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Post-Internet-Art
Die Kunst der digitalen Eingeborenen

Von virtuellen Utopien und Kunst im Cyberspace wollen sie nichts mehr wissen: Ausgerechnet die sogenannten Digital Natives – nach 1980 geboren und mit dem Internet groß geworden – haben sich von einer Medienkunst, die nur im Netz existiert, längst wieder abgewandt.

Von Jörg Heiser | 11.01.2015
    Ein 3D-Drucker entwirft eine rot-grüne Tülle, im Hintergrund schaut eine Frau zu.
    Ein 3D-Drucker auf einer Ausstellung in Moskau. (picture alliance / dpa / Savostyanov Sergei)
    Die Künstler der Post-Internet-Art mögen vielleicht noch im Netz recherchieren und ihre Themen und Inhalte auf Twitter und YouTube entdecken, aber sie verwandeln das Virtuelle wieder zurück in handfestes Material, zum Beispiel indem sie die online recherchierten Gegenstände mit dem 3D-Printer ausdrucken. Woher kommt diese Rückbesinnung aufs Material? Steckt Kritik am Netz dahinter, ein neuer Umgang mit dem Virtuellen - oder doch vielmehr nur der Versuch, wieder Kunstwerke zu produzieren, die sich auf dem Markt auch verkaufen lassen?
    Porträt von Jörg Heiser
    Jörg Heiser in einer Aufnahme aus dem Jahr 2008 (dpa / Karlheinz Schindler)
    Jörg Heiser, geboren 1968, ist Autor, Chefredakteur der Londoner Kunstzeitschrift "frieze", kuratiert Ausstellungen und lehrt an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg sowie an der Kunstuniversität Linz.

    2014 hat ein neues Schlagwort die Kunst erobert. Von New York bis Berlin, von Peking bis Saõ Paulo heißt es immer wieder: "Post-Internet Art". Ich als Kunstkritiker habe ein paar kritische Fragen an dieses neue Phänomen.
    Aber zunächst einmal: Was bitte ist "Post-Internet-Art"? Wie sieht das aus? Wie fühlt sich das an?
    Große Rindfleischstücke, mittels 3D-Scan aus veronesischem Marmor gefräst, drapiert auf Aluminiumrampen. Von Hitze verformte Wasserflaschen, wie edle Handtaschen auf einem Leuchttisch drapiert. Videobilder von vollgekotzten Computertastaturen - Schnitt - dann ein Typ im Ganzkörper-Fuchskostüm nebst Sadomaso-Lederriemen, der auf einem Sitzball hüpft.
    Eine junge Frau, die ein Coke-T-Shirt trägt, sagt zu einem jungen Mann, der ein NASA-T-Shirt trägt: "Du hast gelächelt, als ich furzte", während die beiden dabei im grünlichen Nachtsichtmodus gefilmt werden.
    Ein Mehrkanal-Video, das immer wieder Kreisbewegungen zeigt, aus dem Internet zusammengesucht: Ein Hirsch dreht sich im Schlamm, eine Frau tanzt Hula-Hoop in den Bergen.
    All dies sind Beschreibungen von Kunstwerken aus den letzten beiden Jahren, die von einem Lebensgefühl, von einem Zeitgeist, vom Jetzt im Internet handeln. Warum heißt es dann bei Post-Internet-Art eigentlich "Post", also nach? Wieso Nach-Internet-Kunst? Stecken wir nicht immer noch mittendrin im Internet? Schon. Aber längst gibt es digitale Eingeborene, die sich im Internet recht heimisch fühlen, nicht zuletzt unter den Künstlern. Die meisten von ihnen sind Mitte der 80er-Jahre oder später geboren, sie sind Digital Natives. Den digital eingeborenen Künstlern ist das Netz längst zweite Natur geworden. Es ist der Ort, der einen gewichtigen Teil ihrer Persönlichkeit ausmacht. Dabei machen sie weniger Kunst über das Internet als vielmehr nach oder mit dem Material, das sie dort finden. Deshalb der Begriff "Post-Internet" - er stammt übrigens von der deutsch-amerikanischen Künstlerin Marisa Olson, die ihn bereits 2008 verwendete. "Post" also nicht im Sinne von "schon vorbei", sondern im Sinne von "längst Alltag geworden".
