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Coronavirus in Italien
Sterblichkeit in stark betroffener Gemeinde stieg um Faktor elf

In der italienischen Gemeinde Nembro sind einer Studie zufolge im März 2020 etwa elf mal so viele Menschen gestorben wie im Vorjahresmonat, die Hälfte davon wurde als Corona-Tote erfasst. Trotzdem stehe der gesamte Anstieg im Zusammenhang mit der Pandemie, sagte der Epidemiologe Tobias Kurth im Dlf.

Tobias Kurth im Gespräch mit Arndt Reuning | 18.05.2020
Die italienische Gemeinde Nembro
Die italienische Gemeinde Nembro liegt in der Nähe von Bergamo in Norditalien (imago/Carlo Cozzoli)
Über 315.000 Corona-Tote weltweit zählt die Johns-Hopkins-Universität mittlerweile. Doch spiegelt diese Zahl tatsächlich wider, wie viele Todesopfer auf das Konto des Erregers gehen? Einen Hinweis darauf könnte die italienische Gemeinde Nembro liefern, ungefähr zehn Kilometer nordöstlich von Bergamo. Elf- bis zwölftausend Menschen leben dort. Die Struktur der Bevölkerung ist verhältnismäßig stabil. So wie auch die Zahl der Menschen, die normalerweise in der Gemeinde versterben. In den vergangenen Jahren waren das durchschnittlich neun bis zehn pro Monat.
Der Corona-Ausbruch in Norditalien hat diese Zahlen deutlich nach oben schnellen lassen, denn die Gemeinde gehörte zu den Brennpunkten der Epidemie in der Region.
Forschende aus Italien und Deutschland haben sich diese Zahlen näher angeschaut und nun im Fachblatt BMJ veröffentlicht. Zu ihnen gehört Tobias Kurth, Direktor des Instituts für Public Health an der Berliner Charité.
Arndt Reuning: Welche Informationen haben die Forschenden in den Zahlen gefunden?
Tobias Kurth: Sie haben gefunden, dass im März diesen Jahres die Zahl der Todesfälle deutlich nach oben geschossen ist. Es sind ungefähr elfmal so viele Menschen gestorben in diesem Monat wie in dem Vergleichsmonat davor, und es sind mehr Menschen diesen Monat gestorben als im gesamten vorigen Jahr oder den vorhergehenden Jahren, sodass hier eine deutliche Erhöhung der Sterblichkeit stattgefunden hat.
Arndt Reuning: Das war die Gesamtsterblichkeit, die war in den ersten Monaten dieses Jahres deutlich erhöht, sagen Sie. Wissen Sie denn, wie viele Menschen davon offiziell als COVID-19-Todesfälle gemeldet waren?
Kurth: Ja, von dem Zeitraum, von dem wir Daten bekommen haben, sind 166 Menschen verstorben, und 85 davon hatten einen positiven Test auf das SARS-CoV-2-Virus. Das heißt, diese Menschen wurden dann auch klassifiziert als COVID-19-Todesfälle, sodass ungefähr die Hälfte der Todesfälle mit COVID-19 in Verbindung gebracht werden konnte.
COVID-19 oft auch als indirekte Todesursache
Reuning: Das heißt, es sind deutlich mehr Menschen gestorben, als offiziell als COVID-19-Todesopfer gelten.
Kurth: Das ist richtig. Das ist nicht ungewöhnlich und auch war dies so zu erwarten. Das hat zum einen damit zu tun, dass eben nicht alle Patienten, die verstorben sind, getestet werden konnten beziehungsweise auch nach dem Tod nicht getestet wurden. Wir wissen ja auch, dass andere Erkrankungen nach wie vor vorhanden sind und Patienten vielleicht etwas weniger ins Krankenhaus gegangen sind beziehungsweise gar nicht mehr vor die Haustür gegangen sind, sodass es hier eine Mischung aus direkten Folgen der Pandemie, eben durch die Virusinfektion, beziehungsweise indirekten Folgen durch andere Erkrankungen oder Einschränkungen des Gesundheitssystems hier zu der Erhöhung der Todeszahlen geführt hat.
