Dienstag, 19. März 2024

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Pop im 21. Jahrhundert
Is This the End?

"Pop richtet sich nach dem, was nachgefragt wird. Wenn 'rechts' nachgefragt wird, dann rückt Pop nach rechts", sagte der Poptheoretiker Georg Seeßlen im Dlf. Pop sei einem großen Druck ausgesetzt und habe nicht mehr die rebellische Kraft von früher, erklärte er und fragt: Ist Pop nur noch Produkt?

Georg Seeßlen im Corsogespräch mit Susanne Luerweg | 23.02.2018
    Lady Gaga tritt am 15.04.2017 beim Coachella-Musikfestival in Indio, Kalifornien (USA) auf.
    Lady Gaga könnte eine der letzten Pop-Größen sein (dpa-Bildfunk / Invision / AP / Amy Harris)
    Pop ist liberal, tolerant, links. Pop ist emotional, leicht verständlich, klug. Das ist die gute Seite des Pop. Die dunkle, unschöne Seite - Pop ist dumm, faschistoid, verlogen, national. Pop ist vieles und wenn wir nicht aufpassen, dann ist Pop vielleicht bald am Ende. Zumindest könnte es passieren, glaubt der Pop-Theoretiker Georg Seeßlen. Sein neues Buch heißt "Is This the End? Pop zwischen Befreiung und Unterdrückung."
    "Pop ist sicherlich nach rechts gerückt"
    Susanne Luerweg: Und ihn begrüße ich jetzt in einem Studio im Allgäu. Schönen guten Tag, Herr Seeßlen.
    Georg Seeßlen: Hallo.
    Luerweg: Herr Seeßlen, müssen wir den Pop … Müssen wir da aufpassen? Ist Pop wie die Politik nach rechts gerückt, wenn ich Ihr Buch richtig verstehe, und befürchten Sie deshalb, dass er am Ende ist?
    Seeßlen: Also Pop ist sicherlich nach rechts gerückt, mitsamt dem Mainstream, mitsamt dem Markt. Pop richtet sich ja in großen Teilen immer nach dem, was halt nachgefragt wird. Und wenn "rechts" nachgefragt wird, wird man auch nach rechts gehen. Umgekehrt ist Pop eine Sprache, die sich relativ leicht erobern lässt, relativ leicht auch manipulieren und besetzen lässt. So nach dem klassischen Format von Antonio Gramsci, dass man in den kulturellen Zeichen und Codes und Riten eben immer um eine so politische Hegemonie auch kämpft – manchmal ohne es zu wissen. Manchmal denkt man, man ist unpolitisch und ist in Wirklichkeit schon in einem gigantischen politischen Streit inmitten dieser Zeichen drin.
    Luerweg: Aber kann sich da nicht im Prinzip jeder seinen Pop zurechtbasteln, so wie man die Religion sich an der einen oder anderen Stelle zurechtbasteln kann? Also den Pop für Intellektuelle und den Pop für Pegida?
    Seeßlen: Wir können auf der einen Seite einen Pop so sehen wie einen Supermarkt, wo jeder an sein Regal geht, um sich zu holen, was er braucht. Ich nehme einfach das, was meinem Subjekt guttut. Aber gleichzeitig ist Pop natürlich auch ein gesellschaftliches Produkt. Das heißt: Dauernd wird darum gestritten, es gibt Diskurse des Pop, es gibt Kritik des Pop, es gibt den Wettbewerb von Popsegmenten untereinander. Und das macht diese Doppeldeutigkeit immer von Pop aus – es ist nicht beliebig. Es ist immer ein endloser Kampf, der aber nie wirklich entschieden werden kann.
    Pop verliert seine diskursive Wirkung
    Luerweg: Sie schreiben in Ihrem Buch, wenn man 1940 eingefroren worden wäre und 1970 aufgewacht wäre, dann wäre alles wunderbar und schön – aber wenn man vielleicht 1990 erst aufgewacht wäre, dann wäre es schrecklich. Wann hat so dieser Turning Point eingesetzt, wo Pop nicht mehr so schön rebellisch war?
    Seeßlen: Das war wohl, sagen wir mal, parallel zu dem, was mit den sozialen Bewegungen passiert ist, was mit den Jugendkulturen passiert ist, was vielleicht aber auch mit der Gesamtgesellschaft zu tun hat. Wenn Sie sich vorstellen, dass Maggie Thatcher an einem sehr wichtigen Punkt unserer Entwicklung in Europa den Schmettersatz geprägt hat: "Es gibt so etwas wie Gesellschaft gar nicht, es gibt nur den Markt und es gibt die Nation". Und genau auf diese Spaltung eigentlich, auf dieses Verschwinden von Gesellschaft, von der Öffentlichkeit reagierte Pop, indem es auf der einen Seite sich ausschließlich am Markt orientierte, was wir Post-Punks, Post-Hippies, Post-New Wave, Post-Everything natürlich ganz grässlich fanden, was so "Plastik" war und so was. Und auf der anderen Seite mussten sie sich Formen finden, wo es immer um dieses etwas dubiose Wort von "Identität" geht.