    Genau weil all das so selbstverständlich geworden ist, will kaum einer dieser jungen Künstler mit dem Begriff selbst identifiziert werden. Denn wer will als Künstler schon bloß Selbstverständliches machen? Wer will bloß Zeichen der Zeit sein?
    Und das ist die erste der drei großen Fragen, die sich mir als Kunstkritiker im Zusammenhang mit der Post-Internet-Kunst stellt: Warum eigentlich sagt keiner von denen, die es sind, freiwillig: "Ich bin Post-Internet-Künstler"?
    Nachahmung der digitalen Gegenwart
    Nennen wir dennoch zunächst ein paar von ihnen beim Namen. Die eingangs beschriebenen Dinge wurden von jungen Künstlern geschaffen, die unsere digitale Gegenwart nachahmen wie ein Bauchredner auf Lachgas - will sagen: Die Nachahmung ist perfekt, aber sie hat einen hysterischen, zuweilen grotesken Zug. Und allesamt tragen sie Namen, die selbst ein wenig klingen, als seien sie ausgedacht. Yngve Holen ist der Name des Norwegers, der die Marmorfleischstücke fräsen lies; John Rafman der Kanadier, der sich im Netz durch die zahllosen Bildchen und Filmchen von Computer-Nerds und sexuellen Subkulturen wühlt. Und Katja Novitskova heißt die russischstämmige Estin, die Bilder aus dem Internet in den Raum stellt, damit wir sie abfotografieren und wieder ins Internet stellen. Guan Xiao schließlich ist aus Peking; im Video mit den tanzenden Hirschen und den kreisenden Hula-Hoop-Reifen benutzt sie am Ende den Marken-Slogan eines japanischen Herstellers von Unterhaltungselektronik: "Make Believe". Wörtlich übersetzt heißt das: Glauben machen. Aber es heißt vor allem: so tun als ob. "Make Believe" heißt: Wir leben in einer Scheinwelt.
    Die Auseinandersetzung dieser Künstler mit dem Internet ist aber geprägt von dem Gedanken, dass diese Scheinwelt ganz reale, handfeste Folgen hat. Also muss ich die Illusion aufrecht erhalten und ausbauen. Und ihr einen Sinn abgewinnen. Zum Beispiel in Form von Kunst.
    Die Post-Internet-Künstler sind darin auch nicht anders als all die sonstigen digitalen Eingeborenen, die ihre im Netz erworbenen Kulturtechniken verwerten und ausbauen, um YouTube-Stars oder Hacker zu werden; und eigentlich auch nicht anders als all die digital Zugewanderten, die im Netz ihre analog erworbenen Fähigkeiten und Bekanntheitsgrade verwerten und ausbauen. All das findet nun überwiegend oder ausschließlich im Netz statt. Und das dem so ist, könnte man für die Verwirklichung eines alten Traums der Kunst halten.
    Verschmelzung von Kunst und Leben
    Bereits die Surrealisten, mehr noch aber die Kunstbewegungen der 60er-Jahre - Fluxus, Konzeptkunst, Performance - forderten die Verschmelzung von Kunst und Leben, Intimität und Öffentlichkeit, Selbstverwirklichung und Broterwerb. Dieser Traum scheint mit dem Internet verwirklicht. Allerdings als peinlicher Traum, wenn nicht: Albtraum. Das Intime und das Öffentliche sind im Internet seltsam vermischt: So als träumte man davon, wieder Schüler zu sein, und das elterliche Ehebett stünde plötzlich im Schulhof. Und man selber läge mit Mami und Papi darin. Derweil ist die Verschmelzung von Kunst und Leben zum billigen Witz geworden: Alle machen irgendwas "Kreatives" im Netz und werden dafür wahnsinnig schlecht bezahlt. Den Digital Natives bleibt kaum etwas anderes übrig, als ständig etwas in Umlauf zu bringen.