33D-Modell des Coronavirus SARS-CoV2
Alle Beiträge zum Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)
Reuning: Wir haben ja immer wieder diskutiert, wie verlässlich diese COVID-19-Todeszahlen wirklich sind, und ein Argument dabei lautet, dass die Verstorbenen zum großen Teil doch sehr alt sind – das gilt auch für die Zahlen in Nembro –, und dass sie möglicherweise nicht an COVID-19 verstorben sind, sondern an einem anderen altersbedingten Leiden und dass sie fälschlicherweise zu den Corona-Opfern gezählt werden, dass sie also nicht an dem Virus gestorben sind, sondern mit ihm. Wie sehen Sie denn dieses Argument, wenn Sie Ihre Zahlen betrachten?
Kurth: Hierzu haben wir keine genauen Daten, weil die Gründe des Todes im Prinzip nicht erfasst wurden beziehungsweise auch nicht in den Datenbanken erhältlich sind. Es ist natürlich auch die Frage, inwieweit man jetzt von einem Virus direkt sterben kann oder eben andere Gründe, zum Beispiel jetzt Versagen eines bestimmten Organes, dann zum Tode führen. Das ist eine Diskussion, die sicherlich für einige Aspekte der biologischen Funktion interessant ist, aber im Sinne der Pandemie ist es schon wichtig, auch zu sehen, dass wenn man jetzt Daten hat aus den vorhergehenden Jahren und ungefähr abschätzen kann, was passieren wird, wie viel Tote eben erwartet werden, und man eine deutliche Erhöhung hat, kann dies eigentlich nur mit der Pandemie in Zusammenhang gebracht werden. Ob sie nun direkt an einem Virus gestorben sind oder eben nicht, ich glaube, dazu brauchen wir noch viel detailliertere Daten, die im Moment einfach nicht zur Verfügung stehen.
"Hier müssen einfach andere Daten dann zur Verfügung stehen"
Reuning: Lassen sich denn diese Zahlen aus der italienischen Gemeinde hochrechnen, um weltweit darauf schließen zu können, wie stark unterschätzt denn die offiziellen Zahlen zu den Todesopfern sind, oder sind die Zahlen aus Italien dafür einfach viel zu klein?
Kurth: Es geht nicht darum, dass die Zahlen zu klein sind, es geht darum, dass Sie eigentlich ein regionales Geschehen nicht hochrechnen können auf ein Ländergeschehen oder weltweites Geschehen. Dazu ist die Zusammensetzung der Bevölkerung auch ganz anders. Wir wissen, dass die Pandemie eben regional sehr stark die Bevölkerung trifft, zum Beispiel erst in Nembro und dann in anderen Städten – zum Beispiel im Süden des Landes passierte gar nichts, und wir sehen ja auch Ähnliches in Deutschland. Sie können jetzt also nicht Daten aus Nembro oder aus der Heinsberg-Studie nehmen und von Heinsberg auf Deutschland hochrechnen und von Nembro auf Italien, das ist nicht möglich. Hier müssen einfach andere Daten dann zur Verfügung stehen – diese Studien laufen –, dass Sie repräsentative Daten dann aus einer größeren Region beziehungsweise aus einem Land dann zur Verfügung haben, um das dann bestimmen zu können.
Reuning: Sie haben Deutschland erwähnt, in Deutschland ist es ja glücklicherweise nicht zu einer Überlastung des Gesundheitssystems gekommen so wie in Italien, das heißt, dann dürften wir solch eine deutliche Übersterblichkeit auch nicht sehen bei uns. Stimmt das denn?
Kurth: Das ist richtig, die Daten, die bisher bekannt sind, zeigen keine deutliche sogenannte Übersterblichkeit – hier muss man auch etwas vorsichtig sein mit dem Begriff –, also wir sehen keine deutliche Erhöhung der Sterbezahlen in dem gleichen Zeitraum im März diesen Jahres in Deutschland, vielleicht einen kleinen Anstieg – das sind Daten des Statistischen Bundesamtes, die seit ein paar Tagen zur Verfügung stehen. Man muss aber auch sagen, dass regional natürlich in Deutschland das Gesundheitssystem vielleicht nicht überbelastet war, aber doch an die Grenzen gekommen ist. Insgesamt stehen wir in Deutschland relativ gut da und sind glücklich davongekommen, aber hier gibt es eben auch regionale Unterschiede.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.