    Wir haben noch länger mit Georg Seeßlen gesprochen: Hören Sie hier die Langfassung des Corsogesprächs
    Luerweg: Ist es denn eigentlich noch möglich, würden Sie das sagen, dem Pop heutzutage sozusagen noch emanzipatorisch-rebellische Kräfte zuzusprechen? Oder müssen wir einfach Pop im 21. Jahrhundert ganz neu denken?
    Seeßlen: Ich kann mir eine Situation vorstellen, wo Pop unter der Last dessen, was wir von ihm verlangen auf der einen Seite und von dieser Spannung zwischen extremen Marktanforderungen, extremer Kapitalisierung letztendlich auch des Pop - und auf der anderen Seite dieser Identitätssuche und dieser politischen Hegemonie-Kämpfe, einfach zerbricht. Dass wir irgendwann dieses Wort nicht mehr verwenden können, weil es nichts mehr sagt. Weil es diese widersprüchliche Einheit, die es mal gehabt hat, dieses lustvolle miteinander Kämpfen, Umgehen, sich Lieben nicht mehr erfüllen kann, sondern der rechte Pop hat dann mit dem liberal-demokratischen einfach nichts mehr zu tun.
    "Alles verwandelt sich in Beute"
    Luerweg: Vielleicht müssen wir auch noch mal sagen: Pop ist ja durchaus mehr als Musik. Pop ist Mode, Pop ist Film. Wie wirkt sich das, sage ich mal, auf die Bereich aus?
    Seeßlen: Wenn wir von Pop sprechen, sprechen wir ja meistens von Musik und was dann kommt. Also die Musik war lange Zeit – die Beatles waren eben vor der Nouvelle Vague da – und die Musik hat immer die anderen Formen der populären Kultur mitgezogen. Comics entdeckte man eigentlich auch erst via Musik. Und diese Vorrangstellung, glaube ich, hat Musik weitgehend verloren – auch dadurch, dass sie nicht mehr diesen revolutionären Charakter hat. Es gibt eben keine neuen Beatles mehr. Vielleicht gibt es demnächst noch nicht mal mehr neue Radiohead oder so etwas, sondern es gibt nur dieses Recyceln, was den Markt zwar strukturiert, was möglicherweise auch immer Erzählungen generiert, was aber nicht mehr verbunden ist mit diesem sozialen Gefühl von Aufbruch, von Zukunft, von "morgen sind wir frei".
    Luerweg: Sie schreiben auch: "Pop ist zugleich Politik und die Erlösung von Politik – Politik ist zugleich Pop und die Erlösung von Pop. Ein Seitenprodukt dieser Beziehung ist Anti-Politik und Anti-Pop." Kann man sagen Gespensterpolitik, Gespensterpop sind auch so Begriffe, mit denen Sie operieren?
    Seeßlen: Ganz zweifellos ist also diese Verwandlung in etwas Gespenstisches geschuldet auch unserem Verhältnis zu Kultur überhaupt. Ich denke, dass das, was mit der Popkultur passiert natürlich auch mit anderen Segmenten passiert. Dass sie die soziale Wertigkeit verloren hat. Und wenn wir so anschauen: Was macht eigentlich der Neoliberalismus mit den Dingen, mit den Ideen, mit den Fantasien? Dann kommt man so zu der Vorstellung, alles verwandelt sich in entweder Beute, das wird also was, was man noch erobern kann, was sich noch kapitalisieren lässt, was sich noch in Besitz verwandeln lässt – und auf der anderen Seite ins Gespenst, in das, was dauernd zurückkommt, was nicht richtig sterben kann, was aber auch nicht richtig leben kann.
    Pop braucht Hoffnung und Utopien
    Luerweg: Vermag dann Pop überhaupt noch, Lösungsansätze für politische Probleme zu geben? Kann Pop heutzutage bessere Lebensentwürfe schaffen und auch eine gemeinsame Sprache generieren? Oder ist das gar nicht mehr möglich?
    Seeßlen: Das ist so gut möglich, wie wir überhaupt noch an Zukunft denken können. In dem Moment, wo eine soziale Bewegung sich formiert, wo man auch wieder das Gefühl hat, da gibt es Ziele, da gibt es Hoffnungen, da gibt es Utopien, wird sich sicherlich auch wieder die richtige Musik und die richtigen Filme dazu bilden. Und umgekehrt kann sich durch Pop durchaus auch wieder so ein Milieu des nicht revolutionären, so weit will ich gar nicht gehen, aber doch dieses Aufbruchs, diese Lust am Verändern wieder ergeben. Sie haben es nur beide definitiv schwieriger, als sie es vor 20-30 Jahren gehabt haben.
    Luerweg: Aber dennoch, die Hoffnung stirbt zuletzt. Georg Seeßlen, Autor des Buches "Is this the end? Pop zwischen Befreiung und Unterdrückung". Herr Seeßlen, vielen Dank für das Gespräch.
    Seeßlen: Gerne.
    Georg Seeßlen: "Is This the End? Pop zwischen Befreiung und Unterdrückung"
    Edition Tiamat, kartoniert, 200 Seiten, 16 Euro