    Die Arbeit an der eigenen Vernetzung ist also zugleich die Arbeit an der eigenen Vernutzung. Zirkulieren lassen, teilen, verbreiten. Man kommentiert, man kopiert. Man kommentiert durch Kopieren. Ob das Kommentieren durch Kopieren dann einer Parodie oder einer Hommage gleichkommt, ob dabei Enthusiasmus oder Ironie, Anpassung oder Kritik dominiert, verbleibt im Unklaren.
    Wo stehen die Post-Internet-Künstler?
    Unklar bleibt so vor allem, ob die Künstler dem digitalen Jetzt mit all seinen Abgründen kritisch gegenüber stehen oder doch lieber die glitzernden neuen Möglichkeiten zelebrieren. Ob sie die Gefahren von Überwachung und Kontrolle, von neuen Formen der Ausbeutung und der digitalen Mob-Mentalität vor Augen haben - oder ob sie sich lieber fühlen wie Start-up-Unternehmer, die Venture-Kapitalisten für sich begeistern wollen. Wo stehen die Post-Internet-Künstler? Bedenken sie die gesellschaftliche Dimension ihres künstlerischen Tuns? Dies ist die zweite der drei großen Fragen, die sich mir stellen.
    Die Post-Internet-Künstler greifen diese digitalen Kulturtechniken, so selbstverständlich und alltäglich sie geworden sein mögen, aus dieser Alltäglichkeit heraus. Sie transferieren sie aus dem Netz zurück in den physischen Raum - den der Galerien und Museen. Oder genauer gesagt: Sie stellen eine Feedback-Schleife zwischen diesen beiden Systemen her. Wie die bereits erwähnte Katja Novitskova es mustergültig vorführt: Die Fundstücke aus dem Netz werden technisch reproduziert und als fotogenes Objekt in den Galerieraum gestellt, damit sie abfotografiert wieder im Netz landen.
    Damit bin ich bei der dritten großen Frage angelangt: Ist all das nicht ein inkonsequentes Andienen an die traditionellen Gesetze des Kunstmarkts? Ein Rückfall ins ganz übliche und schnöde Herstellen von irgendwie zeitgeistigen und dekorativen Dingen, die man erst in den sogenannten "White Cube", die Weiße Zelle der Galerie, stellen oder hängen kann und dann auf den Wohnzimmerteppich oder übers Sofa?
    Bevor ich versuchen kann, Antworten auf diese Fragen zu geben, will ich versuchen, den kunstgeschichtlichen Vorlauf zu vergegenwärtigen. Wenn jemand heutzutage Kunst studiert - und die allermeisten der Post-Internet-Künstler haben tatsächlich an den klassischen Akademien studiert - wird er oder sie entdecken, dass das Internet wie gemacht ist für die Erzeugung von künstlerischen Kommentaren durchs Kopieren. Anders gesagt: Das Internet ist wie gemacht dafür, die Pionierleistungen von Marcel Duchamp und Andy Warhol auf die Spitze zu treiben.
    Marcel Duchamp und Andy Warhol
    Für die digital eingeborenen Künstler der Gegenwart mögen auf den ersten Blick Science-Fiction-Autoren und Computer-Ingenieure die Techniken und Methoden geliefert haben. Aber auch für sie bleiben Marcel Duchamp und Andy Warhol die großen Ahnengeister: die, an denen kein Weg vorbei führt. Die zwei, die im 20. Jahrhundert als erste begriffen haben, was die Industrialisierung und die neuen Milieus der Metropolen für den großen Fetisch Kunstwerk bedeuten. Die zwei, die in New York der neuen Konsumkultur den Puls nahmen. Die aufbrachen, um die alten Mythen hinter sich zu lassen und neue Mythen zu schaffen.
