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Potenziale erkennen

In Bremen werden Kinder mit und ohne Behinderung ab dem kommenden Schuljahr gemeinsam unterrichtet. Diese "Inklusion" wird an der Universität Bremen als Masterstudiengang gelehrt - für Lehrer im Beruf bedeutet die neue Form des Unterrichts eine große Herausforderung.

Von Christina Selzer | 22.06.2010
    Matheunterricht in der Dritten Klasse an der Schule Burgdamm in Bremen. Florian steht an der Tafel und versucht eine Aufgabe lösen. Von den 28 Kindern sind zwei lernbehindert. Einer davon ist Florian. Er nimmt am Unterricht teil, muss aber nicht dieselbe Leistung bringen wie die anderen, sondern hat sein eigenes Programm.

    Thomas Schipfer, Schulleiter und Sonderschullehrer, freut sich zu sehen, wie Florian sich entwickelt hat.

    "Er ist fantasievoll, er ist kreativ, er ist sportlich, im handwerklichen Bereich macht ihm mittlerweile auch vieles Spaß. Ich sage mittlerweile, weil am Anfang hat er nur zusammengekauert da gesessen und gesagt O-Ton: 'Scheiß Schule, hier komme ich morgen nicht mehr her.' So, und jetzt sitzt da ein Kind, das sich ein bisschen noch auf der Bank rekelt aber die Antennen sind ausgefahren. Er bekommt was mit, er traut sich, an die Tafel zu gehen. Und das werten wir als Erfolg und nicht als Misserfolg, so nach dem Motto: Er kann ja noch nicht einmal das rechnen, was der Rest der Klasse kann!"

    Die Lehrerin Cornelia Nendel sieht das genauso. Für sie ist es selbstverständlich, dass behinderte und nichtbehinderte Schüler gemeinsam lernen. Auch wenn das für sie als Lehrerin mehr Aufwand bedeutet:

    "Oh ja, auf jeden Fall, weil ich ja immer für diese Kinder extra Material raussuchen muss oder herstellen muss. Und mir Gedanken machen muss: Wie viel können diese Kinder leisten und das Material und die Arbeitsanweisung darauf abstimmen muss."

    Bremen ist das erste Bundesland, das ab dem kommenden Schuljahr die Inklusion auch an weiterführenden Schulen umsetzt. Pädagogen sprechen heute nicht mehr von Integration, sondern von Inklusion: Das bedeutet, dass das Kind schon von Anfang an dabei ist, und gar nicht erst von den anderen getrennt wird. Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderungen werden künftig gemeinsam unterrichtet, wenn die Eltern es wünschen. Für Lehrer ist das eine ganz neue Herausforderung. Ihre Erwartungen: gemischt.


    "Das ist pädagogisches Neuland, aber wo es eine Landkarte braucht, die den Weg vorgibt."

    "Wie viel Zeit ist man in der Klasse? Wie kann man mit dem zweiten Kollegen zusammenarbeiten, ohne dass es zu Reibereien kommt?"

    Lehrer, die schon im Beruf sind, müssen sich fortbilden. Und bei der Lehrerausbildung setzt die Universität Bremen schon auf die Inklusion: Sie bietet schon seit zwei Jahren den Masterstudiengang "Inklusive Pädagogik" an. Denn der Beruf wird sich grundlegend verändern, sagt die Professorin Simone Seitz. Und das lernen Studierende schon am Beginn ihres Studiums:

    "Dass es nicht darum geht, zu glauben, es gebe zwei Sorten von Kindern, und für die eine ist die eine Sorte Pädagogen zuständig und für die andere Sorte Kinder die andere. Sondern, dass es gilt, etwas zu entwickeln wie eine gemeinsame Verantwortung für alle Kinder, die eben da sind, weil es eine Verpflichtung der Schule ist, sich für alle Kinder und deren Bildungserfolg verantwortlich zu fühlen."

    Niemand soll durch das Netz fallen. Für Pädagogen bedeutet das einen ganz neuen, viel umfassenderen Blick: Nicht der Schüler passt sich der Schule an, sondern die Schule passt sich dem Schüler an. Simone Seitz:

    "Ich kann keinen Unterricht auf der Aussage aufbauen: Dieses Kind hat eine Beeinträchtigung im Lernen. Das bietet mir keinen Ansatzpunkt, um guten Unterricht zu entwickeln, weil es zu Reduzierung einlädt und nicht die Potenziale sieht. Das ist eine Falle. Ich muss umgekehrt einen diagnostischen Blick dafür entwickeln, wo die Potenziale sind. Und wo ich Räume zur individuellen Weiterentwicklung geben kann."

    Doch individuelle Förderung kostet Geld. Die Gewerkschaft der Lehrer fürchtet aber, dass die Inklusion genau daran scheitern könnte. Denn nur eine halbe Sonderpädagogenstelle pro Jahrgang sehe die Schulbehörde vor, kritisiert die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft GEW. Ihre Forderung: Jede Schule solle zumindest eine volle Sonderpädagogenstelle bekommen - und mehr Zeit, um sich um die individuelle Förderung der Schüler zu kümmern. Der Kampf um mehr Personal scheint in Bremen angesichts der prekären Haushaltslage jedoch aussichtslos.

    In jedem Fall werden ab dem kommenden Schuljahr an Bremer Schulen mehr als einhundert Lehrer inklusiven Unterricht machen. Eine Herausforderung, aber auch eine Chance.