Donnerstag, 25. April 2024

Archiv

Porträt
Der letzte Wehrmachtsdeserteur

Zum 70. Mal jährt sich das Attentat auf Adolf Hitler. Heutzutage wird der Umsturzversuch der Gruppe um Graf von Stauffenberg gefeiert. Das war nicht immer so. Viele Deserteure wurden auch nach Kriegsende noch als Feiglinge beschimpft und schikaniert. Ludwig Baumann, der letzte lebende Wehrmachtsdeserteur, hat das erlebt.

Von Franziska Rattei | 19.07.2014
    Der ehemalige Häftling im KZ Esterwegen, Ludwig Baumann, schaut sich am Montag (31.10.2011) in der Gedenkstätte Esterwegen (Kreis Emsland) um. Die Gedenkstätte wurde als "Ort für das Gedenken mit Raum für eigene Gedanken" kurz danach feierlich eröffnet. Im Hintergrund ist das Barackengelände des einstigen Konzentrations- und Strafgefangenenlagers der Nationalsozialisten zu sehen.
    Der letzte noch lebende Wehrmachtsdeserteur Ludwig Baumann beim Besuch der KZ-Gedenkstätte Esterwegen. (picture alliance / dpa / Ingo Wagner)
    Ludwig Baumann hat gerade den Wasserkocher angeschaltet, als es an der Tür klingelt. Der alte Herr öffnet und kommt kurz darauf mit einem Paket zurück.
    "Kann ich ja eben mal aufmachen."
    Die kleine Küche ist blitzblank und penibel aufgeräumt. Auch Baumanns Äußeres ist tadellos. Frisch gekämmtes weißes schütteres Haar, frisch geputzte Brille, das blaue Kurzarmhemd und die graue Hose sind gebügelt, die Schuhe poliert. Inzwischen hat er das Paket geöffnet: Rezensionsexemplare seines neuen Buches: "Niemals gegen das Gewissen" heißt es. Er setzt sich an den Tisch und beginnt, ein Exemplar zu signieren.
    "Ich war ja mal Legastheniker, und ich muss immer aufpassen, dass ich richtig schreibe."
    Ein offenes Buch. Wer Ludwig Baumann kennenlernt, merkt, dass er etwas loswerden will. Dass es so ordentlich ist, liegt daran, dass er einen Ordnungsfimmel hat, sagt er; vielleicht als Gegengewicht - weil er innerlich so lange so durcheinander war, hat ihm ein Psychologe einmal gesagt. Und die Legasthenie – vielleicht auch wichtig, wenn man verstehen will, was Ludwig Baumann für ein Mensch ist.
    "Meine Eltern mussten natürlich denken, dass ich nicht willig war. Und dann kam ich in die Maurerlehre mit 14. Und mit 15 starb mir meine Mutter bei einem Verkehrsunfall. Ich fing dann an zu rebellieren. Also ich bin nicht in die Hitlerjugend reingegangen, zum Beispiel, obwohl sie mich bedrängt haben an der Haustür und auf der Arbeit. Und als ich dann zur Kriegsmarine eingezogen wurde, habe ich bei der Grundausbildung keine Stiefel geputzt für Vorgesetzte – was ja üblich war. Ich hätte es ja tun können, die haben mich ja so schikaniert, da schon. Aber ich habe es wohl nicht anders tun können. Na gut. Und dann kamen wir nach Bordeaux, zur Kriegsmarine. Hafen bewachen."
    Der Entschluss zur Flucht
    1942 erfährt Baumann, dass die Nazis Hunderttausende sowjetische Soldaten erfrieren lassen. Der 21-Jährige entschließt sich, zu desertieren und über die innerfranzösische Grenze ins unbesetzte Frankreich zu fliehen; zusammen mit seinem Kameraden Kurt Oldenburg. Die Franzosen im Hafen geben ihnen Alltagskleidung und bringen sie zur Grenze, aber die jungen Soldaten laufen einer deutschen Zollstreife in die Arme. Obwohl die beiden entsicherte Pistolen dabei haben, schießen sie nicht auf die Zollbeamten, um ihre Flucht fortsetzen zu können.
    "Wir haben es nicht getan. Wir kamen dann auf die Wache vom Zoll. Dann platzte alles auf. Wir sind dann zum Tode verurteilt worden. Sie haben uns sowohl bei der Vernehmung als auch noch in der Todeszelle gefoltert. Weil wir die Franzosen nicht verraten haben, haben sie uns gefoltert."
    Ludwig Baumann sitzt 10 Monate in der Todeszelle. Und das, obwohl das Todesurteil bald in eine zwölfjährige Haftstrafe umgewandelt wird. Baumann erfährt lange nichts davon. Nach der Zeit in der Todeszelle wird Baumann ins Konzentrationslager Esterwegen gebracht, danach ins Wehrmachtsgefängnis in Torgau. Schließlich soll er im Strafbataillon an der Ostfront verheizt werden. Sein Kamerad Kurt Oldenburg und viele andere sterben dort. Ludwig Baumann überlebt, weil er wegen Diphtherie ins Lazarett kommt.
    Von alten Kameraden bedroht und beschimpft
    "Als ich dann zurückkam, da haben wir gehofft, dass unsere Handlungen anerkannt würden. Aber wir sind wirklich nur als Dreckschweine, Verräter, Feiglinge beschimpft, bedroht worden – von den alten Kameraden, die den Krieg mitgemacht haben. Ich bin dann zusammengeschlagen worden von den alten Kameraden. Ich bin dann zur Polizei gegangen. Bin dann noch mal zusammengeschlagen worden. Mein Vater war verzweifelt, er ist dann an Kummer verstorben. Und dann habe ich seinen ganzen Besitz, mehrere Häuser, Grundstücke, mit anderen wie irre vertrunken."
    Der Blick in die Vergangenheit schmerzt noch immer. Auch als Baumann seine Frau in Bremen kennenlernt, trinkt er weiter; bis Waldtraud stirbt und er sich um die sechs gemeinsamen Kinder kümmern muss. Er schafft es, aber über seine Vergangenheit spricht er in diesen Jahren nie. Erst als er seine Akte einsehen kann, kommt alles zurück, und er beschließt, die "Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz" zu gründen; gemeinsam mit 37 weiteren Mitstreitern, 1990. Die Gruppe kämpft im Bundestag um Rehabilitierung, um die Aufhebung der NS-Urteile und eine späte Würde. 2002 ist es soweit. Baumann und die anderen gelten nicht mehr als vorbestraft. Sieben Jahre später werden auch die Urteile gegen Kriegsverrat aufgehoben. Baumann lächelt.
    "Natürlich: Mir ist da ein Traum in Erfüllung gegangen. Es war sehr schön."
    Inzwischen ist Ludwig Baumann 92 Jahre alt. Der Gedanke, nicht mehr aktiv sein zu können, macht Baumann nervös. Wenn er nicht mehr eintreten kann für Pazifismus und gegen Krieg, wenn er zu gebrechlich wird, um vor Schulklassen zu sprechen - dann wird er nicht mehr lange leben, sagt er. Und dann liest er die letzten Sätze aus seinem neuen Buch „Niemals gegen das Gewissen" vor:
    "Jüngst fragte mich ein Freund: Was soll, was darf jetzt mit 92 noch kommen in deinem Leben? Nun, ich möchte solange wie möglich wach und tatkräftig bleiben und dann in Würde sterben können."