    Duchamp und das Readymade
    Erst Duchamp, in den Jahren zwischen den Weltkriegen: Er erfand das Readymade, das fertiggemachte Gebrauchsobjekt also. Die Schneeschaufel, der Kleiderhaken, das Urinal, der Flaschentrockner - all diese unscheinbaren Dinge waren für Duchamp anfangs ein Zeitvertreib, später ein subversiver Witz: so banal, so unsichtbar, der perfekte Gegensatz zum aufgeblasenen, grell sichtbaren Genie-Gehabe der Kollegen. Heute ist das Readymade längst eine etablierte Kulturtechnik. Readymade heißt, etwas mehr oder minder unverändert aus dem einen Zusammenhang zu reißen und es in den anderen einzufügen, also in die Kunst. Es heißt, sich etwas bereits Existierendes mehr oder minder unverändert anzueignen. Durch bloßes Zitat entsteht ein Kommentar.
    Für Andy Warhol war das in den 60er-Jahren längst eine Selbstverständlichkeit. Er war "Post"-Readymade. Er nahm die Idee des Readymade und ging damit in Serie. Suppendosen, Marylins, Topfreinigerpackungen, selbst gemachte Superstars aus der Factory: alles in Serie.
    Kopien und keine Originale
    Die Post-Internet-Künstler nun treiben diese Kombination aus Readymade und Serie auf die Spitze. Nur noch Kopien, kein Original. Die Serie ist entkörperlicht und vermehrt sich von selbst.
    Es ist auch klar warum: weil das Internet das schon erledigt. Fotos, Filme, Spam, Sprüche, Programme, Prominente - nichts, was hier nicht in endlosen Ketten durch die Speicher geistert, endlos geforwarded und geteilt. Man kann Readymades programmieren, die sich von selber vermehren. Spambots sind digitale Serien unerwünschter Rechenvorgänge, die sich wie Bakterien selber vermehren, ins Unendliche wuchern. Es gibt sogenannte "Meme", parodistische Bildchen mit Witzsprüchen, die endlos kopiert und variiert werden, zur allgemeinen Erheiterung beitragen und zuweilen sogar eine satirische Schärfe entfalten, die die Karrieren von Promis und Politikern beeinflusst. Aus Duchamp und Warhol, aus Readymade und Serie ist längst ein Biotop geworden. Ein Habitat. Ein Ozean voll bunter Korallen und giftiger Quallen. Ein digitaler Ozean, der lebt. In der Tiefe dunkel und bedrohlich und unbekannt wie ein russisches Atom-U-Boot, an der Oberfläche glitzernd und glatt und gackernd wie ein babyblauer Delfin.
    1990er-Jahre: Net.Art
    Als dieser Ozean noch weitgehend neuentdeckt, unerforscht und unbesiedelt war, in den frühen 1990er-Jahren, machten sich ein paar technikaffine Künstler auf, dieses neue Terrain selbst zum Ort ihrer künstlerischen Experimente zu machen. Das Ganze nannte sich Net.Art. Das holländisch-belgische Duo Jodi.org beispielsweise griff in die Programmierung der erst 1994 etablierten World-Wide-Web-Fenster ein und verwandelte die gerade erst geschaffenen Oberflächen gleich wieder in heillos verworrene Fehler-Landschaften. Und die Russin Olia Lialina nutzte die Möglichkeit, Links zwischen Browser-Fenstern zu schalten, um mit "My Boyfriend Came Back From the War" eine neue Erzählform zu etablieren, die des Hypertext: Man klickt sich auf verschiedenen Wegen durch die Bilder und Textstücke.
