landes, dass man sie trotzdem gern liest. Und fragt man dazu den Autor nach seiner Definition eines guten Krimis, erfährt man, dass diese unaufgeregte Erzählweise durchaus beabsichtigt ist.
    Krimi als eine Art Exorzismus
    "Ich finde, der heutige Krimi – egal, ob die Intrige einfach ist oder auf 120 Handlungswendungen und einer Million falscher Spuren basiert – sollte vor allem ein Gesellschaftsroman sein. Das ist überhaupt der Grund, warum ich anfing, Krimis zu schreiben. Als ich begann, schwedische Krimis zu lesen, von allem Henning Mankell, war ich begeistert, dass ein Krimi nicht nur unterhalten, sondern auch von einer Gesellschaft erzählen kann. Davon, wann es in ihr knistert, wo es Spannungen gibt, was sie als Gemeinschaft unter den Teppich kehren will. Mit anderen Worten: dass ein Krimi eine Art Exorzismus sein kann. Ich habe mich also für diese Gattung entschieden, weil mich die Gesellschaft am meisten interessiert, viel mehr als die Psychologie des Einzelnen. Denn ich bin der Meinung, dass die Gemeinschaft, in der wir leben, uns sehr stark definiert, oft stärker, als es uns lieb ist."
    Dennoch wird es eine Weile dauern, bis der Protagonist auf die Idee kommt, in der Vergangenheit dieser Gemeinschaft nach der Lösung des Falls zu suchen. Staatsanwalt Szacki merkt zwar schnell, dass er bei seinen Versuchen, den Mord aufzuklären, nicht gerade viel Unterstützung bekommt. Da seine anfänglichen Theorien sich aber nur auf die Teilnehmer der Therapie beziehen, erscheint ihm diese Zurückhaltung verständlich. Schließlich sind es psychisch labile Menschen, denen die Therapie selbst auch viel Kraft abverlangt. Es handelt sich nämlich um die sogenannte Aufstellungstherapie, die ebenso ungewöhnlich wie umstritten ist. Den Autor scheint sie allerdings voll zu überzeugen.
    "Mein Vater ist Therapeut, und er hat mir einmal von einer Gruppentherapie erzählt, die er selbst zwar nicht anwendet, trotzdem aber interessant findet. Sie ist ein wenig an der Grenze zur Magie, zum Schamanentum angesiedelt. Diese Therapie besteht darin, dass die Teilnehmer sich gegenseitig Mitglieder ihrer Familien vorspielen. Das heißt, sie werden so aufgestellt, wie sie nach Meinung eines Patienten am besten die Relationen innerhalb seiner Familie darstellen. Und auf einmal – ich habe es mit eigenen Augen gesehen – beginnen diese Menschen, die nichts voneinander wissen, die weder die Geschichten noch die Familien der anderen kennen, die Emotionen der Personen zu empfinden, die sie während der Therapie repräsentieren."
    Spuren in der polnischen Geschichte
    In der Wirklichkeit mag die Therapie unglaubwürdig erscheinen, als Teil der Grundidee eines Kriminalromans eignet sie sich aber hervorragend. Denn auf diese Weise bekommen die Hauptverdächtigen – der Therapeut und die vier übrigen Patienten – reichlich Gesellschaft. Jeder Teilnehmer der Therapie hat eine eigene Entsprechung im realen Leben, also kommt diese Person als Täter genauso in Frage wie er selbst. Wie verwirrend diese Spaltung der Identität sein kann, erfährt Szacki von einem der Betroffenen:
    "Ich habe zum ersten Mal an einer Aufstellung teilgenommen und... – er suchte nach dem richtigen Wort – das ist eine Grenzerfahrung, bei der man das Bewusstsein seiner selbst verliert. Als Herr Telak alle aufstellte, fühlte ich mich sofort schlecht. Und je länger ich dort stand, desto schlechter ging es mir, und ich empfand mich immer weniger als ich selbst."
