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Postmoderne Moralitäten

Wer eine umfassende Theorie der Moral erwartet hat, sieht sich enttäuscht. Dabei könnte der Titel dergleichen durchaus versprechen, obwohl umfassende Theorien nicht gerade die Sache der Postmoderne sind. Doch die Theorie postmoderner Moral muß nicht unbedingt eine postmoderne Form besitzen. Auch hat Jean-Francois Lyotard mit seinem Buch "Der Widerstreit" schon einmal eine umfassende Theorie der politischen Ethik in der Postmoderne geschrieben.

Hans-Martin Schönherr-Mann | 11.01.1999
    Sein soeben in deutscher Übersetzung erschienenes Buch "Postmoderne Moralitäten" enthält indes eine Sammlung von einzelnen, voneinander unabhängigen Notizen, die teilweise eher literarischen als philosophischen Charakter haben. Dem Leser öffnen sie einen Ausblick in eine bunte Welt vielfältiger moralischer Fragestellungen und führen damit eben jenes postmoderne Szenario vor, in dem einheitliche übergreifende oder allgemeine moralische Vorstellungen obsolet geworden sind.

    Dem Lamento, das darin einen Wertezerfall beklagt und drohend den Untergang der westlichen Demokratien perhorresziert, dem hält Lyotard die großen Vordenker der Moderne entgegen, nämlich Galilei, Darwin und Freud. Sie haben gezeigt, daß der Mensch weder der Mittelpunkt des Kosmos noch Herr der Welt ist. Es gibt also kein Fundament mehr für eine umfassende Moralität. Diesen Zusammenhang erkennt beispielsweise der US-amerikanische Kommunitarist Alsdair MacIntyre als eine moralische Katastrophe. Nur eine Rückkehr zum christlich teleologischen, eben endzweckorientierten Denken könnte für ihn die Krise überwinden.

    Doch gerade ein gemeinsamer universeller Endzweck, gleichgültig ob dieser im christlichen jüngsten Gericht oder in der kommunistischen Utopie aufgeht, darauf weist Lyotard explizit hin, ist seit der Aufklärung unmöglich geworden. Die modernen Wissenschaften lassen jegliches finales oder teleologisches, eben zweckgerichtetes Denken über Mensch und Welt absurd erscheinen.

    Doch wer nun erwartet hätte, daß Lyotard diesen Sinn- und Zweckverlust wenigstens als Befreiung von metaphysischen Vorstellungen feiert, sieht sich wiederum enttäuscht. Vielmehr klingt explizit wie zwischen den Zeilen weniger Begeisterung darüber an, daß der Mensch von allgemeinen ethischen Zwecksetzungen befreit wurde, als vielmehr Trauer über einen unwiederbringlichen Sinnverlust der intellektuellen Existenz. War der Vordenker der Postmoderne gar nicht so postmodern?

    Zufälligerweise etwa in der Mitte des Buches - sie könnte auch woanders stehen - erzählt Lyotard "Eine postmoderne Fabel". Mittelpunkt dieser Geschichte, die man nicht glauben soll, sondern die zum Nachdenken anregen will, ist die Energie, die die Sterne leuchten und irgendwann in einer Supernova enden läßt. Die Menschheitsentwicklung erscheint als reiner kosmisch planetarischer Zufall. Eine Chance zu überleben haben die Menschen nur, wenn es ihnen gelingt, spätestens in viereinhalb Milliarden Jahren auf irgendeine Weise die Erde und deren Sonnensystem zu verlassen.

    Was aber hat diese Fabel mit Moralität zu tun? Nach Lyotard "ist sie eine physikalische Geschichte, sie bezieht sich nur auf die Energie und die Materie im Energiezustand. Der Mensch wird als ein komplexes, materielles System angesehen, das Bewußtsein als ein Effekt der Sprache und die Sprache als ein höchst komplexes, materielles System." Also wirklich keine Moral?

    Im Gegenteil! Der Materialismus, dem Lyotard hier huldigt, ist spätestens in seiner postmodernen Reduktion zu einer reinen Ethik zusammengeschnurrt. Wo Marx noch an eine materielle und revolutionäre Dynamik der Produktivkräfte glaubte, als es eben noch ein Ziel der Geschichte gab, dort herrscht gerade bei jenen Postmodernen, die ihre linke Vergangenheit nur mühsam bewältigen, ein melancholisches Krisenbewußtsein, das ihnen zunächst die Flucht in die Kunst nahelegte und das ihnen heute vorführt, daß sich darin eine Ethik offenbart, wenn auch diese Ethik sowenig Hoffnung wie geringe Freiheit verheißt. Beispielsweise drücke die Revolte von 1968 nur "die Klage über ein unheilbares Leiden aus, das Leiden, nicht frei geboren zu sein". Das menschliche Leben ist eben nur ein Haufen zufällig geordneter Materie.

    Angesichts dieser Einsicht ringt der Mensch um eine ethische Haltung, auch um noch einen Rest Befriedigung zu erlangen. Zwar kritisiert Lyotard in einem der Aufsätze die westliche Argumentation im Golfkrieg als widersprüchlich und muß zugleich zugeben, daß der Fall der Berliner Mauer für die Effizienz offener Systeme spricht. Könnte man dies noch als Kritik am Technizismus verstehen, so bedauert Lyotard in einem anderen Aufsatz, daß Kultur den Kapitalströmen folgt, daß dergleichen für die Beteiligten anstrengend ist und schlecht bezahlt wird. Trotzdem macht es ihnen Spaß und bringt ihnen Ehre, dabei mitzumachen.

    Viele Notizen in Lyotards Buch "Postmoderne Moralitäten" offenbaren gerade eine Trauer darüber, daß ein politisches oder soziales Engagement des Intellektuellen weiterhin geboten und auch unabdingbar ist, obwohl dessen Sinn längst nicht mehr das Ausmaß zu erreichen vermag, den es noch bei Voltaire, Marx oder Sartre einnahm. Heute riskiert man nicht mehr sein Leben oder ins Gefängnis zu gehen. Statt dessen stellt Lyotard fest: "Was uns betrifft, so wissen wir, schon bevor wir sprechen oder handeln, daß unsere wie auch immer geartete Intervention vom System als möglicher Beitrag zu seiner Vervollkommnung berücksichtigt werden wird."

    Das Engagement selbst des postmaterialistischen Moralisten entbirgt zudem ein individuelles Drama. Lyotard unterscheidet nämlich ein öffentliches Leben von einem Fürsichsein, das für jeden eine Art innerer Zufluchtsort ist. Aber nicht nur totalitäre Regime versuchen diesen zu zerstören. Auch der Zwang zum Engagement, die Aufforderung, die Stimme zu erheben, wenn irgendwo Unrecht geschieht, raubt dem Betroffenen sein Fürsichsein, entblößt sein Inneres.

    Beinahe könnte man meinen, das Engagement, das bei Sartre noch den Verdammten dieser Erste zu einer glücklichen Zukunft verhelfen sollte, das weiß heute nicht nur um seine Ziellosigkeit. Es ist eigentlich nur noch ein Engagement um seiner selbst willen geworden. Obwohl die Trauer Lyotards eher noch moralisch modern anmutet, so weist die Vielfalt moralischer Pretiosen doch einer postmodernen Ethik eine andere Weise des Denkens an, als bloß in moderner Betroffenheit und Kritikpflicht zu verharren. Doch der Abschied von einem Zweck des Engagements bleibt auch bei einem Postmodernen offenbar schmerzhaft.