    Ein anderer Veteran der Net-Art ist der Serbe Vuc Cosic; er ist der Minimalist unter den Netzkünstlern, der mit ein paar Zeilen Programmier-Code für seine Pointen auskommt. Neulich schrieb er auf Facebook als Antwort in einer Diskussion um den Begriff "Post-Internet" kokett: "Sagt's nicht dem Internet, aber ich bin ganz dicke mit Constant, Aram, Cory und Evan". Wer bitte sind Constant, Aram, Cory und Evan? Nun, es sind die Vornamen von vier Netzkünstlern, die gerade nicht der aktuellen Post-Internet-Generation angehören, sondern gewissermaßen genau die vorige Generation darstellen - die aber schon nach den Net-Art-Künstlern kam. Die in den frühen 2000ern begannen und die utopische Vision, dass es eine komplett neue, freie Kunst im Netz geben könnte, schon längst wieder mit ironischem bis zynischem Witz auseinandernahmen.
    Der Holländer Constant Dullart zum Beispiel arbeitet mit Websites als Readymade: beispielsweise sogenannte Linkdumps, also Link-Müllplätze, an denen kein sinnvoller Inhalt, sondern lediglich Internet-Werbung generiert wird. Der Deutsche Aram Bartholl bastelt Funklochtaschen - wenn man sein Handy in diese aus Metallgewebe gemachten Täschchen steckt, können sie garantiert nicht angewählt, also auch nicht geortet werden. Der Amerikaner Evan Roth ist so gut im Hacken der üblichen Mechanismen des Internet, dass er zum Beispiel Google dazu bringt, dass seine eigene Website bei der Suche nach dem Begriff "Bad Ass Motherfucker" ganz oben in den Ergebnissen landet. Cory Arcangel wiederum schuf mit seinem Kunstwerk "Super Mario Clouds" aus dem Jahr 2002 die Ikone der Nintendo-Generation: Aus dem bekannten Computerspiel mit dem kleinen italienischen Schnauzbartträger Super-Mario entfernte er alle Figuren und Elemente - außer den blauen Himmel mit den kleinen, pixeligen Wölkchen.
    Die Net-Art-Künstler der 1990er waren die Avantgarde, die noch an die Utopie des freien Internets glaubte. Die noch an die reine Lehre einer medienspezifischen Methode glaubte, der zufolge man Netzkunst ausschließlich mit den Mitteln des Netzes mache. Sie waren die Modernisten des digitalen Zeitalters.
    Dritte Generation: Metamodernisten
    Die Künstler der frühen 2000er - von Cory Archangel bis Constant Dullart - sind hingegen schon die zweite Generation, die Postmodernisten des Netzes: Sie halten ironisch Rückschau und dekonstruieren die Konventionen, die die vorige Generation von Computer-Nerds gerade erst entwickelt hatte. Die dritte Generation bilden nun die Post-Internet-Künstler, die man - mit einem Begriff der holländischen Philosophen Tim Vermeulen und Robin van den Akker - Metamodernisten nennen könnte: Sie können nicht mehr wie die erste Generation der Internet-Modernisten voller Enthusiasmus an die unbegrenzten Möglichkeiten des Netzes glauben. Aber sie wollen sich auch nicht mit der beißenden Ironie der zweiten Generation zufriedengeben.
    Stattdessen bleibt ihnen nur, wie Vermeulen und van den Akker das nennen, die metamoderne Haltung "gut informierter Naivität": Naiv so tun, als ob man noch etwas Neues und Überraschendes in die Welt bringen könne, etwas, das den Geist beschäftigt und das Herz berührt, vielleicht sogar nachweisbar gesellschaftliche Impulse gibt; obwohl man genau weiß, dass man damit scheitern wird, weil einem irgendwo in der Gegenwart oder der Geschichte sowieso längst jemand zuvor gekommen ist mit etwas, das neuer, überraschender und stimulierender ist - oder weil die nächste Wirtschafts- oder Umweltkatastrophe die Bemühungen ohnehin lächerlich erscheinen lässt.
