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Porträt Ernst Albrecht
Zwischen Gorleben und Boatpeople

Mit Ernst Albrecht bleibt immer das atomare Endlager Gorleben in Erinnerung. Eine andere Seite des ehemaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten ist aber auch seine Flüchtlingspolitik. Als erster westlicher Staatsmann holte er vietnamesische Boatpeople ins Land. Der CDU-Politiker starb am 14. Dezember.

Von Alexander Budde | 22.12.2014
    Dr. Ernst Albrecht, ehemaliger Ministerpräsident Niedersachsens
    Ernst Albrecht ist der Vater der Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyern (imago/bonn-sequenz)
    Niedersachsens langjähriger Ministerpräsident Ernst Albrecht wird in diesen Minuten mit einem Staatsakt geehrt. In der hannoverschen Staatsoper wollen unter anderem Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU), Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) aber auch Rupert Neudeck, ein Freund aus längst vergessenen Zeiten sprechen. Der Gründer der Hilfsorganisation Cap Anamur wird im Opernhaus gewiss an die Rettung tausender vietnamesischer Flüchtlinge erinnern. Albrecht war im Winter 1978 einer der ersten Politiker überhaupt, der den verzweifelten Bootsflüchtlingen Zuflucht in Deutschland anbot. Der erste Ministerpräsident mit CDU-Parteibuch regierte Niedersachsen von 1976 bis 1990, frei von Konflikten blieb das trotz aller Volkstümlichkeit nicht. Nach langer Krankheit war der Vater von Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen am 13. Dezember auf dem Familiengut bei Hannover gestorben. Unser Landeskorrespondent Alexander Budde hat für seinen Beitrag, den er uns schon vorab übermittelte, einige Weg- und Schicksalsgefährten des CDU-Politikers aufgesucht:
    Tran Thi Viet Hong und Vo Thanh Nghiep sitzen daheim in ihrem Wohnzimmer in Göttingen und schwelgen in Erinnerungen. Fächer mit buddhistischen Sinnsprüchen zieren die Wände, ein monumentales Wandgemälde mit Perlmuttschmuck zeigt einen Wasserbüffel im Morgennebel. In einem früheren Leben war Vo Thanh Nghiep Marineoffizier. Nach dem Sieg des kommunistischen Nordvietnams im April 1975 quälten ihn die neuen Machthaber in einem Arbeitslager.
    "Erst mal denken wir nur einfach: aus Vietnam flüchten! Wir haben keine Zukunft in Vietnam."
    Im November 1978 wagt der damals 33-Jährige mit seiner Frau, seinem kleinen Sohn und 360 weiteren Vietnamesen die Flucht ins Ungewisse. Vo-than Ngiep ist der Kapitän des notdürftig umgebauten Fischerbootes 0702, das in einer ruhigen Vollmondnacht das Mekong-Delta verlässt und Kurs auf Thailand nimmt. Niemand ahnt, dass ihnen eine zwölftägige Irrfahrt bevorsteht, die sie an den Rand des Todes führen wird. Denn Thailand will die Flüchtlinge nicht aufnehmen. Die Lage an Bord ist lebensbedrohend: Wasser und Nahrung gehen zur Neige, die unteren Decks stehen unter Wasser. Dann kommt der erlösende Funkspruch, Niedersachsen gewährt Asyl. Kaum ist der letzte Flüchtling am 30. November an Land gegangen, sinkt das Schiff.
    "Wenn wir das Foto sehen ... in ersten Gedanken, dass wir heute am Leben sind, durch Herrn Albrecht. Wenn er uns dann also nicht aufgenommen hätte."
    Tran Thi Viet Hong blättert durch die vergilbten Artikel, die das Drama damals an ihrem Fluchtpunkt Deutschland beschrieben:
    "Wenn es noch zehn oder 15 Tage gedauert hätte, dann wären wir nicht hier sitzen!"
