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Popmusik
Der Sound des Balkans

Turbofolk ist eine beliebte Musikrichtung im ehemaligen Jugoslawien: traditionelle Volksmusik, unterlegt mit wummernden Elektrobeats. Dass dieser Pop auch ein politisches Phänomen ist, beschreibt die Journalistin Sonja Vogel in ihrem Buch "Turbofolk".

Von Norbert Mappes-Niediek | 11.12.2017
    Eine Discokugel, aufgenommen am 04.12.2012 in München (Bayern)
    Popmusik mit viel Glitzer. (dpa picture alliance / Tobias Hase)
    Die Sängerin windet sich im bodenlangen Glitzerkleid. Männer mit Sonnenbrille und Schulterpolster hämmern harte Rhythmen. Angekommen ist der sogenannte "Turbofolk" vom Balkan und besonders aus Serbien in der internationalen Popkultur erst in den letzten Jahren und in seiner ironischen Variante - etwa in der grotesken Gestalt von Jelena Karleuša mit ihren schlecht sitzenden Goldpaillettenkostümen und den grellen Lippen.
    Aber die Auftritte sind nicht einfach nur schräg und kultig, nicht einfach nur Ironie. Es ist der Soundtrack zum Zerfall Jugoslawiens, schreibt Sonja Vogel, die frühere taz-Journalistin und heutige Sprecherin der Stiftung Bauhaus in Dessau, in ihrem Buch.
    "Einerseits ist Jelena Karleuša das wandelnde Klischee des Turbofolk-Stars: zu viel Make-up, Mega-Stilettos, knappe Kleidung, ultralanges wasserstoffblondes Haar, ständig in den Klatschspalten und in trashigsten Fernsehformaten. Aber gleichzeitig unterläuft sie das Klischee. Die Sängerin schlüpft immer in neue Rollen - auf der Bühne, im Interview, in den Videoclips. Keine dieser Rollen ist leichtgängig, die Stimme zu schrill, der Tanz zu absurd, der Wechsel zu schnell. Und so dient Karleuša selbst als Referenzpunkt für eine queere Popkultur, aus der sie schöpft."
    Begleitmelodie des Balkan-Dramas
    Es tut sich wieder etwas in Serbien, dem depressiven Nachkriegsland mit seiner Homophobie und seinem Heldenkult. Wie ein Seismograph gibt die Popkultur Auskunft über feine Ausschläge der gesellschaftlichen Stimmung, so fein, dass sie in den Analysen der Historiker, der Korrespondenten und der Diplomaten nicht registriert werden. Der Pop unterlegt die politische und soziale Geschichte der Region mit einem subtilen Grundton - wie der Soundtrack es mit einem Film tut.
    Ohne Moralin und frei von Überheblichkeit führt Sonja Vogel durch vierzig Jahre Balkan-Drama anhand von dessen Begleitmelodien.
    Im Mittelpunkt stehen drei Frauenfiguren, drei Stars aus dreien der rasch wechselnden Pop-Generationen. Vor Jelena Karleuša, Jahrgang 1978, waren das die fünf Jahre jüngere Ceca Ražnjatović und die außerhalb des Balkans weniger bekannte Lepa Brena, die schöne Brena, geboren 1960. Ceca wurde für kurze Zeit auch außerhalb der Pop-Welt bekannt und schaffte es sogar in die internationalen Nachrichten. Sie galt als die weibliche Ikone der Milošević-Ära. 1995 heiratete sie - hoch symbolisch natürlich, aber eben auch in echt - ihr männliches Gegenstück, den Berufsverbrecher und Freischärlerführer Arkan. Ihr Mann ist zwischenzeitlich tot, ihre Popularität ist jedoch unvermindert und strahlt auf den ganzen Balkan aus, auch bis tief in Feindesland, nach Kroatien und Slowenien.
    Der Folk steht im Turbofolk, der Musikrichtung, die Ende der 1980-er Jahre entstand, für die immer enger werdende Heimat im früheren Jugoslawien, vor allem in Serbien. Turbo meint, wie beim Automotor, die Beschleunigung aus sich selbst heraus, immer schneller - bis zum vorhersehbaren Crash - der dann in der gesellschaftlichen Wirklichkeit mit Krieg und Staatsverfall ja auch bald eintrat.
    Mit besonderer Hingabe und Präzision widmet sich Vogel den wechselnden Frauen- und Männerbildern und deren Brüchen.
    Glitzerkleid und Goldkettchen
    Zur Glanzzeit des Turbofolk, in den kriegerischen Neunzigerjahren, unterscheiden sich die Geschlechter extrem. Die Männer sind, nach dem Jeans-Label Diesel, die "Dieselaschi": stark, aggressiv, brutal, selbstverliebt, stumpf, treulos und, wenigstens gegenüber der Frau, auch feige. Die Frauen verzweifeln an ihnen, trauern, aber sie fügen sich. Ihre Stärke liegt darin, sich selbst besiegt zu haben. In der Unterwerfung müssen sie leiden, können aber auch profitieren: Als kalte "Sponsorusche", als die Gesponsorten, die sich - so schreibt Vogel - von ihren Goldkettchen-Mafiosi teure Glitzerklamotten schenken lassen.
    "Das Sich-Ergeben ist Thema der meisten Songtexte. Cecas Song Mrtvo more, Totes Meer ist ein geradezu prototypisches Beispiel. Erzählt wird die Geschichte einer zerbrochenen Liebe: die Protagonistin zelebriert ihre bedingungslose Hingabe an den Geliebten - ganz egal, wie er sie behandelt."
    Zu Zeiten der Lepa Brena, der "letzten Jugoslawin", war das alles noch ganz anders.
    Die aus Bosnien stammende Sängerin mit der dunklen Stimme trug ihre ungekämmte Mähne mit Selbstbewusstsein. Für die Ironie in ihren Vorstellungen waren die Männer zuständig, schlunzige, etwas schusselige Typen, die gern einen Schluck aus der Pulle nehmen und immer alles falsch machen. Sonja Vogel deutet Lepa Brena als Verkörperung des Mädchens vom Lande, das in die Stadt zieht und sich dort frei fühlen darf.
    Politik und Pop
    Die jugoslawische Popmusik, die damals entstand, wurde in der Öffentlichkeit als trivial und "unauthentisch" kritisiert. In der Ablehnung des "orientalischen Geheules", über das die Rezensenten eifrig herzogen, erkennt Vogel im Nachhinein die nationale Überheblichkeit im mitteleuropäischen Norden und Westen des Landes. Anhaben konnte die Kritik dem Jugo-Pop aber nichts. Der Soundtrack war stärker als die Regie. Zwar fiel sowohl die sogenannte "neukomponierte Volksmusik" in den 80-ern und dann, unter Milošević, auch der Turbofolk bei den Mächtigen irgendwann in Ungnade. Aber ohne Effekt: Gebrochen hat die Welle des lauten, heldischen Turbofolk erst die Ironie der nachwachsenden Generation.
    Auch wer vom Balkan oder von Jugoslawien nichts weiß, wird die 140 Seiten von Sonja Vogel mit Gewinn lesen. Selten wurden mit solcher Leichtigkeit Politik, Pop, soziale Verhältnisse, Musik- und Medienkritik zusammengedacht und dann so gescheit, zugleich aber farbig und unverkopft erzählt. Auf das nächste Werk der jungen Autorin darf man gespannt sein.
    Sonja Vogel: "Turbofolk. Soundtrack zum Zerfall Jugoslawiens"
    Ventil Verlag, 144 Seiten, 14 Euro.