    Gut informierte Naivität
    Damit wäre ich bei der Antwort auf meine erste Frage. Warum Post-Internet-Künstler es tunlichst vermeiden, sich als solche zu bezeichnen. Denn all dieses Gerede von Geschichtsbewusstsein ist ihnen schon peinlich genug, dieses ermüdende Wissen darum, wer alles schon wann was längst gemacht hat. Solange sie sich nicht selbst schon als "Post-Internet" bezeichnen, müssen sie sich auch nicht zur Geschichte des Internet verhalten, geschweige denn zur Kunstgeschichte. Sie können ihre gut informierte Naivität pflegen und ein bisschen so tun, als hätten sie all diese Themen und Materialien gerade erst entdeckt. Noch peinlicher ist ihnen aber, mit einer sozialen Gruppe in der Gegenwart identifiziert zu werden. Die banale und deprimierende Antwort wäre, dass sie die altmodische Lehre des künstlerischen Geniekults verinnerlicht haben: Ein wahrer Künstler, eine wahre Künstlerin ist immer einsam und einzeln, alles Gruppenhafte schmälert die Bedeutung.
    Die etwas weniger deprimierende Antwort ist: Es gibt ein Bewusstsein um die dramatisch beschleunigte Kurzlebigkeit von Trends im Internet-Zeitalter. Schon allein Wörter wie "Blog" oder im Internet "surfen" klingen für gegenwärtige Post-Internet-Menschen prähistorisch, altbacken und angestaubt. Sie ahnen längst, dass dem Begriff "Post-Internet" ein ähnliches Schicksal blüht. Und wer will schon Teil eines Trends sein, dessen nahes Ende absehbar ist.
    Sehnsucht und Geschichtsvergessenheit
    Gut, sehen wir den Post-Internet-Künstlern also nach, dass sie sich nicht als solche bezeichnen wollen, auch wenn sie keinen besseren Begriff vorschlagen - sie haben Sehnsucht nach künstlerischer Einzigartigkeit und sorgen sich um die Zukunft des Begriffs. Das ist verständlich. So sieht die wohlwollende Lesart der gut informierten Naivität der Post-Internet-Künstler aus: Sie wollen trotz allem weiter an die Möglichkeit ästhetischer und gesellschaftlicher Innovation glauben.
    Weniger leicht fällt die Nachsicht, wenn die "gut informierte Naivität" in schlecht informierte Geschichtsvergessenheit umschlägt. Beispielsweise, wenn eine Gruppenausstellung in einer Berliner Galerie, die überwiegend Post-Internet-Art zeigt, ausschließlich mit den Beiträgen von Männern bestückt wird, so als ob das Benutzen zukunftsorientierter Technik ganz natürlich in ihre Zuständigkeit falle. Da war man schon mal weiter im Wissen darum, dass Frauen einen erheblichen Anteil an Theorie und Praxis der Computertechnologie hatten: von der Mathematikerin Ada Lovelace im frühen 19. Jahrhundert bis zur Theoretikerin Sadie Plant, die 1997 eben mit Lovelace ihr Buch "Nullen und Einsen: digitale Frauen und die Kultur der neuen Technologien begann".
    Noch alarmierender ist es, wenn Künstler wie Katja Novitskova oder der in Berlin lebende Timur Si-Qin in Interviews und Texten mit dem Begriff "evolutionäre Biologie" hantieren und ernsthaft vorschlagen, ihn zum Kriterium zeitgenössischer Kultur zu machen. Fußend auf der banalen Feststellung, dass die Grenzziehung zwischen Natur und Kultur lediglich eine Konstruktion sei, wird plötzlich aus kulturellen Differenzierungen eine Art biologische Auslese: Welches Bild setzt sich im viralen Wettbewerb durch? Dann ist es plötzlich doch biologisches Schicksal, wenn Frauen mit makellos weißer Porzellanhaut in der Werbung und in der Unterhaltungsindustrie das Rennen machen. Gleichzeitig fällt auf, wie wenig bislang die Post-Internet-Art von den Enthüllungen Edward Snowdens über die NSA beeindruckt scheint, oder auch nur über die anhaltende Diskussion um Datenmissbrauch durch große Internet-Unternehmen wie Google oder Facebook.