    Ernst Albrechts Einsatz für Boatpeople
    Der Christdemokrat Albrecht war von 1976 bis 1990 Regierungschef in Niedersachsen. Seine Wahl zum Ministerpräsidenten am 6. Februar 1976 erfolgt unter bis heute ungeklärten Umständen. Abweichler aus dem sozialliberalen Regierungslager machen den CDU-Mann im dritten Wahlgang zum neuen Ministerpräsidenten. Der Spross einer Bremer Arztfamilie, Jahrgang 1930, studierte Theologie, Philosophie und Wirtschaftswissenschaften. Unvergessen seine Hilfe für die sogenannten Boatpeople.
    Als erster westlicher Staatsmann holt Albrecht die Bootsflüchtlinge ins Land. 14 Jahre regiert er Niedersachsen, dieses Kunstgebilde der Alliierten. Und auch wenn ihm der Sprung in die Bundespolitik versagt blieb, der Tatmensch habe sich unvergesslich dem wirtschaftlichen Aufschwung und den Forschungsreinrichtungen im Lande gewidmet, würdigt Ministerpräsident Stephan Weil von der SPD.
    "Er hat auch einen bundespolitischen Stellenwert gehabt, zum Beispiel einen großen Beitrag geleistet zur deutsch-polnischen Versöhnung. Und vor allem ist mir von Menschen, die damals schon Landespolitik gemacht haben, bestätigt worden, immer wieder habe er im Zweifel das Interesse des Landes über das seiner Partei gestellt. Und so soll es auch sein, finde ich. "
    "Ernst Albrecht war am längsten Ministerpräsident in der Geschichte unseres Bundeslandes - insgesamt 14 Jahre! Und er hat es vor allen Dingen geschafft, Niedersachsen von einem rein eher agrarwirtschaftlich geprägten Land weiter zu entwickeln zu einem modernen Industrie- und Forschungsland. Und er war auch in der Energiepolitik, gerade mit Blick auf die erneuerbaren Energien, auch seiner Zeit weit voraus!"
    Albrecht forcierte Gorleben
    Bemerkt der Europaabgeordnete und Vorsitzende der Landes-CDU, David McAllister - und schneidet damit ungewollt eine Kontroverse an, die zu den größten Niederlagen in der langen Amtszeit Albrechts werden sollte: Die Initiative zum Bau eines nuklearen Entsorgungszentrums in Gorleben ging von Albrecht aus. Doch die heute aberwitzig anmutenden Pläne der damaligen niedersächsischen Landesregierung ließen sich gegen den aufkeimenden Widerstand der Bevölkerung nicht durchsetzen. Andreas Graf von Bernstorff:
    "Dann hat er mir gesagt, das wäre eben nun einmal so Fakt, dass die Wiederaufbereitungsanlage hier gebaut wird, und er hätte volles Verständnis dafür, dass ich das nicht so witzig finde. Aber in zwei Jahren redet da kein Mensch mehr drüber, genauso wie bei den Kernkraftwerken."
    Erinnert sich Andreas Graf von Bernstorff an eine einschlägige Begegnung mit dem Landesvater in den 1970er-Jahren. Rund 30 Millionen Mark bot die Regierung damals dem konservativen Aristokraten für dessen Ländereien über dem Salzstock. Doch dieser verzichtete überraschend auf das Geld, trat aus der CDU aus und ließ sich in seiner Rebellion gegen die Obrigkeit auch von der Drohung mit Enteignung nicht beirren.
    Tran Thi Viet Hong:
    "Kenne Herrn Albrecht, nur vom Sehen: Er sah wie ein lieber Vater vom Sehen schon aus."
    Erinnert sich Tran Thi Viet Hong an die Begegnung mit Albrecht im Aufnahmelager in Friedland vor mehr als drei Jahrzehnten. Überfüllte Boote, Tausende Ertrunkene im Mittelmeer und keine Hilfe in Sicht: So einer wie Albrecht wird fehlen, vermutet die Gerettete, die zum Staatsakt in der Oper geladen ist.