    Nun fragt sich der Ermittler umso mehr, welche der unmittelbar oder mittelbar beteiligten Personen der Mörder ist: Der Therapeut? Einer der Patienten? Der unheilbar kranke Sohn? Oder gar die Ehefrau? Dass der Fall in Wirklichkeit noch komplizierter ist, merkt er spätestens dann, als er auf eine Zeitungsnotiz stößt, die ihn in die 80er Jahre zurückführt, und über sie auf einen Archivar, der im Institut für Nationales Gedenken, der polnischen Entsprechung der Gauck-Behörde, arbeitet. Und der ihm nicht nur den immer noch bestehenden Einfluss des kommunistischen Geheimdienstes SB – und damit seinen Verdacht – bestätigt, sondern auch die mit der Verfolgung dieser Spur verbundene Gefahr bewusst macht.
    "Solltest du auf die Idee kommen, sie auf irgendeine Weise zur Strecke bringen zu wollen, dann schlag es dir aus dem Kopf. Wenn du am Morgen auch nur daran denkst, wirst du am Abend die Leiche deiner Tochter beweinen. Falls du anders deinen Fall nicht lösen kannst, lege ihn zu den Akten. Es wäre schade um ihr Leben."
    Noch kein Henning Mankell
    Schon nach kurzer Zeit wird sich der Staatsanwalt überzeugen müssen, dass sein Informant recht hatte. Doch weder ein Einschüchterungsversuch noch sonstige Bemühungen ehemaliger SB-Funktionäre, seine Ermittlungen zu behindern, zeigen Wirkung. Im Gegenteil: Szacki ermittelt umso hartnäckiger und wird dafür mit der Lösung des Falls belohnt. – Auch wenn der Autor offenbar zu den jungen Polen gehört, die sich über die kommunistische Vergangenheit ihres Landes Gedanken machen, vergisst er nicht, dass die Rahmenhandlung seines Romans im Jahre 2005 spielt. So verschafft er dem Leser nicht nur Einblicke in den damaligen Warschauer Alltag, sondern auch in die Presse jener Zeit:
    "8. Juni 2005. Argentinien schlägt Brasilien 3:1. Die erste Frau mit implantiertem Eierstock feiert die Geburt ihres Kindes. In Popowo findet die Konferenz 'Frauen im Gefängnis' statt. Die Höchsttemperatur beträgt 13 Grad, keine Sonne, etwas Regen."
    Mit diesen am Anfang jedes Kapitels stehenden Pressezitaten verfolgt Miloszewski ein bestimmtes Ziel: "Wenn ich einen Roman schreibe, tue ich alles, damit er dem Leser glaubwürdig erscheint. Und ich finde, dass mir das hier ganz gut gelungen ist, weil diese echten Informationen dem Buch die Stimmung geben, in die wir versetzt werden, wenn wir in alten Zeitungen blättern – wenn wir etwas lesen, was uns einst wichtig war, was uns bewegte, worüber wir diskutierten und stritten. Oft sehen wir dabei, wie klein und unwichtig diese Ereignisse waren. Und dadurch gewinnt der Roman an Glaubwürdigkeit, weil der Leser sich denken kann: 'Ja, ich erinnere mich, das ist wirklich passiert. Also gilt das für den Rest des Buches vielleicht auch?'"
    Glaubwürdigkeit hin oder her: Mit Henning Mankell kann Zygmunt Miloszewski es noch nicht aufnehmen – dazu lässt die Spannung in seinem Krimi zu oft nach, und die Auflösung der Handlung wirkt ein wenig konstruiert. Doch es ist ihm trotzdem ein spannender Roman gelungen, der, wie von ihm beabsichtigt, nicht nur unterhält, sondern auch von einer Gesellschaft und ihren vielen historischen, politischen und mentalen Verstrickungen erzählt.
    Zygmunt Miloszewski: "Warschauer Verstrickungen", aus dem Polnischen von Friedrich Griese, Berlin Verlag, Berlin 2015, 446 Seiten, 9,99 Euro