    Diskussionen unter den Künstlern
    Aber es ist natürlich nicht so, dass diese Diskussionen unter den Post-Internet-Künstlern selber nicht geführt würden. Die in Berlin lebende Künstlerin Alexandra Domanović beispielsweise bezieht eindeutig Stellung, in dem sie, ähnlich wie Sadie Plant, in ihren Arbeiten eine alternative Geschichte der Elektronik schreibt. Am Eindrücklichsten gelingt ihr das mit einer nüchternen Chronik, die vorgibt, ganz objektiv wichtige Ereignisse in der Geschichte der Entwicklung von Computer-Technologie aufzulisten - dabei aber eindeutig eine persönliche Färbung erkennen lässt, die zugleich politisch ist: Kurz gesagt, dass die entscheidenden Entwicklungen eben doch nicht nur von weißen Männern aus dem Westen kamen, sondern auch von Frauen und in manchen Fällen - Domanović ist gebürtige Serbin - aus einem blockfreien sozialistischen Staat wie Jugoslawien vor 1989.
    Hier ein Zitat aus ihrer Chronik:
    "1843 Ada Lovelace schreibt, was heute als erstes Computerprogramm gilt.
    [...]
    1950 William Grey Walter entwirft eine kybernetische Schildkröte.
    [...]
    1997 Das Buch "Nullen und Einsen: digitale Frauen und die Kultur der neuen Technologien" von Sadie Plant erscheint.
    [...]
    2099 Die meisten denkenden Wesen kommen ohne permanente physische Form aus."
    Domanovićs Chronik ist eigensinnig und humorvoll, sie ist aber auch eine Erinnerung daran, dass Kunst kein Schicksal ist, sondern Geschichte mitschreibt,- und sei es, wie in diesem Fall, eine feministische Geschichte des Computers und der Robotik. Womit Domanović stellvertretend die Antwort gibt auf die Frage, ob die Post-Internet-Künstler in der Lage sind, sich gesellschaftlich zu positionieren: ja - wenn sie denn nur wollen.
    Post-Internet-Art und andere Kunstformen
    Bleibt zuletzt meine dritte große Frage. Die Frage danach, wie sich die Post-Internet-Art zu den konventionellen Gepflogenheiten all der anderen Kunstformen der letzten Jahrzehnte verhält. Und im kalten Licht ökonomischer Betrachtung scheint die Antwort glasklar. Denn die Künstler der dritten Generation Internet-basierter Kunst unterscheiden sich vor allem dadurch von den beiden vorigen Generationen, dass sie gerade nicht ans Netz als den geeignetsten Ort des Zeigens und Ausstellens glauben. Sondern dass sie eindeutig auf die Produktion von Kunstobjekten zielen, die sich in die Weiße Zelle der Galerie stellen, legen, hängen oder wenigstens projizieren lassen.
    Aus der Sicht der ersten Generation muss das einem Verrat gleichkommen: Denn deren Utopie war die Befreiung vom korrumpierenden Warenverkehr der Kunst, von der schnöden Materialschlacht und vom Ballast des ökonomischen Aufwands, der mit alldem verbunden ist. Sie waren Technik-Utopisten. Die zweite Generation musste sich schon eingestehen, dass man von Luft und Liebe auf Dauer auch im Netz nicht überleben kann. Will man als Internet-affiner Künstler weder allein auf öffentliche Fördertöpfe hoffen, noch sich als Teilzeitkraft bei den einschlägigen IT-Unternehmen durchschlagen, bleibt einem nur, sich im System Kunst nach Einkünften umzusehen. Die zweite Generation der Netzkünstler löste das überwiegend nach dem Prinzip Merchandising: Sie führten etwas im Netz auf und zeigten dann sozusagen Souvenirs davon in der Galerie.
    Der dritten Generation der Post-Internet-Künstler nun ist das allzu verschämt: Sie scheren sich überwiegend gar nicht mehr um die Uraufführung im Netz, stattdessen geht's gleich direkt in die Galerie - natürlich dann wieder zurückgespeist als Bildchen oder Video ins Netz. Es wäre allerdings etwas selbstgerecht, deshalb den Stab über sie zu brechen, während man Maler oder Bildhauer von vergleichbaren Vorhaltungen verschont. Schon richtig: Die Netzkunst der 90er war einmal angetreten, das etablierte Galeriensystem hinter sich zu lassen, es gar zu ersetzen. Sie schüttete das Kind mit dem Bade aus und verkannte, dass auch das Internet kein ökonomiefreier Raum ist. Und vor die Wahl gestellt, möchten die neuen Netzkünstler dann doch lieber mit dem kunsthistorisch geschulten Galeristen zu tun haben als mit dem Marketing-Sprecher eines Internet-Unternehmens. Das wäre also die Antwort auf die dritte große Frage, die wir uns gestellt haben: Problem ist nicht, dass, sondern allenfalls was die Post-Internet-Künstler an Artefakten in die Galerien bringen.
    Geht es lediglich darum, einen fetten Fang aus dem bunten Ozean des Internets aufzuspießen, wird es schnell dürftig. Spätestens beim 100. Foto, bei dem die begleitenden Texte stolz darauf verweisen, das es so in einem kommerziellen Online-Archiv vorgefunden wurde; spätestens beim 20. Ausstellungsobjekt, dass mit einem 3D-Drucker hergestellt wurde, erschöpft sich der Reiz bloßer Machbarkeit. Gleichzeitig entsteht zunehmend der Eindruck, man habe es mit einer Selbstvermarktungsmasche zu tun. Ebenso verhält es sich, wenn die Künstler der Post-Internet-Art sich allzu bequem auf den Lorbeeren früherer Kunstgenerationen ausruhen, oder anders gesagt: Wenn sie das Gleiche machen, nur mit aktuellerem Material. Nur weil ein Skulpturensockel bei Yingve Holen aus neustem Aluminium-Waben-Material besteht, ist er noch nicht mehr als eben das: ein Skulpturensockel.
    Und wenn man wie die Schweizerin Pamela Rosenkranz mit Make-up auf figurverschönerndem Spandex-Stoff statt mit Öl auf Leinwand malt, ist das ein allzu flüchtiger Kommentar zu Schönheitsidealen der Gegenwart - und allenfalls eine Fußnote zur Malereigeschichte.
    Netzwerk-Müdigkeit
    Der Anspruch, den die Künstler an sich stellen, muss also schon bleiben, dass sie nicht nur sich und die Betrachter überraschen, sondern dabei auch etwas Relevantes zur Debatte um Kunst und Gesellschaft beitragen. Aber genau da kennen die Post-Internet-Künstler die Gefahren des Internets nur allzu gut: Wie schnell wird man von hysterischen Twitter-Gewittern überrascht, wie schnell ist der Trend von gestern der alte Hut von heute. Da sehnt man sich dann doch nach den handfesten Räumen und dem weiten Geschichtshorizont des klassischen Kunstbetriebs. Ja, es gibt sogar entsprechend schon das, was der Kritiker Pablo Larios "Network-Fatigue" - "Netzwerk-Müdigkeit" genannt hat. Gerade die Generation der Post-Internet-Künstler, meist nach 1980 geboren, beginnt an manchen Orten, sich dem Begehren des Netzes nach umfänglicher Abbildung zu verweigern. Man zieht sich in physische Räume zurück, in Galerieräume und Bars, man bildet kleine Kreise von Eingeweihten, während man allzu viel Verlautbarung an die Nichteingeweihten meidet.
    Womit wir schon mitten in der nächsten Diskussion stecken. Aber die heben wir uns für die nächste Künstler-Generation auf.